Sind wissenschaftliche Theorien “wahr” – müssen sie es sein, um den Anspruch der Wissenschaftlichkeit zu erfüllen? Und ist es notwendig anzunehmen, dass theoretische Entitäten, also die (zum großen Teil unbeobachtbaren) Elemente wissenschftlicher Theorien, aus deren Verhalten die Regelmäßigkeiten in der Natur und in Experimenten erklärt werden, wirklich existieren.

Die Tatsache, dass immer wieder wissenschaftliche Theorien durch neuere ersetzt werden und dabei auch die Existenz von solchen theoretischen Entitäten widerlegt wird (man denke nur an den Äther als dem Medium, der das Licht leitet, oder das Phlogiston) spricht dafür, nach einer Deutung wissenschftlicher Theorien zu suchen,die ohne solch eine starke Existenzannahme auskommt.

Eine Kurze Einführung in Nancy Cartwrights Standpunkt gibt es auch als Video-Podcast:
Link: Nancy Cartwright und Wissenschaftlicher Realismus

Nancy Cartwright ist eine der Wissenschaftsphilosophen, die sich in den vergangenen Jahrzehnten intensiv mit dieser Frage beschäftigt haben – und die einen differenzierten Standpunkt vertritt: Sie ist Antirealistin bezüglich wissenschaftlicher Theorien, aber Realistin in Bezug auf theoretische Entitäten. Sie schreibt, bezogen auf die anti-realistischen Standpunkte von van Fraassen und Duhem: “I share their anti-realism about theoretical laws. On the other hand, I believe in theoretical entities.”

Wie begründet die Autorin ihren Glauben an die theoretischen Entitäten? Sie schreibt: “When I infer from an effect to a cause, I am asking what make the effect occur, what brought it about. … An explanation of an effect has an existential component, not just as an optional extra ingredient.”

Nach Cartwright sucht die Wissenschaft nach Erklärungen von Effekten, und Effekte werden erklärt, indem die Existenz von Dingen angenommen wird, die diese Effekte hervorbringen. Deshalb ist die Erklärung eines Effektes immer mit einer Existenzbehauptung verbunden. Effekte finden dabei immer auf der Ebene der Phänomene statt, ihre Gründe sind (zunächst) verborgen und man benötigt eine theoretische kausale Erklärung die darauf hinausläuft, dass es auf der nicht unmittelbar beobachtbaren Ebene Dinge gibt, die die Effekte hervorrufen.

Cartwright schildert zunächst ein alltägliches Beispiel: Sie beobachtet, dass ein Zitronenbaum im Garten gelbe Blätter bekommt und vermutet, dass der Grund dafür Wasser im Wurzelbereich sein könnte. Das Wasser ist hier also die theoretische Entität, dessen Existenz als kausaler Grund für die Krankheit des Baumes vermutet wird. Man wird dann ein Loch bohren, das Wasser finden und sagen: „Das war der Grund”.
Analog geht Cartwright sodann mit den Entitäten der Physik um. Sie nutzt dabei die Beispiele der experimentellen Arbeit mit Nebelkammern und verweist auf die Versuche zum Nachweis der Elektronen. Auch hier folgert sie: Dass die Kügelchen im Magnetfeld schweben liegt daran, dass da etwas sein muss, was sich auf den Kügelchen befindet – die Elektronen: “I am inferring from effect to cause, and the explanation has no sense at all without the direct implication that there are electrons or positrons on the ball.”

Natürlich reicht die Analogie zwischen Zitronenbaum und Wasser auf der einen sowie Nebelkammer und Elektronen auf der anderen Seite nicht sehr weit: man kann im Falle der Elektronen eben nicht einfach nachsehen, ob sie denn da sind, um die Existenzbehauptung zu verifizieren. Das ist Cartwright auch bewusst, wenn sie, bezogen auf den Vergleich van Fraassens zwischen dem Flugzeug, das einen Kondensstreifen erzeugt und dem Elektron, das eine Spur in der Nebelkammer erzeugt, schreibt: “I am saying that the particle causes the track, and that explanation, or inference to the most probable cause, has no sense unless one is asserting that the particle in motion brings about, causes, makes, produces, that very track.”

Diese Argumentation muss jedoch etwas genauer betrachtet werden, insbesondere im Vergleich mit den makroskopischen Alltagsbeispielen. Im Alltag ist es so, dass vom Effekt (dem kranken Zitronenbaum, dem Kondensstreifen) zunächst nur die Existenz eines bestimmten Grundes (des Wassers, des Flugzeuges) vermutet wird. Erst durch die Überprüfung, bei der das Wasser durch praktisches Handeln tatsächlich gefunden wird, das Flugzeug durch genaueres Hinsehen erblickt wird, wird die Existenz des Grundes dann bestätigt.

Man kann sich – gerade im Falle des sehr simplen Beispiels des kranken Zitronenbaums, durchaus vorstellen, dass das Bohren im Wurzelbereich kein Wasser zu tage bringt. Dann wird man nach einem anderen Grund für die Krankheit suchen – man wird eine andere Theorie aufstellen und eine andere „theoretische Entität” suchen und möglicherweise finden. Vielleicht wird man auch keinen Grund finden.

Im Falle der Elektronen liegt die Sache anders – deren Existenz wird eben nicht durch Vorweisen offenbar. Man kann kein Loch bohren, um sie zu sehen, keine Sehhilfe er-möglicht es, die Elektronen zu erblicken.

Von der Argumentation, dass man aus dem Effekt auf das Vorhandensein eines Grundes schließen kann, bleibt dann zunächst nur: Da ist ein Effekt, und deshalb muss da irgendetwas sein, was den Effekt hervorbringt. Dieses etwas kann man dann natürlich Elektron nennen, aber das wäre genauso, als wenn man sagte: Der Baum ist krank, und das muss einen Grund haben. Diesen Grund nenne ich „Wasser im Wurzelbereich”. Alles, was ich dann als Ursache der Krankheit wirklich finde, hat diesen Namen.
Eine solche Argumentation ist natürlich absurd, da man an diese Bezeichnungen bestimmte Vorstellungen von Beobachtungen knüpft. Das muss im Falle der (eben nicht beobachtbaren) Elektronen nicht so sein. Man kann allerdings die Analogie in gewisser Weise wieder aufnehmen, indem man auf andere Phänomene verweist, die mit der Existenz der gleichen Entitäten erklärt werden. So wie Wasser etwas ist, was bestimmte Eigenschaften hat, die einerseits zu Krankheiten bei Zitronenbäumen und andererseits zu anderen Effekten führen, kann man Elektronen als Entitäten beschreiben, die gewisse Eigenschaften haben, die mal zu Spuren in der Nebelkammer und mal zum Schweben von Kügelchen in Magnetfeldern führen.

Es bleibt aber ein Unterschied: Das Wasser bleibt immer etwas, dessen wirkliche Existenz letztlich durch Vorweisen gezeigt wird, und dieses Vorweisen ist ein Zeichen dafür, dass die Erklärung, die das Wasser als Grund für eine Beobachtung enthielt, richtig war. Die Existenz von Elektronen wird aber immer nur durch eine Zusammenschau verschiedener Effekte gezeigt. Man sagt eigentlich nicht mehr als: Dieses Phänomen hat seinen Grund in etwas existierendem mit bestimmten Eigenschaften und jenes Phänomen hat seinen Grund in etwas existierendem mit offenbar den gleichen Eigenschaften und daraus wird geschlossen, dass dieses existierende Etwas in beiden Fällen das gleiche ist, und man nennt es Elektron.

Der Begriff der Existenz wird also in beiden Fällen unterschiedlich benutzt, seine Verwendung wird unterschiedlich gerechtfertigt – er hat eine unterschiedliche Bedeutung.
Man könnte dieses Problem zu umgehen versuchen, indem man einen der verwendeten Effekte besonders auszeichnet, indem man ihn als „Vorweisen” bezeichnet. Seine Berechtigung kann dieses Verfahren schon aus dem erwähnten Beispiel des Kondensstreifens hinter dem Flugzeug ziehen: Auch dieses Flugzeug kann schon nicht mehr mit bloßem Auge gesehen, oder wenigstens nicht als Flugzeug erkannt werden. Man kann eine Menge von Effekten ins Feld führen, die Übereinstimmung mit dem Flugplan, die Tatsache, dass man dem Streifen folgen und schließlich ein Flugzeug landen sehen könnte, die Berichte von Menschen, die in jenem Flugzeug saßen und die bestätigen, dass sie just in dem Moment, als der Beobachter den Kondensstreifen sah, aus dem Fenster dessen Wohnort gesehen haben. Unter all diesen Effekten wird man jenen auszeichnen, bei dem der Beobachter durch ein Fernglas sah und das Flugzeug tatsächlich beobachtet hat.

Dem vergleichbar kann man nun z.B. die Spuren des Elektrons in der Nebelkammer als „Sehen” des Elektrons auszeichnen. Aber was sagt dieser Gedankengang mehr aus, als das in der Tat auch schon beim Nachweisen der Existenz des Flugzeugs mit Hilfe des Blicks durch das Fernrohr eine Verschiebung der Bedeutung des Existenz-Begriffes beginnt? Wenn ein Kind zum ersten Mal einen Kondensstreifen sieht, wird es möglicherweise von der Mutter aufgeklärt: „Das ist ein Flugzeug.” Sie meint diese Aussage, die implizit die Behauptung der Existenz eines Flugzeugs enthält, anders, als wenn sie zum Kind am Flughafen stehend den gleichen Satz spricht.

Fortsetzung folgt…

Hinweis: Die angegebenen Zitate sind der Aufsatzsammlung “How the Laws of Physics Lie” entnommen. Auf Wunsch kann eine Textversion mit exakten Quellenverweisen als PDF verschickt werden – Bitte nutzen Sie dazu das Kontaktformular.

Kommentare (4)

  1. #1 Ludmila
    Mai 12, 2009

    Hmm, wenn ich das jetzt richtig verstehe, unterscheidet Frau Cartwright zwischen dem, was man direkt sehen bzw. vorweisen oder sonstwie durch menschliche Sinnesorgane aufnimmt und dem, auf das man nur indirekt folgern kann, weil die menschlichen Sinnesorgane beschränkt sind.

    Das erinnert mich aber ein wenig an die Weltsicht, dass die menschlichen Sinnesorgane perfekt wären. Und das hat sich ja wohl lange, lange überholt. Letztendlich ist auch das, was wir sehen, ein indirektes Verfahren. Elektromagnetische Wellen, die auf die Netzhaut treffen und elektrische Impulse ins Gehirn leiten, was wir dann z.B. als weißes Pferd interpretieren. Bereits diese Interpretation beruht ja auch auf etwas, was man gelernt hat. Und kann in die irre führen. Ein Zebra, das komplett weiß angestrichen wird, könnte ich vermutlich nicht von einem Pferd unterscheiden.

    An den Beispielen stört mich auch etwas.
    1. Die These “Wasser macht den Zitronenbaum krank” wird durch eine Korrelation belegt. Na, das ist aber wenig wissenschaftlich. Das kann höchstens ein Indiz sein. Für eine echte Bestätigung braucht es aber ein bisschen mehr.
    2. Das Anschauen mit dem Fernglas soll ein direkter Beleg sein? Na, kommen Sie Herr Friedrich. Im Jahr der Astronomie sollten Sie wissen, dass Galileo als einer der ersten ein künstliches Hilfsmittel benutzt hat, um seine Sinne zu erweitern und das darüber ein erkenntnistheoretischer Streit entbrannte, ob man den Bilder des Teleskops überhaupt trauen kann. Eben weil man nicht zum Jupiter und nachsehen konnte.

    Ein Fernglas ist genauso eine Krücke für unsere Sinne, wie die Nebelkammer.

  2. #2 adenosine
    Mai 12, 2009

    Es kann nach meiner Meinung keine absoluten Wahrheiten geben sondern nur unterschiedlicher Grade von Wahrscheinlichkeiten für Modelle, die versuchen die Realität zu beschreiben. Dass Belege für solche Model auf unmittelbaren Sinneneindrücken beruhen macht sie nicht unbedingt wahrer als indirekt Schlussfolgerungen oder Messtechniken. Die Wahrscheinlichkeiten können im Einzelfall allerdings sehr hoch sein, z.B. für die Wahrscheinlichkeit, dass auch Morgen noch eine Erdanziehungskraft wirkt.

  3. #3 Jörg Friedrich
    Mai 12, 2009

    @Ludmila: Wenn im Zusammenhang mit wissenschaftsphilosophischen Betrachtungen von direkter Beobachtung gesprochen wird, dann ist meist nicht die direkte Sinnes-Wahrnehmung gemeint. Natürlich sind auch Sätze wie “Der Zeiger des Instruments weist auf 5” oder “In der Nebelkammer zeigt sich eine weiße Spur von 3 mm Durchmesser und 4 cm Länge” sehr voraussetzungsreich, aber hier sollte man, um das Problem nicht zu sehr zu verkomplizieren, davon ausgehen, dass sich Menschen auf die Wahrheit solcher Beobachtungsaussagen durch Hinweisen und Zeigen einigen können.

    Es geht also nicht um die Perfektheit der Sinnesorgane und um ihre Funktion, sondern darum, dass, z.B. Studenten dem Prof bei einem Experiment zusehen und dieser sagt: “Sehen Sie dort den Nebel?” und einer antwortet “Nein.” während alle anderen bestätigen, dass da Nebel ist, man eben den einen zum Augenarzt schicken wird.

    Zu Ihrer Kritik an den Beispielen:

    zu 1: In dem Beispiel wird vorrausgesetzt, dass wir eine Theorie darüber haben, dass Wasser im Wurzelbereich zur Erkrankung des Baumes führt. Wobei das Beispiel wirklich nur sehr grob die Idee illustrieren soll, wie man abduktiv (Schluss auf die beste Erklärung) auf die Existenz nicht beobachtbarer Entitäten folgern. Baas van Fraassens Beispiel ist da immer die “Maus in der Speisekammer”: Ich sehe Spuren auf dem Boden,höre etwas trapsen, mein Lieblingskäse ist alle – und ich folgere, dass da eine Maus in der Speisekammer ist.

    zu 2: Das Fernglas ist in der Tat ein schönes Beispiel, weil man dadurch natürlich, wie Sie sagen, nicht direkt beobachtet. Durch den Einsatz in unterschiedlichsten Situationen, in denen wir immer wieder die direkte Beobachtung mit dem Fernglas-Bild vergleichen, lernen wir ganz praktisch, dass das Fernglas uns meistens etwas existierendes zeigt. Aber unter bestimmten Bedingungen kommt es gerade beim Fernglas zu Artefakten, die wir dann vielleicht gar nicht als solche erkennen.

    Ich bin in meinem Beispiel allerdings in dem Bereich geblieben, in dem uns die Richtigkeit des Fernglas-Bildes durch viele verschiedene Beobachtungen bestätigt ist. Die Grenze ist allerdings in der Tat fließend.

  4. #4 Michael Michaelis
    Mai 13, 2009

    Eigentlich müßte ich spätestens an dieser Stelle doch noch auf Platon und
    Kants “Ding An Sich” zu sprechen kommen – das sind ja nicht irgend
    welche aus der Luft hergeholten Konstrukte, die heute völlig aus der
    Mode gekommen sind, und für die keiner mehr eine müde Mark übrig hätte.
    Die Überzeugung, daß unser Erkenntnis letztlich phänomenologisch ist,
    besagt überhaupt nichts Neues, nur daß ich finde, daß Platon und Kant das ein
    wenig besser formulieren als Frau Cartwright.

    Aber hier wird wieder munter durch die Ebenen mäandert,
    Erkenntnisphilosophie und der Begriff von wissenschaftlicher Erkenntnis
    einander gleich gesetzt und dabei alles miteinander verwechselt. Mir ist
    es zu mühsam, das Gewusel aufzulösen, obwohl ich das wirklich schade
    finde – das Thema ist nämlich eigentlich wirklich spannend.