Geht der Prozess der europäischen Einigung mit einem Zerfall der Nationalstaaten einher? Die interessante Antwort von Ali Arbia auf die Frage, ob es 2020 noch Nationalstaaten geben wird, hat mich zu einem so langen Kommentar veranlasst, dass ich ihn als eigenen Artikel einstelle. Denn genauso, wie die verschiedenen kleinen Bevölkerungsgruppen aus ihren bisherigen staatlichen Gebilden heraus wollen, streben sie in das große Europa hinein. Und was bedeutet diese Entwicklung Deutschland und die anderen großen europäischen Nationalstaaten? Zerfallen auch sie in den nächsten Jahrzehnten?
Sieht man sich die Zerfallsprozesse in Europa genauer an fällt auf: Es sind immer Bevölkerungsgruppen mit unterschiedlicher kultureller Identität, die da aus staatlichen Gemeinschaften ausbrechen. Immer ist eine sprachliche Abgrenzung im Spiel, zumeist auch eine religiöse. Auch unterschiedliche ökonomische Traditionen, die mit verschiedenen Wertesystemen verknüpft sind, spielen eine Rolle.
Die Zerfallsprozesse verlaufen entlang kultureller Grenzen
Aus der sprachlichen Abgenzung erwächst eine mangelnde Kommunikation zwischen den Gruppen, diese nährt im Zusammenhang mit religiösen, ethischen und ökonomischen Unterschieden das Wachsen von Vorurteilen. In Krisensituationen werden daraus schnell gegenseitige Schuldzuweisungen, die Vermutung, ohne die jeweils anderen besser zurecht zu kommen und höheren Wohlstand zu ereichen, wächst. So gelangen politische Kräfte zu Einfluss, die die staatliche Trennung vorantreiben – es kommt zum Bruch.
Auf diese Weise sind noch einige Separations- und Spaltungsbewegungen in Europa zu erwarten. Sie führen nicht zum Ende der Nationalstaats-Idee, sondern zu ihrer endgültigen Umsetzung. Denn es sind die Nationalitäten, die hier auseinanderstreben, die Nationen zerfallen nicht, sie werden gestärkt und wachsen zusammen. Dass dabei staatliche Gebilde zerfallen (und vielleicht auch wieder neu zusammenwachsen) ist nicht überraschend.
Auch in Italien wird es solche Veränderungen geben, von denen dann möglicherweise auch Österreich betroffen sein wird. Großbritanien muss nicht verschont bleiben, Abspaltungen an den Rändern von Spanien und Frankreich sind denkbar.
Hat diese Entwicklung für Deutschland Konsequenzen? Trotz ausgeprätem Föderalismus: die Deutschen bilden eine Nation, die sprachlichen, religiösen und kulturellen Unterschiede zwischen Bayern und Friesen sind längst nicht so groß wie die zwischen Flamen und Walonen. Eine so starke reginale Verwurzelung wie in Südtirol oder im Baskenland ist für einen Hessen oder Brandenburger sicherlich kaum vorstellbar.
Werden sich also in einigen Jahrzehnten einige große Nationen, allen voran Deutschland, gefolgt von Polen und Frankreich, Spanien, England und einem Rest-Italien, einer Vielzahl kleiner und kleinster Staaten gegenüber sehen? Für das Funktionieren Europas hätte das sicher enorme Auswirkungen.
Die beste Zeit des Nationalstaates hat noch gar nicht begonnen
Eines zeigen die national gesinnten Separationsbewegungen in Europa ganz deutlich: Es darf nicht beliebig viel Kompetenz an eine übernationale künstliche Staatskonstruktion abgegeben werden. Die nationalen Bindungen sind auch heute noch erstaunlich groß, und im Krisen- und Konfliktfall werden schnell die, die eine andere Sprache sprechen und andere Traditionen haben, zum Sündenbock deklariert. Stabilität in Europa kann wohl nur auf der Basis starker und autarker Nationen funktionieren. Der Nationalstaat ist nicht tot – seine beste Zeit hat noch gar nicht begonnen.
Die Europäische Einigung geht mit Demokratieverlust einher
Eine funktionierende Öffentlichkeit, öffentlicher politischer Diskurs und öffentliche Meinungsbildung sowie öffentliche kritische Beobachtung der politischen Klasse, sind Voraussetzung dafür, dass Europa auf demokratische Weise zusammenwächst. Jürgen Habermas beklagte vor einiger Zeit zu Recht, dass die europäische Integration gegenwärtig mit massivem Demokratieverlust einhergeht: Die Entscheidungsfindung der Brüsseler Bürokratie ist kaum demokratisch zu nennen, gleichzeitig verweisen die demokratisch gewählten Regierungen der Mitgliedsländer nur noch auf die Verordnungen der Europäischen Kommission, die sie „umzusetzen” hätten.
Warumgibt es keine europäische Öffentlichkeit? Die Antwort auf diese Frage ist sehr einfach: Weil die Voraussetzung für eine gemeinsame Öffentlichkeit eine gemeinsame Kultur, vor allem eine gemeisame Sprache ist. Wie wäre eine Talkshow vorzustellen, der alle Bürger der EU gleichermaßen gespannt und bewegt folgen könnten? Ist auch nur eine Feullieton-Debatte denkbar, die in allen Ecken der EU von der intellektuellen Elite begleitet und geführt wird?
Die Vorstellung, wir könnten die Öffentlichkeit über eine gemeinsame Sprache europaweit zu Stande bringen, ist illusorisch: Die meisten Menschen beherrschen keine Fremdsprache so gut, dass sie einer öffentlichen politischen Debatte folgen könnten. Damit wäre die Legitimität einer so geschaffenen Öffentlichkeit von Anfang an in Frage gestellt.
Öffentlichkeit hat aber noch mehr kulturelle Voraussetzung als die gemeinsame Sprache. Um öffentliche Meinungsbildung verfolgen oder an dieser teilnehmen zu können, müssen die Bürger über einen Fundus übereinstimmender Erfahrungen und Traditionen, auf die sie im Diskurs zurückgreifen können, verfügen, sie müssen eine gemeinsame Geschichte, einen gemeinsamen Sinn für Spott, Humor und weitere Kommunikationsformen verfügen.
Deshalb bleibt die Öffentlichkeit, ob man das gutheißt oder bedauert, wohl noch auf lange Zeit national, zumindest an Sprachräume gebunden. Das darf nicht übergehen, wer den Nationalstaat lieber heute als morgen verschwinden sehen würde.
Denn da Öffentlichkeit eine Voraussetzung für die Demokratie ist, bleibt mit ersterer auch letztere wohl noch lange auf die Nationalstaaten begrenzt. Schon Aristoteles sah als ideale Regierungsform für Stadtstaaten die Demokratie, für Großreiche aber die Monarchie. Große politische Gebilde können nicht demokratisch regiert werden, wir merken es in Europa tagtäglich. Deshalb sollte jedem, dem die Demokratie am Herzen liegt, auch der Nationalstaat nicht gleichgültig sein.
Kommentare (54)