Existieren die Phänomene der Naturwissenschaften unabhängig von den Forschern, die sich mit ihnen beschäftigen? Die Antwort, die man auf diese Frage gibt, hängt natürlich ganz davon ab, wie man den Begriff der Unabhängigkeit versteht. Klar ist, dass viele Untersuchungsobjekte der Naturwissenschaften ihre Existenz nur den Forschern verdanken, die sie untersuchen.
Exakte Reproduzierbarkeit von Experimenten, Darstellbarkeit von Zusammenhängen in mathematischen Modellen und Ableitbarkeit von Vorhersagen, die mit experimentellen Befunden verglichen werden können, aus solchen mathematischen Modellen – das sind die die Ideale der exakten Naturwissenschaften. Umso exakter eine Naturwissenschaft wird, desto weniger hat sie mit der Natur zu tun. Die exakteste Wissenschaft ist heute die Physik, und sie begann ihre Phase als exakte Wissenschaft mit Torricellis Röhre, Galileis Pendel und Newtons Mechanik. Damit begann auch die Zeit des modernen Experimentes, in dem Bedingungen geschaffen werden, die in der Natur niemals zuvor existierten und die unabhängig vom Handeln des Forschers auch nicht existieren können.
Es gibt in der Natur ohne den Forscher, der sie erschafft, keine Pendel, die sich wie mathematische verhalten, keinen freien Fall, keinen Quanten-Hall-Effekt und kein 2D Elektronengas. Die Wissenschaftler schaffen diese Effekte und Phänomene erst, und ihre große Leistung besteht eigentlich nicht darin, diese Dinge entdeckt zu haben, sondern in der Lage zu sein, die Bedingungen ihres Zustandekommens immer wieder reproduzieren zu können.
Denn das macht die Bedeutung der exakten Wissenschaften für die Technik aus, die heute so oft in einem Atemzug mit der Wissenschaft genannt wird. Ingenieure können die Konstruktionen der exakten Wissenschaften nutzen, um ganz praktische Dinge wie Uhren und Computer-Chips zu bauen.
Problematisch wird es jedoch, wenn man versucht, die Methoden der exakten Wissenschaften auf Bereiche auszudehnen, in denen man unvermeidlich mit Dingen zu tun bekommt, die nicht vom Menschen geschaffen sind, und die man auch nicht, wie im Experiment, ganz unter Kontrolle bekommen kann – wenn man in die wirkliche Natur zurückkehrt. Zum Glück ist das in heute gar nicht mehr so einfach: Unsere ganze alltägliche Welt ist zum großen Teil kultiviert, überschaubar, kontrollierbar. Verglichen mit der tatsächlichen Natur haben wir uns in einer Umwelt eingerichtet, die wenig komplex ist, die wirklich Ähnlichkeit hat mit einem kontrollierbaren Labor-Experiment. Hier kann Technik so funktionieren, wie sie von Ingenieuren und exakten Wissenschaftlern konzipiert wurde.
Wie begrenzt unser Handlungs-Spielraum, der auf Wissenschaft und Technik basiert, ist merken wir, wenn wir mit unserem Auto den Asphalt verlassen und auf einen Waldweg einbiegen, oder wenn in Köln durch unbekannten Untergrund eine U-Bahn gebaut wird. Nur für unsere künstliche, überschaubare Welt, in der die Komplexität enorm reduziert ist, ist die wissenschaftlich-rationale Handlungsorientierung die angemessene Konzeption. In der Wildnis würde auch ein Biologe schnell verhungern – und beim Überwinden eines Gebirgszuges hilft Erfahrung, Geschicklichkeit und Kraft mehr als das Wissen um den Reibungskoeffizienten und die Fallbeschleunigung.
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