Der Philosoph Michel Serres ist gestern 80 Jahre alt geworden, und das ist für das Feuilleton der großen Zeitungen natürlich ein Grund, den postmodernen Franzosen zu würdigen.
Tatsächlich, die “Moderne” ist schon so lange her, dass selbst die, die danach kamen, langsam alt werden (Bruno Latour ist natürlich deutlich jünger, aber der ist ja sowieso nie modern gewesen). Serres aber, den zu verstehen sich selbst Latour schwer tat, der ist auf jeden Fall postmodern. Für mich heißt das: Zum Denken provizierend, aber auf jeden Fall nicht im engeren Sinne “zu verstehen”.
Die Süddeutsche Zeitung hat mit Michel Serres zu seinem Geburtstag ein Gespräch geführt (leider nicht online verfügbar). Das Schönste daran ist das Foto, das Serres “im Sommer 2010 am Ufer der Spree” zeigt. Da freut man sich darauf, irgendwann auch mal 80 zu sein und so weise und freundlich auszusehen.
Die Zeitung behauptet, Serres sei in Deutschland Anfang der 1980er Jahre mit seinem Buch Der Parasit “bekannt geworden”. Fast wäre ich geneigt, eine Umfrage unter meinen Blog-Lesern zu machen: Wem ist Serres bekannt, und wer kennt das Buch? Ich glaube, ich kenne die Antwort. Wahrscheinlich bin ich der Einzige.
Das Interview ist trotzdem gelungen. Serres kann eben Sätze formulieren, bei denen man mit dem Nachdenken beginnen kann. Selten wird man ihm am Ende zustimmen, aber manchen guten Gedanken hätte ich nicht gedacht, wenn ich nicht bei Serres begonnen hätte. Z.B. hier:
Wir haben es praktisch geschafft, den Schmerz zu besiegen. … Aber Schmerz war eine alltägliche und eine notwendige Erfahrung, bevor es Schmerzmittel gab. Heute gibt es Menschen, die noch nie gelitten haben. … Ich kenne keine einzige religiöse, philosophische oder historische Moral, die nicht auf die Erfahrung von Schmerz begründet ist. Wenn nun, wie durch Zufall, der Schmerz verschwindet, stellt sich die Frage, worauf man dann die Moral gründet.
Ein paar Sätze, und man könnte seitenlang darüber schreiben, oder – noch besser – abendelang darüber sprechen.
Haben Menschen, die noch nie gelitten haben, keine Moral? Oder, etwas schwächer formuliert, braucht eine Gesellschaft den ständigen Umgang mit Leid, um eine Moral zu entwickeln und zu verankern?
Und ist es wahr, dass wir weniger leiden, nur weil wir Aspirin und Narkosemittel haben? Ändert sich vielleicht nur der Charakter des Leidens, und wie ändert sich dann damit die Moral?
Ich hoffe, dass Serres 100 Jahre alt wird, ohne Schmerzen, und dass es zu jedem runden Geburtstag ein Interview mit ihm in der Süddeutschen gibt. Gern auch zwischendurch.
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