Ich habe im jetzt zu Ende gehenden Wintersemester eine Vorlesung über “Die Geschichte der Krebsforschung” gehalten und am Anfang der Bemühungen gedacht, dass ich am Ende ungefähr sagen könnte, was das ist, Krebs. In dieser Woche – genauer am 6. Februar – halte die letzte Vorlesung, und zwar mehr oder weniger ratlos. Krebs ist eine genetische Krankheit, eine systemische Krankheit, eine mit Störungen von Signalketten einhergehende Krankheit, eine durch Umweltfaktoren ausgelöste Krankheit, und so kann man immer mehr Angebote bekommen. Jedes mal wenn etwas wie eine klare Auskunft klingt – Krebs hängt eng mit einem Protein zusammen, das die Zellteilung kontrolliert -, die man genauer erfassen möchte, tauchen tausend neue Namen und Faktoren auf, die wiederum zu anderen Namen und Faktoren  führen. Keine Frage, da sind eine Menge Leute sehr fleißig und da spielen eine Menge molekularer Faktoren in den Zellen eine Rolle, aber irgendwie möchte ich meine Vorlesung nicht mit einem Gewusel und Gewimmel, sondern mit eine klaren Linie abschließen. Ich riskiere daher die folgende Metapher, wohl wissend, dass ich mich damit lächerlich machen kann.

Also: Krebs scheint es zu geben, seit es menschliches Leben gibt, und vermutlich gibt es Krebs, seit es Leben gibt. Das heißt genauer, seit es vielzelliges Leben gibt. Einzeller teilen sich ohne Ende und machen damit vom evolutionären Anfang des Lebens an, was Krebszellen an seinem Ende tun. Leben setzt Zellen voraus, die sich rasant teilen können, und Leben besteht nach wie vor aus Zellen, die sich rasant teilen können, und zwar zu jeder Zeit. Eigentlich ein Wunder, dass nicht dauernd und überall Krebswucherungen zu finden sind, und dieses Wunder wird durch die Wissenschaft mit Hilfe von Wächtern oder Hütern des Genoms erklärt. Im Amerikanischen ist von ´”Guardians of the Genome” die Rede, und gemeint sind damit Proteine, die Mechanismen beherrschen, mit den Tumore zu verhindern sind. Es gibt Tumorsuppressoren, so das Fachwort, und wenn sie funktionieren, kann kein Krebs entstehen, da ist man sicher.

Damit komme ich zu meiner Metapher. In einem vielzelligen Körper existieren die Gene als Gefangene des Körpers, der ihnen genaue Aufgaben und Teilungsraten zuweist. Krebs ist nun die Befreiung der Gene aus der Gefangenschaft des Körpers, die Befreiung einzelner Zellen aus dem Gefängnis des Ganzen. Kein Wunder, dass es wild zugeht, wenn sie losgelassen.

Kommentare (3)

  1. #1 jochen
    Februar 2, 2016

    Da ich kein Mediziner bin, kann ich nicht beurteilen, ob der Inhalt von der Metapher korrekt ist. Ich kann nur sagen, dass sie mir gefällt und einprägsam ist.

  2. #2 Sebastian Fettig
    Februar 2, 2016

    Ausnahme unter den Mehrzellern sind die Pflanzen, bei denen Tumore nur infolge Befalls durch Mikroorganismen (Agrobakterien, Phytoplasmen) oder als Folge unpassener Kreuzungen (intraspezifische Hybride) vorkommen. An meinem damaligen Institut gab es Forschung zum pflanzlichen Zellzyklus und diese Frage haben wir oft diskutiert. Eine Erklärung hatten wir aber auch nicht, spekuliert wurde u.a., dass Pflanzen mangels Immunzellen viel schneller den Weg des Zelltods gehen als Tiere und das einen gewissen Schutz vor Krebs darstellt (echten streuenden Krebs kann es ja sowieso dort nicht geben, da in den pflanzlichen Transportbahnen ja keine Zellen unterwegs sind). Das ist aber auch 10 Jahre her, vielleicht hat ja einer der Mitleser neueres Wissen.

  3. #3 fherb
    Februar 2, 2016

    Sehr gut formuliert, finde ich.

    Das führt logisch weiter gedacht zu dem Problem, dass eben viele Mediziner und Mikrobiologen hoffen ließ, aber die Hoffnung sich bisher als viel zu übertrieben dargestellt hat. (Eine vergleichbare Scenerie hält sich seit Jahren in der Hirnforschung.) Deshalb meine Fortführung der Metapher:

    Solange wir nicht im molekularen, wie (körper-)globalen Maßstab wissen, was den ganzen Körper tatsächlich alles zusammen hält, haben wir wenig Chancen mehr zu tun, als zu therapieren, zu bekämpfen, was wild wuchert. Dieses Wissen ist bezogen auf die beteiligten Körperbestandteile und -Systeme ein Mehrdimensionales (da gegenseitig überlagerte Wirkungsketten; siehe folgende Absätze).

    Dabei verstehe ich dieses Wissen nicht als das, was die Medizin “immer oft” als (gesetztes) Wissen publiziert. Dieses Wissen ist erst dann tatsächlich belastbar, wenn wir die Zusammenhänge auch erfolgreich simulieren können. Sprich, wenn unser Verständnis nicht nur ein primitives Ursache-Wirk-Modell darstellt, sondern bis auf die chemisch-physikalische Ebene hinunter zeigt, dass es genau so ist und nicht anders.

    Es wird sich meiner Meinung nach zeigen, dass (ebenso ähnlich, wie in der Hirnforschung) nicht primitive Ursache-Wirkungsketten am Werk sind, sondern unterschiedlichste Prozesse miteinander verkettet sind (selbst, wenn es dazu keinen sinnvollen Grund gibt:) und in dieser Vernetzung auch noch erheblich rückgekoppelt sind.

    Diese Annahme von mir speist sich aus der Ausgangssituation, wie nach unserem aktuellen Verständnis Leben entstanden ist (Darwin u.a.). Das heißt, ein bereits lebenstüchtiger zusammenhängender Körper hat in seinen bisherigen Mechanismen evolutionär neue Mechanismen überlagert bekommen, die ihn haben zur nächsten Entwicklungsstufe kommen lassen. Klassisch wurde hier immer additiv gedacht. Es kommt etwas hinzu. Neben dem, was schon vorhanden war. Ich denke, dass dieser Ansatz derart grundlegend falsch ist, dass er jede neu entdeckte Ursache-Wirk-Beziehung sofort hinterfragen muss. Ich halte auf Grund der Evolution nahezu jede Ursache-Wirkungskette in Bezug auf die daran beteiligten Systeme im Körper immer überlagert mit anderen Ursache-Wirkungsketten. Praktisch wird uns das daran gezeigt, dass selbst dort, wo man zu wissen glaubt, wie ein spezielles Medikament eingreift, trotzdem Nebenwirkungen ganz anderer Art auftreten.

    Den “Mechanismus des Körpers” halte ich also nicht für ein klassisches “mechanisch” gedachtes System bzw. systemtheoretisch beschrieben ein System in dem auf Ursache-Wirkungsmechanismen das Superpositionsprinzip anwendbar ist, sondern als ein System von Bestandteilen, deren Komponenten gleichzeitig mehrere Wirkungsketten umsetzen. Und diese Wirkungsketten positiv und aber auch negativ aufeinander Einfluß nehmen können. Denn evolutionär ist nicht das System am Besten, dass logisch am Besten funktioniert, sondern das, welches sich zum aktuellen Zeitpunkt erfolgreich gegen andere biologische Systeme behaupten kann, die genau so zu diesem Zeitpunkt existireren und in der Umwelt agieren.