Sind wir auf dem Weg in ein neues Mittelalter? Kommt jetzt das Zeitalter von Aberglauben, alternativen Fakten und Wissenschaftsverweigerung? Nein. Wir schaffen das.
Der Weltuntergang ist gerade in Mode. Pessimismus bricht über uns herein wie eine Welle bösartig mutierter Grippeviren. Die Gesellschaft ist tief gespalten und kann sich auf nichts mehr einigen –darüber sind sich alle einig.
Wir leben in einer Zeit von „fake News“. Journalisten füttern uns „alternative facts“, Ärzte füttern uns alternative Medizin, dumpfgeistige Politiker füttern uns mit Angstparolen. Stürzt die Welt aus dem Zeitalter von Rationalität, Wissenschaft und Aufklärung nun unaufhaltsam in das dunkle Loch der Idiotie?
Nein. Das wird nicht geschehen. Nur keine Panik! Die Angst vor dem bevorstehenden Endsieg der postfaktischen Dummheiten ist selbst eine postfaktische Dummheit.
Wahrheitsverbieger gab es schon immer
Wenn wir heute voller Entsetzen über eine neue Welle der Faktenuntreue vom postfaktischen Zeitalter sprechen, dann begehen wir genau denselben Fehler, für den wir unsere Großeltern kritisieren, wenn sie sich die gute alte Zeit zurückwünschen: Es gab nie eine gute alte Zeit. Wir sollten die Vergangenheit nicht verklären.
Man kann sich ziemlich willkürlich Epochen und Ereignisse der Weltgeschichte herauspflücken – gelogen wurde immer.
2003 griffen die USA den Irak an, angeblich weil der Irak Massenvernichtungswaffen produzierte. Mit der Wahrheit hatte diese Behauptung nichts zu tun, aber einmarschiert wurde trotzdem. Richard Nixon und seine Gefolgsleute produzierten in der „Watergate-Affäre“ ein ganzes Bündel an Skandalen. Damals wurde eingebrochen, abgehört, die Justiz behindert und schmutziges Geld herumgeschoben. Das war dramatisch und untragbar – doch weder die USA noch die Welt sind daran zugrunde gegangen.
„Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten“, erklärte Walter Ulbricht 1961 – zwei Monate später wurde die Berliner Mauer gebaut. Die Sowjetunion wiederum inszenierte sich gerne als siegreiche antifaschistische Macht, die Hitler in die Knie gezwungen hatte. In Wahrheit war 1939 der Hitler-Stalin-Pakt geschlossen worden, mit einem geheimen Zusatzprotokoll, das den Nazis legitime Einflussgebiete im Osten zusprach und somit ihren Überfall auf Polen vorbereitete.
„Seit fünf Uhr fünfundvierzig wird zurückgeschossen“ erklärte Adolf Hitler vor dem Reichstag am 1. September 1939. An dieser Aussage war nicht nur die Uhrzeit falsch (geschossen wurde seit 4:45), sondern vor allem die Behauptung, dass die Gewalt von Polen ausgegangen war – man hatte polnische Angriffe fingiert, um einen Grund für die deutsche Attacke zu haben.
Die Nationalsozialisten waren wohl radikaler im Verbreiten von Fake News und Alternative Facts als je ein anderes Regime der Weltgeschichte – nicht zuletzt deshalb, weil man es verstand, neue Massenmedien zu Propagandazwecken zu nutzen. Anders wäre der Holocaust wohl nicht möglich gewesen. Mit der sogenannten „Dolchstoßlegende“ wurden die Massen verhetzt: Schuld an der deutschen Niederlage im ersten Weltkrieg, so wurde behauptet, seien die Sozialisten und die Juden. Die deutsche Armee sei „im Felde unbesiegt“ geblieben, nur die treulosen Feinde im eigenen Land hätten die Niederlage herbeigeführt, und den tapferen deutschen Soldaten an der Front gleichsam von hinten einen Dolch in den Rücken gerammt. Mit der Wahrheit hat diese Verschwörungstheorie nichts zu tun, für letztlich verheerende politische Propaganda war sie aber bestens zu gebrauchen.
Juden wurden in der Geschichte immer wieder Opfer glatter politischer Lügen: So wurden etwa bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts die „Protokolle der Weisen von Zion“ verbreitet – ein Text, in dem das „Weltjudentum“ angeblich erklärt, die Weltherrschaft an sich reißen zu wollen. Diese Protokolle sind eine Fälschung, aber sie bildeten eine Basis für antisemitische Verschwörungstheorien, deren Nachwirkungen heute noch spürbar sind.
Auch kriminelle Straftaten wurden Juden immer wieder angedichtet, um gezielt Antisemitismus zu schüren: Behauptungen über angebliche „Brunnenvergiftungen“ ziehen sich durch die Geschichte, genau wie Ritualmordlegenden an Kindern. So wurden etwa im Dorf Rinn in Tirol jahrhundertelang die Gebeine des „Anderl von Rinn“ in der Kirche aufbewahrt, einem angeblich rituell von Juden ermordeten Kind. Diese Lügengeschichte ist historisch völlig unhaltbar – in wie vielen Köpfen sie in all der Zeit bösartigen Judenhass geschürt haben muss, kann man sich vorstellen.
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