Wissenschaft hat zum Ziel, Wissen hervorzubringen. Aber wann hat sie dieses Ziel erreicht? Ist es überhaupt erreichbar und wenn ja, woran würde man erkennen, dass ein wissenschaftliches System von Aussagen nun endlich wirklich sicheres Wissen über die Welt enthält?
In der täglichen Arbeit hat man als Wissenschaftler ein ziemlich gutes Gefühl dafür, ob eine Tatsachenbehauptung nur eine vage Vermutung, schon ein gute Hypothese oder gar ein sicherer Bestandteil einer erfolgreichen Theorie ist. Aber wenn man versucht, genauer zu formulieren, wie sicher eine Aussage ist, ob sie als bewiesen gelten kann, ob man sicher sein kann, dass sie wahr ist, dann gerät man in Schwierigkeiten.
Vielleicht sollte man, wenn man Schwierigkeiten hat, ein so hohes Ziel wie „Wahrheit” zu erreichen oder auch nur zu bestimmen, zunächst etwas bescheidener sein. „Wissen” ist etwas, was mit einem Subjekt zu tun hat: „Ich weiß”, „Wir wissen” – Wahrheit hat immer den hohen Anspruch der Objektivität, letztlich der Absolutheit. Subjektive Formulierungen, die sich auf Wahrheit beziehen, lauten „Ich halte es für wahr, dass…” oder „Wir sehen es als erwiesen an, dass…”
Das Problem der Wahrheit in der Wissenschaft wird dann zu einem Problem der Begründung von Überzeugungen, die von Wissenschaftlern für wahr gehalten werden. Und dieses Problem ist wesentlich einfacher als die Frage, ob Theorien wirklich wahr sind und woher man das wissen kann.
Es gibt ganz verschiedenen Methoden der Begründung von Überzeugungen in der Wissenschaft. Eine davon ist zwingend, und wie es meistens mit zwingenden Begründungen ist, ist sie negativ: Eine Überzeugung, die man für wahr hält, darf nicht mit anderen Überzeugungen, die man ebenfalls für wahr hält, in Widerspruch stehen. Das heißt natürlich nicht, dass man zwingend die neu gewonnene Überzeugung für falsch halten muss, wenn jemand zeigt, dass sie bisherigen, als wahr angesehenen Überzeugungen widerspricht. Aber über kurz oder lang strebt jeder Wissenschaftler und die wissenschaftliche Gemeinschaft als Ganze Systeme von Überzeugungen an, die in sich widerspruchsfrei sind. Und wenn eine neu gewonnene Hypothese mit bisherigen Überzeugungen nicht im Widerspruch steht, dann hat sie schon einmal eine große Hürde auf dem Weg, als wahr angesehen zu werden, übersprungen.
Eine Reihe weiterer Argumente, ein Satzsystem als wahr anzusehen, kann man als bewährte Hilfsmittel ansehen, die sich für die Stützung von neuen Hypothesen immer wieder als nützlich erwiesen haben, ohne dass sie auf lange Sicht ausreichend wären um eine Überzeugung zu rechtfertigen: Klarheit, Einfachheit, Schönheit. Es ist bekannt, dass von Kopernikus bis Einstein solche eher ästhetischen Begründungen immer wieder auf Zeit herangezogen wurden, wenn bessere Argumente noch fehlten.
Diese „besseren Argumente” für die Rechtfertigung von Überzeugungen sind in den Wissenschaften die empirischen Beobachtungen. Eine Überzeugung hat in der Wissenschaft überhaupt nur eine Chance, als wahr angesehen zu werden, wenn sie die Möglichkeit eröffnet, nicht nur für eine, sondern für viele und möglichst unterschiedliche Bedingungen und Situationen vorherzusagen, was beobachtet wird oder umgekehrt, bereits vorliegende Beobachtungen als logische Folge der hypothetischen Überzeugung zu erklären.
Hier zeigt sich, dass in den Wissenschaften überhaupt nur eine bestimmte Sorte von Überzeugungen relevant ist: In einer Wissenschaft geht es überhaupt immer nur um solche Überzeugungen, aus denen man entweder mit zwingender Sicherheit Behauptungen für Beobachtungssituationen ableiten kann, die dann überprüft werden können oder die als logisch hinreichende Begründungen für bereits gemachte Beobachtungen gelten können.
Wichtig ist, dass es mehrere und verschiedene Beobachtungssituationen sein müssen, die als Rechtfertigungen für Überzeugungen herangezogen werden. Umso unterschiedlicher die Bedingungen sind, desto besser für die Rechtfertigung einer These, die ein Wissenschaftler für wahr hält. Immer wieder das gleiche Experiment wiederholen und immer wieder das gleiche Ergebnis erhalten verbessert nicht die Sicherheit, dass die zugrunde liegende Theorie wahr ist, aber wenn man im Laufe der Zeit immer neue Experimente ausdenken kann, deren Ergebnisse mit der Theorie, die da zur Debatte steht, gut begründet werden können, dann gewinnt man immer mehr Sicherheit, dass man berechtigt ist, eine Theorie für wahr zu halten.
Dass ein Wissenschaftler dann irgendwann den Satz, der zuerst eine vage Hypothese war, für eine sichere Wahrheit hält, ist natürlich eine Entscheidung, die er entweder subjektiv für sich allein oder gemeinsam mit Kollegen trifft. Dieser Tatsache haftet zwar etwas von Willkür und Subjektivität an aber man muss sich darüber klar sein, dass zwar der genaue Moment subjektiv bestimmt wird, in dem aus einer Hypothese eine Gewissheit, eine sichere Überzeugung wird, der Weg, auf dem man von einer Vermutung zu einer Überzeugung kommt, ist aber ein Verfahren, das durch die ganze wissenschaftliche Gemeinschaft akzeptiert wird.
Solch eine Weise, Überzeugungen zu begründen, ist natürlich grundsätzlich dem Zweifel ausgesetzt. Aber mit dem Zweifel ist es ebenso wie mit der Überzeugung: Er muss begründet sein. Man ist umso mehr berechtigt, eine Überzeugung als wahr anzusehen, desto weniger begründeten Zweifel es gibt.
Wissenschaftliches Arbeiten ist also kein Verfahren zum Finden von Wahrheiten sondern ein Weg zur Rechtfertigung einer bestimmten Sorte von Überzeugungen. Wissenschaftliche Sicherheit erlangt man, indem man für seine Überzeugungen immer neue verschiedene Bewährungssituationen schafft, und wenn man so viele gefunden hat, dass man sie gar nicht mehr alle aufzählen kann, dann kann man mit gutem Gewissen sagen, dass man diese Überzeugungen als wahr ansieht.
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