Wie sieht die Medizin der Zukunft aus? Wie organisiert eine immer älter werdende Gesellschaft ihr Gesundheitssystem? Wie kann es gelingen eine hochtechnologisierte und individualisierte Medizin bezahlbar zu machen? Und wie gehen wir damit um, wenn uns künftig ein simpler Gencheck das Wissen über Krankheitsdispositionen liefert? Das sind nur einige der Fragen, denen sich der “Life Science Dialogue Heidelberg” widmet. Am vergangenen Donnerstag gab es den feierlichen Startschuß für diese Gesprächsplattform.
Zweimal pro Jahr sollen künftig rund 20 Experten aus Wissenschaft, Wirtschaft und Politik zusammenkommen, um sich in informellen Kamingesprächen über Trends und Herausforderungen im Gebiet der Lebenswissenschaften auszutauschen. Interdisziplinarität ist einer der Leitgedanken der Veranstaltungsreihe. Mit Schubladendenken kommt man eben schlicht nicht weiter; das betonte auch Dr. Arend Oetker in seinem kurzen Grußwort, als er feststellte:
“Wir brauchen die Kooperation über Disziplingrenzen hinweg. Der Austausch ist kein Wert an sich, sondern ergibt sich zwingend aus den Problemen, die nicht mehr mit Schubladendenken beantwortbar sind.”
Dass Inter- oder Transdisziplinarität zwar wohlklingende Etiketten sind, die Realisierung des fächerübergreifenden Dialogs mitunter aber mit Schwierigkeiten verbunden ist, räumte zum Beginn seiner Ausführungen Dr. Stephan Sigrist (W.I.R.E.) ein:
“Es ist nicht immer leicht in den Dialog mit Akteuren einzutreten, die einen anderen Hintergrund haben. Man muß zunächst eine gemeinsame Sprache sprechen.”
Das Bemühen um die Gesunderhaltung des Körpers ist ein uraltes kulturelles Mem.
Trends der Medizin des 21. Jahrhunderts
Zum Auftakt der Gesprächsreihe skizzierte Sigrist einige zentrale Trends in Medizin und Gesundheitssystem. Dabei machte er klar, dass wir es hier mit einem Wechselspiel von Kontinuität und Innovation zu tun haben. Einerseits sei – so Sigrist – das Bemühen um die Gesunderhaltung des Körpers, die Optimierung seiner Leistungsfähigkeit (oder das “Enhancement”) ein uraltes, kulturelles Mem. Andererseits stünden wir an der Schwelle zu einer neuen, individualisierten Medizin. Die Entschlüsselung des Humangenoms im Jahr 2001 markiere den Aufbruch in eine neue Ära.
Doch was sind nun die entscheidenden Trends? Zunächst nannte Sigrist die “Veränderung des Krankheitsspektrums“. Der entscheidende Faktor ist hier die steigende Lebenserwartung.
“Die Generation der Hundertjähringen wird gerade geboren”,
so machte Sigrist klar. Denn jedes zweite Neugeborene des Jahres 2009 wird voraussichtlich 100 Jahre alt werden. Was einerseits erfreulich ist, bedeutet andererseits einen absehbaren Anstieg chronischer und degenerativer Krankheiten. Und die entscheidende Frage laute: “Werden Krebs und Demenz behandelbar oder werden wir alle chronisch krank?”
Gleichzeitig (und möglicherweise nimmt diese Entwicklung dem eben genannten Trend etwas an Schärfe) haben wir eine deutliche Lebensstilveränderung zu verzeichnen. Konkret: Wir leben gesünder und (glauben zumindest zu wissen), was ein gesunder Lebenswandel ist. Gegenwärtig zeichnet sich in den Industrienationen eine immer engere Korrelation zwischen Sozialstatus und Lebenserwartung ab. In London variiert (abhängig vom Stadtviertel) die Lebenserwartung heute schon um 10 Jahre.
Sollte diese Entwicklung anhalten, so werden wir künftig eine stärkere Moralisierung von Krankheit erleben. Je stärker der Lebenswandel (gesunde Lebensmittel, Sport, kein Alkohol und Zigaretten etc.) in der Öffentlichkeit als Schlüssel zu einem gesunden Körper wahrgenommen wird, desto geringer wird – so ist zu erwarten – die gesellschaftliche Solidarität mit denjenigen sein, die doch krank sind.
Medizinischer Fortschritt: Mehr Wissen und das Recht auf Nicht-Wissen
Ein weiterer Trend wird häufig unter dem Schlagwort der “personalisierten Medizin” verhandelt. Die ersten Therapien sind auf dem Markt, bei denen auf der Basis einer Überprüfung des Genprofils vor der Behandlung überprüft wird, ob der Patient eine Chance hat, auf das Medikament anzusprechen. Wir werden solche Response-Beurteilungen in Zukunft als Selbstverständlichkeit erleben.
Eine weitere Prognose von Sigrist klang da schon mehr nach Zukunftsmusik. Der Schweizer Trendforscher formulierte den Verdacht, dass in absehbarer Zeit viele Gesundheitschecks nicht mehr durch medizinisches Fachpersonal, sondern von den Patienten selbsttätig, im häuslichen Umfeld durchgeführt werden. Das Wissen über Krankheiten bzw. zu deren Veranlagung, wird zunehmen.
“Ist alles, was machbar ist, auch wünschbar?”
Digitalisierung der Medizin
Der Siegeszug der Informationstechnik und die Allgegenwart des Internet ist schließlich für einen weiteren Trend verantwortlich: die zunehmende Digitalisierung der Medizin. Das beginnt mit neuen Arbeitsweisen der Epidemiologen (wenn man etwa Google-Flu-Trends als Instrument nutzt), reicht über die Telemedizin, die u.a. durch Fortschritte in der Robotik profitiert und führt schließlich sogar zu reiner Science Fiction: zur Cyborgisierung unserer Existenz. Die Fortschritte der (neuronalen) Prothetik sind atemberaubend, wie wir zuletzt auch beim Weltkongress der Medizintechnik gehört hatten. (Am Beispiel der neuro-elektrischen Schnittstellen oder dem Cochlea-Implantat).
Mit diesen Ausblicken beendete Stephan Sigrist seine Präsentation. Stellte an das Ende des Vortrags aber keine letzte Prognose, sondern eine Frage. Nämlich diejenige, ob alles was machbar, auch wünschenswert ist. Da musste man ihm ein weiteres Mal zustimmen.
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