Ich erinnere mich noch gut an den Moment als ich – Student im dritten oder vierten Semester – zwischen den grauen Metallregalen der Institutsbibliothek stand und zum ersten Mal auf die Goldbuchstaben sah, die auf den mächtigen Buchrücken der Zeitschriftenbände prangten: “Annalen der Physik” und darunter die Jahreszahlen rund eines Jahrhunderts. Viele Wissenschaftler, die ihre Disziplin lieben, werden sich an den Schauer erinnern, der sie erfasste, als sie in so einem Moment einen dieser Bände aus der Reihe der anderen herauszogen, aufschlugen und dann tatsächlich im Original einen jener Texte vor Augen hatten, der ihre Wissenschaft auf Jahrzehnte geprägt hat, wie z.B. jenen von 1905 mit dem schlichten Titel “Zur Elektrodynamik bewegter Körper” von Albert Einstein.
Heute ist der Text hundertfach in digitalisierter Form im Internet verfügbar, gescannt, kommentiert und übersetzt, und zumindest die gescannte PDF-Version ruft in mir noch immer jenes Gefühl wach, das mich damals im Halbdunkel der Bibliothek erfasste.
Was den Text vor allem von heutigen „Papern”, „Articles” und „Letters” unterscheidet ist weniger die Sprache als die Tatsache, dass er ganz ohne Fußnoten und Literaturverweise auskommt. Ein vergleichbarer Text in nature oder Science hat heute einige Dutzend Verweise auf andere Autoren und deren Artikel – Einstein verweist nur ganz schlicht auf „die Maxwellschen Gleichungen”. Im zweiten Text Einsteins zur Speziellen Relativitätstheorie gibt es genau einen Literaturverweis – auf „Zur Elektrodynamik bewegter Körper”.
Irgendwo las ich neulich, jeder, wirklich jeder wissenschaftliche Text habe ein Literaturverzeichnis, da er eingebunden sei in die gesamte wissenschaftliche Forschung. Dies scheint jedoch nur für Texte der letzten Jahrzehnte zu gelten, zu Beginn und auch in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts war das noch anders.
Denn Einstein war nicht der einzige, der sparsam mit Literaturverweisen war. In der 32seitigen Dissertation von John Nash (ein Text, der für Ökonomen vielleicht die gleiche magische Wirkung hat wie Einsteins Text für Physiker) z.B. finden sich zwei Literaturverweise: eine davon verweist auf eine Arbeit von Nash selbst.
Natürlich schufen auch Einstein und Nash ihre Theorien nicht „auf der Grünen Wiese”, sie schwebten nicht frei im Raum. Aber sie schienen sich des Fundaments, auf dem sie standen, und der Mauern, die sie darauf bauten, ziemlich sicher zu sein. Jeder Literaturverweis ist ein Stützpfeiler im Theoriengebäude, jedes Zitat ist eine Querverstrebung, die die eigene fragile Konstruktion an anderen befestigt.
Die schlichte Eleganz der Romanik ist in der Hochgotik endgültig verloren gegangen. Die Bauten wurden zwar immer höher und filigraner, aber auch unübersichtlicher und fragiler. Am hochgotischen Kölner Dom wird ständig repariert, der romanische Teil des Doms von Trier steht einfach so da. Missen möchten man natürlich beide nicht – aber schön wäre schon, wenn die Wissenschaften wieder zu solcher schlichter Eleganz fänden, die uns in Einsteins und Nashs Arbeiten begegnet.
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