Unter der Überschrift “Diagnose: Bedingt lebensfähig” hat Michael Imhof, habilitierter Mediziner, Buchautor und chirurgischer Gutachter in Würzburg, in der FAZ vom 31.08.2010 einen Text veröffentlicht, der nun auch online verfügbar ist. Imhof beschreibt das Dilemma der modernen Medizin. Auf der einen Seite steigert der medizinische Fortschritt “die Überlebenschancen auch extrem kleiner Frühgeborener mit unter 1000 Gramm Geburtsgewicht enorm”.
Auf der anderen Seite konstatiert Imhof:
Diese eindrucksvollen Verbesserungen der Überlebenschancen werden auf der anderen Seite erkauft durch einen beträchtlichen Prozentsatz an verbleibenden körperlichen und geistigen Behinderungen. Jedes vierte Kind mit einem Geburtsgewicht unter 1500 Gramm entwickelt im Laufe der nächsten Monate und Jahre eine so genannte Zerebralparese (kindlicher Hirnschaden) und Kinder mit einem extrem niedrigen Geburtsgewicht von weniger als 1000 Gramm leiden oft an Fehlbildungen des Herz-, Lungen- und Bronchialsystems, an Hirnblutungen oder auch an speziellen Augenerkrankungen und häufig zeigen sich später verminderte kognitive Fähigkeiten sowie Lern- und Schulschwierigkeiten.
Angesichts eines solchen Lebensschicksals stellt sich, so Imhof die “hoch emotionale Sinnfrage … vor allem auch angesichts der dem Kind zugemuteten Leiden – Leiden in Gestalt der Torturen der Intensivmaschinerie, der oft zahlreichen korrigierenden operativen Eingriffe und die lebenslangen Behinderungen.”
Wer fragt das Kind?
“Wer fragt das Kind?” so fragt Michael Imhof. Gut, dass Imhof diese Frage stellt, auch wenn er sie, wie die Sinnfrage, natürlich nicht beantworten kann. Er wendet sich an dieser Stelle im Text einem anderen Thema zu, er kommt zurück auf den Tod der drei Frühgeborenen in Mainz, der der Anlass seines Textes ist. Denn: ” In der immer komplexer werdenden modernen Medizin mit ihren zahlreichen Schnittstellen können schon kleine Unachtsamkeiten und Informationsdefizite verheerende Auswirkungen zeigen.”
Die weiteren Ausführungen Imhofs zu ökonomischen Zwängen im Krankenhaus, zu Konsequenzen aus Zeitdruck und Sparzwang sind richtig und wichtig, ich möchte aber bei der oben formulierten Frage bleiben, weil ich meine, dass eine Sinnfrage weder politisch noch ökonomisch beantwortet werden kann.
Die Frage nach dem Sinn
Eine solche Frage kann wahrscheinlich gar nicht beantwortet werden, aber sie muss gestellt und bedacht werden. “Wer fragt das Kind?” Die Antwort darauf scheint einfach: Niemand. Die Frage drängt uns jedoch den Vergleich mit anderen Lebenssituationen auf, in denen das Leiden so groß wird, dass der leidende Mensch und seine Mitmenschen sich die Sinnfrage stellen: Die Diskussion, ob und in welchem Umfang der Einzelne am Ende seines Lebens selbst bestimmen können soll, ob sein Leiden beendet wird, ist im vollen Gange. Hier setzen wir voraus, dass der Betroffene selbst eine Entscheidung treffen kann, dass er abwägen kann, sich beraten lassen kann, und dann zu einem Entschluss kommt, der für andere, für seine Nächsten genauso wie für die, die sein Leben verlängern können, akzeptabel ist.
Für ein neugeborenes Kind ist diese Entscheidung nicht möglich, und andere sind nicht befugt, über sein Leben zu entscheiden. Den Eltern ist eine solche Entscheidung nicht zuzumuten, zumal wir längst akzeptiert haben, dass Entscheidungen auf Argumenten zu beruhen haben, auf Fakten und stichhaltigen Prognosen: Und diese Argumente stehen am Beginn des Lebens eines Frühgeborenen niemandem zur Verfügung.
Wenn ein Mensch zu leben begonnen hat, dann muss dieses Leben unter Aufbietung aller Kräfte, die menschenmöglich sind, erhalten werden. Darüber besteht ganz sicher Konsens – wir können nicht anders als diesem Imperativ zu gehorchen. Die Frage ist, ob diese Kräfte nicht zum Teil auf einer Täuschung basieren: Sie erhalten ein Leben, ja, aber was für ein Leben ist das?
Die Kräfte verstärken
Es scheint nur eine mögliche Antwort auf die Sinnfrage zu geben: Wir müssen unsere Kräfte eben verstärken. Wir haben – so scheint es – keine andere Wahl als den Weg des Fortschritts weiter zu gehen. Ob uns das je aus dem Dilemma herausführt, das Imhof bezeichnet, ist ungewiss.
Allerdings haben wir auf diesem Weg doch die Möglichkeit, Entscheidungen zu treffen. Worauf sollen wir uns konzentrieren? Sollen wir die “Entgrenzung” von der Imhof spricht, die Fähigkeit, Frühgeborene mit immer geringerem Geburtsgewicht, aus immer früheren Schwangerschaftswochen am Leben zu halten, weiter hinaustreiben. Oder sollen wir uns besser darauf konzentrieren, die Lebensqualität der Kinder zu erhöhen, über den Tag hinaus, an dem sie von den Schläuchen der Intensivstationen getrennt werden? Diese Wahl immerhin haben wir.
Quantität oder Qualität
Lebensqualität lässt sich nicht in Kennzahlen messen. Da lassen sich keine Erfolge feiern, wie bei Rekorden, die in messbaren Zahlen Grenzen immer weiter hinausschieben. Wie sehr jemand leidet, lässt sich nicht beziffern. Deshalb muss eine Entscheidung, die Kräfte des Fortschritts umzuleiten, mit einer Veränderung des Wertesystems einhergehen: Ein Wert ist nichts, was man an einem Messgerät ablesen kann, was man in Tabellen oder Diagramme eintragen kann. Ein Wert ist etwas, für den das Leben, wie es ist, sich lohnt.
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