In den Nachrichten kommt heute (9.12.16) die Meldung, dass “postfaktisch” zum Wort das Jahres 2016 erkoren worden ist. Das ist jetzt Fakt oder liegt faktisch fest. Ich lese heute zugleich in einer Biographie des Schriftstellers Wolfgang Hildesheimer, der 1955 den Hörspielpreis der Kriegsblinden bekommen hat. Seine Dankesrede trägt den Titel “Die Kunst dient der Erfindung der Wahrheit”. Wahrheit lässt sich nicht zeigen und nur erfinden, entweder als Kunstwerk oder als wissenschaftliches Gesetz, das laut Albert Einstein eine freie Erfindung des menschlichen Geistes ist. Alles, was von Menschen geschätzt und bewundert wird, ist postfaktisch. Alles andere ist witzlos. Das ist ein Fakt ebenso wie die Tatsache, dass die Jury, die das Wort des Jahres 2016 gewählt hat, nicht weiß, was damit gesagt ist. Aber wer weiß das schon?

 

 

Kommentare (10)

  1. #1 Johann
    Dezember 9, 2016

    Für mich ist es eher das Unwort des Jahres, denn es diffamiert andere Meinungen. Es wird nämlich dann verwendet, wenn dem Sprecher der Begriff populistisch nicht erniedrigend genug ist.

  2. #2 Mkm
    Dezember 9, 2016

    @Johann: Das Wort postfaktisch meint aber etwas anderes als bloßen Populismus. Eine Aussage kann populistisch sein ohne per se als falsch gelten zu müssen, z.B. weil sie eine Meinung enthält ohne eine überprüfbare Aussage zu machen (bspw., unabhängig von politischen Themen: “Blaue Häuser sind hässlich”). Daneben existieren aber auch Aussagen, die nachweislich und für jeden überprüfbar falsch sind (z.B. “alle Häuser in Berlin sind blau”). “Postfaktisch” ist demnach häufig eigentlich eine Verharmlosung von “Lüge”.

    Zwar argumentieren viele Populisten mit gelogenen Aussagen (vgl. bspw. diverse Aussagen von Trump zur Kriminalitätsentwicklung, oder Aussagen der Brexit-Befürworter zu den angeblichen Einsparungen für den birtischen Staatshaushalt durch den EU-Austritt, die jeweils objektiv falsch waren), zwingend ist die Verbindung allerdings nicht – wenn auch häufig.

  3. #3 Name auf Verlangen entfernt
    Dezember 9, 2016

    @ Ernst Peter Fischer: “entweder als Kunstwerk oder als wissenschaftliches Gesetz” – “aber wer weiß das schon?” – tja, wer weiß es? Man könnte auch sagen: “Alles, was von Menschen geschätzt und bewundert wird” – frei nach Lao Tses Tao Te King – ist nicht witzlos, sondern wertlos – oder sagen wir: das Meiste?! Die Synthese, was das Kunstwerk mit dem “wissenschaftlichen Gesetz” zu tun hat, harrt aber der Auflösung – Kunst ist das ja gerade nicht – jeder Japaner weiß, daß der Tunfisch einen minimalen Makel braucht, um zu schmecken.

  4. #4 DH
    Dezember 10, 2016

    Ein genialer PR-Coup. Mit dem Begriff “postfaktisch” hat der bedenkliche Teil des Journalismus einen Kampfbegriff erfunden , der auch für seriöse Zeitgenossen plausibel klingt.
    Daher sollte man immer genau hinschauen , wer ihn in welchem Zusammenhang verwendet.
    Es gibt Leute , die mißbrauchen ihn bewußt , während er von Anderen genauso selbstverständlich benutzt wird , die immer wieder gute Artikel schreiben und es ernst meinen mit seriösen Inhalten.

  5. #5 Robert
    Dezember 11, 2016

    Johann,
    sehen wir es mal positiv. Höchstens 10 % der Bevölkerung hat diesen Begriff mal gehört
    und höchstens 3% sehen ihn als Diskriminierung der sozialen Unterschicht.
    Dass des Volkes Meinung in einer Demokratie abqualifiziert wird ist allerdings befremdlich.

  6. #6 Dr. Webbaer
    Dezember 11, 2016

    Wie so oft vely schlau angemerkt.

  7. #7 Name auf Verlangen entfernt
    Dezember 12, 2016

    Wer behauptet, er könne 1/1000 Durchmesser eines Protons mechanisch messen/ausgleichen, ist gewiss postfaktisch unterwegs, I would say … Insofern gilt schon wieder: “Die größten Kritker der Elche sind selber welche … “

  8. #8 Earonn
    Dezember 13, 2016

    @MkM
    Sehr gut erklärt, da kann ich mich nur anschließen

    @Robert
    Wenn aber nun des Volkes Meinung – nur mal angenommen – unqualifziert wäre?
    Was sollte man dann machen?
    Eine Idee ist nicht klug, nur weil viele sie äußern.
    Und es sind nun mal kluge, nicht “von vielen geäußerte” Ideen, die uns als Spezies vorangebracht haben.

  9. #9 Dr. Webbaer
    Dezember 13, 2016

    @ Earonn :

    Wenn aber nun des Volkes Meinung – nur mal angenommen – unqualifziert wäre?
    Was sollte man dann machen?
    Eine Idee ist nicht klug, nur weil viele sie äußern.
    Und es sind nun mal kluge, nicht “von vielen geäußerte” Ideen, die uns als Spezies vorangebracht haben.

    Negativ.

    Die Menschheitsgeschichte ist weit der Erfahrung, am Anfang stand bekanntlich die Sprachlichkeit, das Johannes-Evangelium hat hier in seinem Intro das Entscheidende aussagen können, die Schrift war eine weitere Erfindung Unbekannter, der Buchdruck einem Handwerker anzulasten, das Web dem Handwerk Vieler.

    Hmm, keine Ahnung, ob derart vierschichtig solid zusammengefasst worden ist oder derart als ‘solid’ verstanden von den hier gemeinten Primaten insgesamt so zusammengefasst werden könnte.

    Was ‘klug’ oder sinnstiftend, das Fachwort, das hier einmal genannt werden soll, war, ist im Ex Post, post festum oder bestenfalls im Ex Inter festzustellen.
    Wobei die derart Feststellenden nicht klug sein müssen, auch nicht adverbial klug festgestellt haben müssen, insofern bleibt es sich zu wundern, das etwas da ist und was da ist, also diesbezüglich.

    MFG
    Dr. Webbaer (der insofern der Menge vertraut, durchaus: ungerne, weil er besser ist (oder sich zumindest so einschätzt, Kommentatorenfreundin ‘Earonn’ wohl auch) und nicht Recht haben muss)

  10. #10 Dr. Webbaer
    Dezember 13, 2016

    *
    das[s] etwas da ist