Als ich ein kleiner Junge war und die ersten Nachrichten über die Wissenschaft bekam, dachte ich nicht nur, daß sei alles richtig, ich dachte auch, daß sei immer so. Wissenschaft richtete sich nicht nach Moden, dachte ich, und so kann man sich irren. Wissenschaft steckt voller Moden, wie mir immer klarer wird und wie sich an der breiter werdenden Verwendung von Genen oder genetischen Programmen zeigen lässt.
Wie sehr die Präsentation des Wissens – und damit die Wahrheit der Wissenschaft – von zeitbedingten Entwicklungen abhängt, macht der Kunsthistoriker Horst Bredekamp in einem Interview deutlich, das in dem Band DAS TECHNISCHE BILD abgedruckt ist (Akademie Verlag, 2008, S. 42). Dort erinnert Bredekamp zunächst an die Tatsache, daß wir die berühmte erste Darstelllung der Doppelhelix aus dem Jahre 1953 einer Künstlerin verdanken, und er betont dann, daß sie sich an den damals allgegenwärtigen Mobiles von Alexander Calder orientiert habe. Weiter macht Bredekamp deutlich, daß es die bunten Bilder des chaotischen Apfelmännchens ohne die Erfahrung der psychedelischen Plattencover der 1968er Jahre gar nicht gegeben hätte.
Damit ist klar – Wissenschaft unterliegt der Mode. Bleibt die Frage, wie sie selbst zu einer wird.

Kommentare (4)

  1. #1 Thilo Kuessner
    Mai 2, 2009

    Das Apfelmännchen “gibt es” unabhängig von Moden, es ist eine wichtige in der Mathematik vorkommende Struktur (die Menge aller komplexen Zahlen c, für die der Orbit von 0 unter der Iteration z–>z^2+c beschränkt bleibt). Nur ist seine Berechnung so aufwändig, daß seine komplizierte Form früher nicht bekannt war und man erst mit leistungsfähigen Computern Bilder dieser Menge zeichnen konnte. Deswegen wurde es erst in den 70/80er Jahren zum Forschungsthema.
    Richtig ist natürlich, daß die “Wichtigkeit” eines Gebietes (inner- und erst recht außer-wissenschaftlich) auch von Moden abhängt.

  2. #2 Christian A.
    Mai 2, 2009

    Ich vermute eher, dass es die bekannte bunte Darstellung des Apfelmännchens ohne psychedelischen Plattencover nicht geben solle.

    Ich bin zwar nur ein kleiner Diplomand, aber von Moden in bestimmten Fachrichtungen habe ich schon gehört. Zum Beispiel in der theoretischen Neurowissenschaft wurde als bestimmtes neuronales Netz das Perzeptron irgendwann (so Ende der 50er, vermute ich) formuliert. Es setzte bald eine vergleichsweise immense Forschungstätigkeit ein, bis in den 60ern Rosenblatt et al. den ganzen Hype abgewürgt haben, indem sie in einem Buch nachwiesen, dass das Perzeptron nur eine sehr eingegrenzte Klasse von Problemen lösen kann – oder besser gesagt, sie wiesen es nach für ein Ein-Schicht-Perzeptron … es hat nur niemand sonst gemerkt. Mehrschichten-Perzeptrone sind tatsächlich universeller, das wurde aber erst zwanzig Jahre später bekannt, und die Forschung ging von da an weiter.

    Ähnlich ist das mit einer anderen Klasse von neuronalen Netzen, und zwar rekurrente assoziative Netzwerke. John Hopfield hat 1982 gezeigt, was man mit solchen Netzen so anstellen kann, und löste damit einen weiteren Boom aus, der ungefähr 10 Jahre anhielt. Heute ist der Kreis an Wissenschaftlern, die sich mit solchen Netzen beschäftigen, wieder relativ überschaubar.

    Was das Apfelmännchen angeht, das fällt doch unter Chaosforschung, right? Die hat, wenn ich das richtig sehe, auch gute 20 Jahre gebrannt, wobei sie auch von der Öffentlichkeit wahrgenommen wurde, vor allem in Form von bunten hübschen Bildern (“Beauty of Fractals”).

  3. #3 Jörg Friedrich
    Mai 3, 2009

    @Thilo Kuessner: Warum ist “die Menge aller komplexen Zahlen c, für die der Orbit von 0 unter der Iteration z–>z^2+c beschränkt bleibt” in der Mathematik eine “wichtige Struktur”?

    Und was heißt in diesem Zusammenhang “gibt es” – unabhängig von Moden? Haben nicht alle mathematischen Entitäten ihre Existenz zuerst einer Mode zu verdanken?

  4. #4 Thilo Kuessner
    Mai 3, 2009

    Die Mathematik hinter den Bildern ist schon um 1920 von Julia, Fatou und anderen bearbeitet worden. Es ist im Nachhinein erstaunlich, wieviel man zum Thema Julia-Mengen damals schon herausgefunden hat, ohne die Intuition aus numerischen Computer-Experimenten. Jedenfalls kam das Gebiet dann zum Stillstand und erst durch Computer-Bilder kam man 60 Jahre später zu Untersuchungen über die Mandelbrotmenge (das Apfelmännchen), aus denen sich dann neue mathematische Theorien entwickelten. Innermathematisch gilt vor allem Mandelbrots Beweis, daß das Apfelmännchen lokal-zusammenhängend ist, als sehr ‘bedeutend’ (in dem Sinne, daß die dabei verwendeten Methoden auch bei anderen mathematischen Problemen verwendet werden können). Davon abgesehen ist natürlich oft von Anwendungen in Natur- und Wirtschaftswissenschaften die Rede, aber das kann ich nicht beurteilen.
    Jedenfalls handelt es sich um mathematische Theorien, die lange vorher zum Mainstream gehörten, dann vor dem Hintergrund neuer Rechentechnik einen enormen Aufschwung erlebten und übrigens mit vielen anderen Gebieten der Mathematik zusammenhängen. Mit den 68ern oder LSD hat das alles nichts zu tun.
    Schon deshalb, weil es Juliamengen und Mandelbrotmenge eben wie gesagt auch als Forschungsobjekt schon lange vor ihrem in-Mode-kommen gab.
    Daß die Wertigkeit von Gebieten innerhalb eines Fachs sich im Lauf der Zeit ändert und von Faktoren abhängt, die sich Außenstehenden schwer vermitteln lassen, ist genauso richtig wie banal. Wenn man das als ‘Mode’ bezeichnen will, meinetwegen. Jedenfalls, um die erste Frage abschließend zu beantworten, ist es so, daß sich die Bewertung (hinsichtlich Relevanz) von Forschungsergebnissen aus vielen komplexen Faktoren ergibt, eher intuitiv erfolgt (Leute, die in einem Thema ‘drin’ sind, haben ein ‘Gespür’ dafür, was in einem Gebiet den Erkenntnisfortschritt fördern könnte) und einfachen Bewertungsmethoden kaum zugänglich sein dürfte. Deswegen ist es auch sinnvoll, daß solche Bewertungen intern und nicht von Parteisekretären oder Publizisten durchgeführt werden.