“Statistisch betrachtet, ist alles Leben auf der Erde extinkt” — dieser halbwegs scherzhafte Aphorismus, dem Paläontologen David Raup zugeschrieben, sagt schon einiges darüber aus, wie wir Artenvielfalt begreifen.
Jetzt haben der Zoologe William Sutherland von der Uni Cambridge und Kollegen einen Artensterben-Katalog erstellt, in der 25 Gründe für die schwindende Vielfalt der Lebensformen in Form einer Hitliste aufgeführt sind.
Das Besondere an der Ausrichtung der Studie: Erstmals ist das Paper wie ein politisches Stategiepapier aufgesetzt, das Regierungen und internationalen Organisationen für die kommenden 50 Jahre als Handlungsanleitung dienen soll. Die größten Gefahren sehen die Forscher in teils überraschenden Sachverhalten begründet:
* Nanotechnologie: ist natürlich nicht zwingend der Biodiversität unbekömmlich. Doch weil die technische Machbarkeit das Verständnis für diese Technik bereits heute abgehängt hat, befürchten die Forscher ungeahnte Auswirkungen auf Flora und Fauna. Und im Sinne des Risk Assessment ist “besonders unkalkulierbar” daher “besonders gefährlich” — folglich steht Nanotechnik auf Platz 1 der Liste.
* Künstliche Intelligenz: Je stärker sich Roboter ihren tierischen Vorbildern annähern, desto mehr treten sie mit den natürlichen Vorbildern in Konkurrenz, so die Argumentation der Forscher. Bevor aber “biomimetische” (Lebewesen nachmachende) Halbwesen wie der BigDog echten Hunden das Revier abspenstig machen, wird noch recht viel K.I. nachgerüstet werden müssen — auch wenn sie beinahe so naturalistisch-überzeugend wie Wackeldackel sind.
Der Big Dog von Boston Dynamics auf youtube.com
* Globalisierung der Seuchen: Pandemien und bislang unbekannte Krankheiten stellen eine Gefahr für endemische Arten dar. Das war tatsächlich schon immer so — doch gelingt Krankheitserregern wohl heutzutage wesentlich schneller und effizienter die Ausbreitung über regionale und kontinentale Grenzen hinweg.
* Seuchenbekämpfung: nicht so paradox wie es scheint, wenn man überlegt, was geschehen würde, wenn mit dem Klimawandel z.B. in Europa Malaria Einzug hielte. Menschliche Eingriffe und Reaktionen auf so ein Szenario (zB Trockenlegung von Feuchtgebieten) könnten Artensterben auf ungeahnte Weise auslösen oder verstärken.
Selbiges gilt für den Anbau von Biosprit oder für technische Eingriffe in den Kohlendioxid-Haushalt der Weltmeere und Atmosphäre.
* Invasive Arten und Klimawandel: Spätestens seit der Geschichte mit dem berüchtigten jamaikanischen Mungo wissen wir, dass protektionistische Einwanderungspolitik zumindest bei fremden Tier- und Pflanzenarten gar nicht so verkehrt ist. Heute wundern wir uns über global lebenstüchtige Quallen oder Algen, die mit dem Schiffsverkehr in den “falschen” Ecken der Weltmeere landen und sich dort ungehemmt ausbreiten. Und der Klimawandel könnte dafür sorgen, dass sich plötzlich alle möglichen Lebewesen in für sie weniger genehmen Klimazonen befinden und große Wanderungsbewegungen entstehen, mit Beutezügen und Verdrängungsmechanismen als Begleiterscheinung.
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Bill Bryson hat den oben zitierten Ausspruch mit Zahlen untermalt: 99,99% aller Spezies, die je auf diesem Planeten gelebt haben, existieren nicht mehr. (A Short History of Nearly Everything, S. 216 — als ePaper hier )
Dass Menschen “conservation” betreiben, ist natürlich ein wohlwollender und löblicher Impuls. Die unglaubliche Vielfalt heute lebender Arten betrachten wohl die meisten Menschen als an und für sich schützenswert. Dabei zeigt die Erdgeschichte ein ständiges dramatisches Auf und Ab, von gigantischen Aussterbewellen wie Megafauna oder Dinosauerier bis zu den gegenteiligen Extremen wie der Kambrischen Explosion.
Wenn sich Artenschutz von einer quasi-ethischen Frage, was schützenswert ist und was nicht, löst und zu einer global-strategischen Zukunftswissenschaft wird, solls mir recht sein, solange es nicht — wie oftmals bei politischen Stategieempfehlungen — beim futurologisch-fortschrittsverliebten Planungsdenken bleibt.
Hier der NewScientist-Artikel, der die Top25 zusammenfasst, und hier das Abstract der Online-Veröffentlichung aus dem Journal of Applied Ecology.
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