Wenn man über die Entwicklungen in der industriellen Revolution spricht, hat es sich eingebürgert, vor allem über neue Erfindungen zu sprechen: Dampfmaschinen, Züge, mechanische Webstühle und so weiter. Wenn man dieser Geschichte folgt, dann brauchte es zuerst neue Erfindungen und dann kam es zu einer industriellen Revolution. Aber Historiker sind bekanntlich Spielverderber, zumindest wenn sie ein Spiel lange genug gespielt haben und ihnen langweilig wird. Denn irgendwann war die Geschichte mit den Erfindungen dann doch zu einfach.
Es gab zu viele Unstimmigkeiten. Es stimmte einfach nicht, dass die Menschen vom Land in die Stadt wegen der Industrie zogen und die Innovationen der industriellen Revolution die Landwirtschaft verbesserten. Tatsächlich gab es eine landwirtschaftliche Revolution die zur gleichen Zeit einsetzte, wenn nicht noch früher.
Es gibt auch viele Erfindungen die es nie bis zur Umsetzung gebracht haben. Andere wurden zwar umgesetzt, aber in so kleinem Umfang, dass sie letztlich nicht den Einfluss gehabt haben, den sie hätten haben können. Die Idee, dass nur jemand eine schlaue Erfindung machen muss und schon hat man eine industrielle Revolution am Laufen, ist so nicht haltbar. Der Buchdruck in der islamischen Welt ist ein gutes Beispiel dafür. Genauso könnte man da Schießpulver anführen und die Tatsache, dass Schwarzpulverwaffen in Ostasien, wo das Schwarzpulver erfunden wurde, nie so weit entwickelt wurden wie hier in Europa.
An vielen Stellen sind neue Erfindungen auch gar nicht nötig gewesen. Die meisten Fabriken der industriellen Revolution wurden nicht mit Dampfmaschinen angetriebene, sondern mit Wassermühlen. Die hatten zu dem Zeitpunkt schon eine lange Tradition und die Technik war ausgereift und vielen Leuten bekannt. Auch wenn man sich Adam Smiths berühmtes Beispiel der Herstellung von Stecknadeln anschaut, ist dort keine neue Erfindung zu sehen. Es geht nur darum, altbekannte Verfahren möglichst schnell und effizient durchzuführen.
Was es in vielen Fällen braucht, ist der Wille, die Geduld, die Mittel und die Idee etwas zu tun. Dazu gehören die Qanate, mit denen in Persien ihre Felder in der Wüste bewässerten. Es braucht viel Arbeit, aber im Prinzip ist es nicht viel komplizierter als der Bau eines herkömmlichen Brunnens oder eines Bergwerksstollens.
Das Prinzip hat sich bis heute nicht geändert. Die Neuheit vieler Projekte besteht nicht darin, dass völlig neue Konzepte entwickelt werden müssten. Sie besteht darin, dass man es sich in den Kopf setzen muss, das Projekt durchsetzen. Egal ob es um einen Tunnel von Frankreich nach England geht, oder um einen Kanal um mit dem Schiff vom Kaspischen Meer ins Schwarze Meer fahren zu können. Die Hyperloop ist ein aktuelles Beispiel. Kein Teil der Technik die dabei vorgeschlagen wird, ist auch nur im Ansatz neu. Man hätte sie im Prinizip auch schon vor Jahrzehnten bauen können.
Ganz ähnliches gilt für Kernfusion, nur dass man dort lange Zeit auf jeden Anspruch auf Wirtschaftlichkeit hätte verzichten müssen. Hätte man nicht den Anspruch gehabt, einen kleinen und kommerziell umsetzbaren Fusionsreaktor zu bauen, hätte man (netto) Strom aus Kernfusion schon in den 70/80er Jahren erzeugen können. Man hätte nur einen Reaktor wie den Joint European Torus sehr viel größer bauen müssen. Pläne dafür gab es, die Kosten wären aber relativ exobitant gewesen (etwa ein Dollar pro kWh, was damals aber auch noch vergleichbar mit Photovoltaik gewesen wäre).
Es sind also nicht alle solche Vorhaben gleich. Manchmal lässt sich absehen, dass sich ein Vorhaben nicht wirtschaftlich umsetzen lässt. Das heißt noch lange nicht, dass es nicht umgesetzt wird. Das Erneuerbare Energien Gesetz dient zu nichts anderem. Aber es gibt auch Dinge die offensichtlich sinnvoll sind, aber niemand den Entschluss fasst, sie umzusetzen. Wenn man sich den Ausbau der Eisenbahnnetze in China anschaut und dann an die Eisenbahnen in Europa denkt, sieht man das Problem. Es fehlt in Europa der Entschluss ein geschlossenes Eisenbahnsystem aufzubauen, das einen ungehinderten Verkehr zwischen den wichtigsten Städten erlauben würde. Einige tausend Kilometer pro Jahr zu bauen, ist technisch und wirtschaftlich gesehen keine große Herausforderung für eine Volkswirtschaft in der Größe der EU.
Aus solchen Überlegungen entstand dann in den 90er Jahren der Begriff “industrious revolution“, der im Gegensatz zu “industrial revolution” stand. Wobei “industrious” soviel wie fleißig oder zielstrebig(e Arbeit) bedeutet. Demnach waren die gewaltigen Änderungen der Gesellschaft nicht der Technik zu verdanken, sondern der Einstellung und der Motivation der Leute, die in der Wirtschaft tätig waren. Sie hatten Anreize Verbesserungen zu suchen, anzunehmen und einzusetzen. In vielen Fällen ist das der eigentliche Flaschenhals. Möglichkeiten für Verbesserungen gibt es wie Sand am Meer, aber sie müssen auch verstanden, angenommen und eingesetzt werden.
Wenn ein Land wie China in der Ming Dynastie beschließt, dass jede Schifffahrt über den Ozean verboten werden sollte, dann hat das enorme Auswirkungen. Die Gründe waren damals hauptsächlich die Kosten der Schatzflotte und die Macht der Eunuchen, die über sie verfügten. Warum man so weit ging nicht nur die Schatzflotte einzustellen, sondern die gesamte Seeschifffahrt zu verbieten, kann man wohl kaum sagen. Es war eine jener Überreaktionen, die meistens aus irrationalen Überlegungen resultieren. Davon haben wir heute in Deutschland so viele, dass man kein Beispiel nennen braucht.
Das ist kein Plädoyer für blinden Machbarkeitswahn. Aber wenn ganze Bereiche von Wissenschaft und Technik von einer Öffentlichkeit geächtet werden, die im wesentlichen von absichtlich dramatisierten Darstellungen dazu angetrieben werden, dann wird auch das Auswirkungen haben. Diese Auswirkungen sind dabei nicht lokal begrenzt. Wenn sich politische Bewegungen heute für das Verbot von Golden Rice einsetzen, um “kein Einfallstor für Gentechnik” zu öffnen, dann hat das Millionen Todesopfer zur Folge – nur nicht in den Ländern in denen diese Bewegungen ihre schmutzige Arbeit tun.
Wer noch mehr zur industriellen Revolution und der “industrious revolution” hören will, dem kann ich diese Vorlesung empfehlen:
(Übrigens bin ich dabei die ganze Reihe zu sehen, insgesamt zwei Semester mit jeweils 25 Vorlesungen. Es hat einen guten Zweck, zu dem ich wohl übernächste Woche kommen werde. Jedenfalls stellte sich heraus, dass dabei nicht mehr ganz so viel Zeit hatte Artikel für den Blog zu schreiben. Das sollte sich demnächst wieder ändern.)
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