In der Zeitschrift Gender (Heft 2, 2013) wurde ein Artikel mit dem Titel “Zur Operationalisierung von Geschlecht im Fragebogen: Probleme und Lösungsansätze aus Sicht von Mess-, Umfrage-, Gender- und Queer-Theorie” veröffentlicht. Autorin ist Nicola Döring, Epidemiologinnen/Epidemiologen und Public Health-Wissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern vor allem bekannt als Co-Autorin des in der 4. Auflage vorliegenden Standardwerks „Forschungsmethoden und Evaluation für Human- und Sozialwissenschaftler“ (2006, Springer, Heidelberg). Ziel des Artikels ist es, die etablierte Operationalisierung von Geschlecht (Mann/Frau, Männlich/Weiblich) wie auch mögliche Alternativen einer kritischen Prüfung aus methodischer, Gender-/queer-theoretischer und forschungsethischer Perspektive zu unterziehen und einen Beitrag für einen reflektierten Umgang zu leisten.

Der Beitrag ist in mehrere Teile gegliedert:

Ein kurzer Abschnitt (2) beschreibt die Zielsetzungen, wozu Geschlecht in der empirischen Sozialforschung (und auch in der Epidemiologie, DG) erhoben wird:

  • Geschlecht als soziodemografische Variable zur Stichprobenbeschreibung
  • Geschlecht als Filtervariable zur Auswahl passender Fragen
  • Geschlecht als Kontrollvariable zur Verhinderung von Geschlechtsblindheit bei der Auswertung
  • Geschlecht als theoretisch relevante Variable zur Hypothesenprüfung oder Hypothesenbildung.

Abschnitt 3 diskutiert ausführlich Probleme der Erhebung des biologischen und sozialen Geschlechts mittels Einzelitems. Die übliche Variante der Operationalisierung von Geschlecht im Fragebogen (Ankreuzfrage), die zu einer nominalskaliserten kategorialen Variable mit zwei Ausprägungen (M/F) führt, bringt messtheoretische Probleme mit sich. Diese sind (1) eine fehlende Eindeutigkeit, in Bezug auf die analytisch zu unterscheidenden biologischen und sozialen Facetten der Geschlechtszugehörigkeit mit ihren jeweiligen Subdimensionen, fehlende (2) Exklusivität und (3) Exhaustivität der Antwortalternativen (männlich/weiblich). Exklusivität ist nicht gegeben, da es nicht nur ausschließlich männliche und weibliche Personen gibt, sondern jene, die sich sowohl männlich als auch weiblich bzw. weder männlich noch weiblich definieren. Exhaustivität fehlt, da nicht alle Merkmalsausprägungen abgedeckt sind (z.B. Inter- bzw. Transsexualität).

Für die kategoriale Erhebung des biologischen Geschlechts wäre eine eindeutige Abfrage des biologischen Geschlechts (in Form des Geburtsgeschlechts) mit drei Ausprägungen (männlich, weiblich, anderes, und zwar: …) aus messtheoretischer Sicht vorzuziehen. Aus Gender- und queer-theoretischer Sicht könnte die damit einhergehende Ausgrenzung von Geschlechterminoritäten durch weitere Antwortmöglichkeiten, z.B. um „Mann-zu-Frau-transsexuell/transident, „Frau-zu-Mann-transsexuell/transident“, intersexuell/zwischengeschlechtlich“ abgemildert werden.

Eine so differenzierte Abfrage könnte sich aus Sicht der Umfragetheorie und Umfragepraxis (z.B. Effekte auf Teilnahmebereitschaft) und auch aus forschungsethischer (Gefahr des ungewollten Outings) Sicht als problematisch erweisen. Döring fordert deshalb nicht nur die Frage des „Wie“ sondern auch des „Wozu“ [103, Hervorh. i.O.] der Operationalisierungen kritisch zu reflektieren. Ein zentrales Thema dabei ist die häufige Praxis „das biologische Geschlecht als Stellvertreter für das soziale Geschlecht“ zu erheben.

Auch wird ein bewusster Verzicht auf die Erfassung von Geschlecht besprochen, was jedoch zu einer Geschlechtsblindheit bei der Auswertung führen kann.

Zur Erhebung des sozialen Geschlechts (Gender) wird die Bezeichnung „maskulin“ und „feminin“ verwendet. Ebenso wie das biologische Geschlecht wird das soziale Geschlecht oft binär konstruiert, d.h. es wird davon ausgegangen, dass Menschen entweder die feminine oder maskuline Geschlechterrolle annehmen. Angesichts einer großen Komplexität des Gender Konzepts mit verschiedenen Subdimensionen (Geschlechtsrollenverhalten, Geschlechteridentität, etc.) und Ausprägungen (Androgyn, agender, bigender, transgender, genderqueer, usw.) ist die Operationalisierung schwierig. Lösungsmöglichkeiten könnten sein: „ein halboffenes eindimensionales Einzel-Item mit fünf Ausprägungen zur Erfassung des sozialen Geschlechts“ [106] oder auch „ein offenes Item ohne jegliche Antwortvorgaben“ [106]. Die verschiedenen Ausformungen des sozialen Geschlechts können kaum eindeutig trennscharf und erschöpfend als Antwortalternativen vorgegeben, sondern am ehesten über (halb-)offene Items erfasst werden, wobei auch hier forschungspraktische und –ethische Argumente zu diskutieren sind. Letztlich kann die Form der Operationalisierung nur im Kontext der Forschungsfrage theoretisch begründet werden. Als eine mögliche Alternative werden sogenannte Gender Skalen vorgestellt und diskutiert.

Zusammenfassend hebt Döring hervor, dass eine Entscheidung über die Art der Operationalisierung von biologischem und /oder sozialem Geschlecht von der Fragestellung und der zu untersuchenden Population abhängt. Außerdem seien Methodenstudien notwendig, um die verschiedenen Varianten der Operationalisierung hinsichtlich der diskutierten Wirkungen empirisch miteinander zu vergleichen.

Aus Sicht des Projektteams „Epi goes Gender“ liegt mit diesem Beitrag eine überaus differenzierte  interdisziplinär fundierte Auseinandersetzung mit Fragen der Operationalisierung von Geschlecht vor, in der besonders deutlich wird, dass es häufig keine einfache Lösung gibt, die allen methodischen, inhaltlichen, ethischen und praktischen Anforderungen wissenschaftlicher Datenerhebung gleichermaßen gerecht wird. Wir empfehlen diese Publikation uneingeschränkt Epidemiolog*innen, die mit Fragebogeninformationen arbeiten zur Reflexion der eigenen Arbeit und zur gut begründeten Entwicklung von eigenen Operationalisierungen. Ganz nebenbei wird eine gute Einführung in Denkweisen und Theorien der Gender- und Queerforschung gegeben, u.a. in Exkursen zu Inter- oder Transsexualität.

Ein Hinweis sei noch erlaubt: Im Artikel wird davon ausgegangen, dass es sich bei der Beantwortung der Frage nach dem Geschlecht um Selbstangaben handelt. In der Epidemiologie findet man in Fragebögen, die als Grundlage für telefonische oder face-to-face-Erhebungen dienen, bisweilen den Interview-Hinweis, dass das Geschlecht eingetragen werden soll, ohne danach zu fragen. Uns ist aus der Epidemiologie keine kritische Auseinandersetzung dazu bekannt, wie Interviewer/innen hier mit Uneindeutigkeiten umgehen – und welche Verzerrungen dadurch zustande kommen.

 

Nicola Döring (2013) Zur Operationalisierung von Geschlecht im Fragebogen: Probleme und Lösungsansätze aus Sicht von Mess-, Umfrage-, Gender- und Queer-Theorie. Gender 2:94-113.

Kommentare (17)

  1. #1 Stefanie
    3. September 2013

    Vielen Dank für den tollen Beitrag und insbesondere auch für den Hinweis, dass die Operationalisierung immer angepasst an die Forschungsfrage erfolgen sollte. Meiner Meinung nach ist das häufig nicht einfach und erfordert weitreichende Überlegungen. Mit (X) Mann oder (X) Frau ist es jedenfalls selten getan. Der Artikel und der Blogeintrag helfen aber auf jeden Fall weiter! Danke schön 🙂

  2. #2 Dr. Webbaer
    4. September 2013

    Die Sternchen-Schreibweise wird im Gegensatz zum Unterstrich und zum Binnen-I viel zu selten verwendet, ein Dankeschön an dieser Stelle!

    MFG
    Dr. W

  3. #3 Stefan W.
    https://demystifikation.wordpress.com
    5. September 2013

    Selbst in Formularen habe ich bislang noch keine dritte Option für das Geschlecht bislang gesehen.

    Was ich mich bei statistischen Erhebungen aber frage ist, ob man genügend Personen zusammenbekommt, um dann Aussagen für die Gruppe abzuleiten. Wieviele von 100, 1000, 10000 Personen würden denn ein drittes Geschlecht ankreuzen, und wieviele passen dann wirklich in eine gemeinsame Gruppe?

    Auch wenn man für sie aber keine eigenen Aussagen ableiten könnte, weil es zu wenige sind, sollte man die Frage aber doch aus 2 Gründen so stellen: Erstens um sie aus der Gruppe, die sie sonst ankreuzen würden, rauszuhaben und zweitens um ihnen zu zeigen, dass man sie respektiert und wahrnimmt.

  4. #4 Dr. Webbaer
    5. September 2013

    Selbst in Formularen habe ich bislang noch keine dritte Option für das Geschlecht bislang gesehen.

    Streng genommen kann den neu aufsprießenden Ideologien folgend weder eine dritte Wahlmöglichkeit noch ein Skalar genügen. Stattdessen müsste eine Objekt ran, das angemessen strukturiert ist.

    Das Geschlecht ist kein Skalar!

    MFG
    Dr. W

  5. #5 Bernhard
    5. September 2013

    Ein Glück, dass man soche Fragebögen (noch) nicht ausfüllen muss.

  6. #6 ulfi
    5. September 2013

    Ght es bei disem Artikel um Fragebögen innerhalb der Genderforschung? Oder geht es um Alle Fragebögen? generelle Fragebögen?

    Ich halte den Vorschlag schwierig, weil er viele kaum lösbare Fragen seitens der statistischen Auswertung löst: wie geht man mit der klaren Midnerheit der Fragebögen um, die sich nicht klar zu Männlich/weiblich bekennen? Werden sie dann am Ende doch binär zugeordnet, oder ganz aus der Auswertung entfernt? Was gewinnt man? Wie groß ist das Problem überhaupt?

    Ich bin sehr wohl dafür, dass man auf Fragbögen klarstellen soll, wenn man sich auf das biologische oder soziale Geschlecht bezieht. Ich sehe da auch den Sinn drin, da ich durchaus einige Menschen kenne, die auf dem Weg sind, ihr biologisches Geschlecht anzupassen. Was ich aber bislang nicht kenne sind Menschen, die sich deutlich als “keinem geschlecht zugehörig” bezeichnen. Ist mir nicht begegnet und ich würde behaupten, dass ich in einer Subkultur bin, in der die Prävalenz für Andersartigkeit jeglicher Art höher ist als beim normaln Menschen auf der Straße.

    Also, was sind die Zahlen der klar sozial geschlechtslosen Menschen in Deutschland? 🙂

  7. #7 Sven Türpe
    6. September 2013

    Man darf das Geschlecht (und die Schule und einige weitere diskriminierte Wörter) übrigens auch mit seinem Artikel versehen. Die Notwendigkeit von Ablenkung durch manierierten Sprachgebrauch ist nur selten gegeben. In Gegenwart von Inhalt gibt keine Notwendigkeit von Ablenksprach mit Feler.

  8. #8 Dr. Webbaer
    6. September 2013

    Jaja, diese Überschrift und dieses ständige ‘von Geschlecht’, bspw. hier:
    ‘Auch wird ein bewusster Verzicht auf die Erfassung von Geschlecht besprochen, was jedoch zu einer Geschlechtsblindheit bei der Auswertung führen kann.’

    Schwierig zu bearbeiten, das Foto tut ein Übriges.

    MFG
    Dr. W

  9. #9 Radicchio
    7. September 2013

    “Die Notwendigkeit von Ablenkung durch manierierten Sprachgebrauch ist nur selten gegeben.”

    dabei handelt es sich nicht um manierismus. mit dem weglassen des artikel werden “geschlecht”, “schule”, “kirche” zu subjekten. auf dieser denkweise beruht z.b. auch die idee, “sprache” würde handeln.

  10. #10 Radicchio
    7. September 2013

    korr.: des artikelS

  11. #11 DH
    7. September 2013

    Im Hinweis auf “epi goes gender” heißt es:

    “Aber im Prinzip kommen sie aus dem Status eines Salongesprächs kaum hinaus – die meisten Beteiligten sind zwar mit vollem Ernst bei der Sache, aber letztlich nur interessierte Laien. ”

    Aufschlußreiche Formulierung , im Umfeld der Gender-Debatten allerdings nicht sehr überraschend.

  12. #12 Statistiker
    8. September 2013

    Türpe und das Bärchen ergänzen sich ja wunderbar als faaschistoide Frauenhasser,,,,,,,,

  13. #13 DH
    8. September 2013

    Hab mir schon gedacht , daß meine eigentlich recht moderate Kritik nicht stehenbleibt ,so wie mit Sicherheit auch diese nicht , macht nichts , passt leider bestens ins Bild.
    Wer glaubt , mit diesem Versuch der Selbsterhöhung etwas zu erreichen , irrt , macht aber ebenfalls nichts , dem Untergang der Gender – Sache kann entspannt zugehsehen werden.

  14. #14 Physiker
    8. September 2013

    Sorry, ich hab’ nach dem ersten Absatz aufgehört zu lesen – zu viele nicht erklärte Fachbegriffe, die den Lesefluss stören und nicht zielgruppenorientiert verwendet werden. Hier nur ein paar Beispiele:
    – Was ist “Operationalisierung”? Klingt das allgemeinverständliche Verb “messen” wirklich zu banal?
    – Warum muss die Allgemeinverständlichkeit unter solchen Ungetümen wie “nominalskaliserten kategorialen Variable mit zwei Ausprägungen” leiden?
    – Was ist mit “Einzelitems” gemeint? Der Fachbegriff – oder einfach nur “Einzelpunkte”?

    Mag sein, dass das Ergebnis dieser Studie ganz spannend ist, wenn aber die Zusammenfassung hier in einer allgemeinverständlichen Sprache misslingt, dann kann man ja gleich den Originalartikel lesen.

  15. #15 DH
    9. September 2013

    zu #13

    Da habe ich wohl etwas schnell aus der Hüfte geschossen , offenbar gehts hier doch pluralistisch zu.

    Meine vorschnellen Anschuldigungen nehme ich natürlich zurück und entschuldige mich dafür.

  16. #16 Dr. Webbaer
    10. September 2013

    @Radicchio:

    dabei handelt es sich nicht um manierismus. mit dem weglassen des artikel werden “geschlecht”, “schule”, “kirche” zu subjekten. auf dieser denkweise beruht z.b. auch die idee, “sprache” würde handeln.

    Das folgt wohl letztlich der Drei-Welten-Lehre, basiert also in gewisser Hinsicht auf Frege und Popper.

  17. […] Auch der Rückgang des Frauenanteils insgesamt bei den letzten Wahlen trotz Zunahme des Frauenanteils bei den etablierten Parteien erklärt sich auf diese Weise. Ungeklärt bleibt allerdings nach wie vor der hohe Anteil der Frauen unter den Bewerbern. […]