Welche Bedeutung hat unsere Sprache für unser Weltverständnis? Wäre die Wahrnehmung unserer Umwelt vielleicht ganz anders, wenn unsere Sprache eine andere Struktur hätte? Und hängt unser mathematisches Verständnis, unser Verhältnis zu Größen und Mengen am Ende auch davon ab, welche Zahlwörter wir haben?
Mit solchen und ähnliche Fragen, befassen sich seit vielen Generationen Linguisten, Psychologen, Ethnologen und Philosophen. Eine neue Studie eines britisch-australischen Forscherteams wirft einige wissenschaftliche Grundannahmen über den Haufen: die Studie mit Ureinwohnern des Amazonasgebietes zeigt, daß grundlegende mathematische Fähigkeiten vollkommen unabhängig von der Sprache existieren.
Hatten Ludwig Wittgenstein und Benjamin Lee Whorf nicht recht?
Damit stellt diese aktuelle Studie, die in den Proceedings of the National Academy of Sciences publiziert ist, eine Provokation für weite Teile der wissenschaftlichen Gemeinde dar. Denn noch immer gilt die Sapir-Whorf-Hypothese, die besagt, daß Denken die Sprache formt und nicht umgekehrt, als Fixpunkt der Diskussion. Oder, mit Ludwig Wittgenstein formuliert:
“Die Grenzen unserer Sprache sind die Grenzen unserer Welt.”
Die Notwendigkeit von Zahlwörtern für ein mathematisches Verständnis war zuletzt durch die aufsehenerregenden Studien des Biologen und Verhaltensforschers Peter Gordon bestätigt worden. Gordon untersuchte die Indianer des Piraha-Stammes aus dem Amazonas-Gebiet. Und das Basisvokabular der Piraha kennt keine differenzierten Zahl- und Mengenangaben. Außer Wörtern für “eins”, “zwei” und “viele” benötigen die Indianer keine Vokabeln.
Gordon fand heraus, daß die Piraha bei der Einschätzung von Mengen, die größer als 4 sind große schwierigkeiten haben und offenbar Schwierigkeiten mit dem Zählen haben.
Zählen ohne Zahlen!
Ganz anders klingen nun die Ergebnisse von Brian Butterworth vom Institute of Cognitive Neuroscience (University College London) und seinen Kollegen. Die Forscher hatten 45 Kinder von zwei Eingeborerenstämmen in Australien untersucht.
Sie verglichen die mathematischen Kompetenzen von Kindern, die nur die Sprachen der Warlpiri oder Anindilyakawa sprechen mit den Fähigkeiten von Aborigines-Kindern, die in Melbourne mit Englisch aufgewachsen waren. Das Ergebnis: es gibt kaum bzw. keine Unterschiede was die Beurteilung von Mengen und Größenverhältnissen angeht.
Mathematisches Grundverständnis angeboren
Mitautor Bob Reeve, von der School of Behavioural Science (Uni Melbourne), erklärt:
“Die Studie zeigt, daß die Fähigkeit zu zählen nicht einfach nur von der Kultur oder der Sprache abhängt.”
Wenn man den Ergebnissen traut, dann ist uns Menschen ganz offensichtlich ein basales mathematisches Grundverständnis angeboren. Wir benötigen also nicht zwingendermaßen Zahlwörter, um Mengen zu strukturieren und einfache Aufgaben zu lösen.
Oder, wie es Brian Butterworth von der Uni London formuliert:
“Our study of aboriginal children suggests that we have an innate system for recognizing and representing numerosities – the number of objects in a set – and that the lack of a number vocabulary should not prevent us from doing numerical tasks that do not require number words.”
Auch Fische können “rechnen”
Wobei, unter uns: inzwischen weiß man auch von Fischen, daß diese nicht nur ficken, sondern auch zählen können. Und die Behauptung, daß wir ohne Sprache möglicherweise im Mathetest schlechter abschneiden sollten als Mosquito-Fische, wäre dann doch etwas erklärungsbedürftig…
Links:
- B. Butterworth, R. Reeve, F. Reynolds and D. Lloyd: Numerical thought with and without words: Evidence from indigenous Australian children
- Gordon, Peter (2004): Numerical Cognition Without Words: Evidence from Amazonia, in: Science, Vol. 306, pp. 496-499; www.sciencemag.org/cgi/content/full/1094492/DC1 [Download als PDF]
- Mehr Mathematikunterricht für Meeresbewohner! » Über zählende Fische und die Bedeutung der Sprache für unser Zahl- und Weltverständnis, Wissenswerkstatt, 29.2.2008
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