Medizinnobelpreisträger Eric Kandel hat im Interview mit uns dezidiert heutige Psychoanalytiker aufgefordert, selbst zu forschen: “Freud ist tot. Sie sollten ihn ruhen lassen und weiterziehen.”
Vergangenen Freitag hatten wir die Ehre mit dem wohl bedeutendsten Neurobiologen Eric Kandel ein Video-Interview am Rande des Neuroforums der Hertie-Stiftung in Frankfurt führen zu können. Das Video ist im Englischen Original hier zu sehen.
Insbesondere seine Äußerungen zum freien Willen und Psychoanalyse halten wir für besonders relevant. War doch gerade die Psychoanalyse der Ausgangspunkt von Kandels Arbeiten. In Wien im Jahr 1929 geboren, erlebte Kandel als Kind den massiven Druck der Nazis auf seine jüdische Familie. Sie emigrierten im Jahr 1939 in die Vereinigten Staaten. Nicht zuletzt wegen dieses Hintergrunds studierte Kandel zunächst Psychologie und befasste sich intensiv mit den Theorien Freuds. Erst dann wandte er sich der Erforschung neuronaler Netzwerke zu, für die er heute berühmt ist. Im Jahr 2000 wurde er mit dem Nobelpreis für Medizin für die Erforschung der zentralen Rolle von Synapsen für Kurz- und Langzeitgedächtnis und Lernen ausgezeichnet.
ScienceBlogs: Herr Kandel, ist es nicht gruselig – bis zu zehn Sekunden bevor wir eine Entscheidung bewusst treffen, sind bereits erste Anzeichen der Absicht im Gehirn erkennbar. Vor wenigen Tagen hat uns John-Dylan Haynes vom Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig und sein Team mit einer entsprechenden Studie überrascht. Wo bleibt da der freie Wille?
Eric Kandel: Seit Benjamin Libet in seinen Experimenten zum ersten Mal gezeigt hat, dass wir im Gehirn ablesen können, dass Sie bald etwas tun werden, von dem sie noch nichts wissen, führen wir diese Diskussion. Schon Freud hatte darüber gesprochen, dass viele unserer geistigen Prozesse unbewusst ablaufen.
Die Tatsache, dass wir es nicht mitbekommen, bedeutet nicht, dass wir keine Kontrolle darüber haben. Und selbst die Gruppierungen, die der These anhängen, dass viele unserer Entscheidungen vorherbestimmt seien, räumen immerhin ein, dass es so etwas wie eine Veto-Option gibt. Vielleicht ist das sogar die Art und Weise, wie es funktioniert. Aber dann wäre es am Ende doch bewusst.
ScienceBlogs: Sie sprechen Freud an. Bevor Sie sich der Neurobiologie zuwandten, studierten Sie Psychiatrie und waren der Psychoanalyse zugewandt. Werden wir irgendwann auf neurologischer Ebene Freuds Dreigestirn Ich, Über-Ich und Es finden?
Eric Kandel: Warum nicht? Wir beginnen gerade zu analysieren, wo verschiedene Arten unbewusster Prozesse im Gehirn lokalisiert sind. Welche Bereiche aktiv sind, wenn jemand etwas bewusst erwartet versus unbewusst. Aber wir werden nicht Ich, Über-Ich und Es von einander getrennt finden, wie Freud das erdacht hat.
ScienceBlogs: Ein Fehler von Freud?
Eric Kandel: Das Problem mit Freud ist, er wird verehrt wie eine Art Idol. Sicher hatte er intuitiv einige wichtige Erkenntnisse der Funktionen unseres Gehirns erfasst. Wenn man aber einen Fehler bei ihm aufdeckt – und er machte viele davon – reagieren die Menschen entsetzt. Aber wie sollte er denn keine Fehler gemacht haben. Er war vor allem zwischen 1880 und 1940 aktiv. Er hatte keine unsere heutigen Techniken. Es ist erstaunlich, dass er einige profunde Erkenntnisse gewonnen hat. Es ist ganz und gar nicht erstaunlich, dass er etwa weibliche Sexualität nicht verstanden hat.
ScienceBlogs: Ist Psychoanalyse nach Freud dann heute noch berechtigt?
Eric Kandel: Ich sage nur, Wissenschaft entwickelt sich. Das Problem der Psychoanalyse ist, sie steht heute noch immer bei Freud. Aber Freud ist tot. Sie sollten ihn ruhen lassen und neue Forschung betreiben. Was Patienten erzählen, genügt nicht. Wir brauchen bildgebende Verfahren und mehr – etwa für neue Analysen der frühkindlichen Entwicklung .
Das Problem liegt also nicht bei Freud, sondern den Generationen nach ihm. Die sich wie eine eingeschworene Gemeinde gegenseitig schützen. Ich meine, wenn sie nichts anderes können als Psychoanalyse, dann trifft es sie jedes Mal hart, wenn Freud widerlegt wird. Schließlich hängt ihr Job daran.
Das auf ScienceBlogs-Video ist eine Co-Produktion von ScienceBlogs.de mit der Wissenschafts-Videoplattform JoVE.com.
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