Es gibt einen Widerspruch in meinen bisherigen Aussagen zur Frage “Was macht Wissenschaft aus”. Einerseits habe ich verschiedene soziale Attribute (Lehrbarkeit in Universitäten, regelbasierte Diskussion in Fachzeitschriften und auf Konferenzen, Wege zur Definition gesicherten, anerkannten Wissens) genannt und versucht, das Abgrenzungskriterium der Voraussetzungslosigkeit genauer zu bestimmen. Andrerseits habe ich immer wieder behauptet, Philosophie sei keine Wissenschaft.
Die Begründung dieses Satzes bin ich bisher schuldig geblieben (ich werde sie auch am Ende dieses Textes wohl noch schuldig sein). Was wäre denn, wenn die Philosophie die obigen Kriterien erfüllte? Müsste ich sie dann nicht zu den Wissenschaften zählen?
Offenbar wird Philosophie an Universitäten gelehrt. Man kann einen Bachelor- und einen Master-Grad erwerben, man kann in Philosophie promovieren. Es gibt eine Vielzahl von Fachzeitschriften, es gibt Konferenzen zu allen Aspekten, auf denen gestritten und argumentiert wird, wie es sich für Wissenschaften gehört. Es gibt Lehrbücher, in denen die Erkenntnisse der bisherigen Philosophie dargestellt werden.
Und was die Voraussetzungslosigkeit betrifft, da ist die Philosophie wahrhaft ein Vorbild für alle Wissenschaften. Nirgends sonst wird jede noch so kleine Voraussetzung tapfer in Frage gestellt, wird alles, was sich nicht begründen lässt, als Metaphysik gebrandmarkt und auszuschließen versucht.
Irgendwo in der Aufzählung steckt ein Fehler. Ich weiß auch, wo. Es gibt in der Philosophie gar keine Lehrbücher.
Man greife nach wirklichen, echten Lehrbüchern, z.B. nach denen, wo “Theoretische Mechanik” draufsteht. Sie sind alle ziemlich gleich aufgebaut. Manche sind verständlicher, andere unverständlicher. Manche fangen mit Hamilton an, manche mit Newton. Aber die Namen in diesen Büchern sind ohnehin nur Abkürzungen. Natürlich weiß man um die Bedeutung Newtons, aber in den Lehrbüchern kommt Newton nur als Name einer Theorie vor, nicht als Mensch.
Richtige Lehrbücher lehren Systeme, nicht Gedankenwelten von Menschen. Philosophie-Lehrbücher sind Einführungen in Gedanken-Systeme von Einzelnen.
Philosophie ist ein Zwitterwesen, irgendwo zwischen Wissenschaft und Kunst. Wissenschaft sucht etwas allgemein Wahres, was sich über Objektives sagen lässt. Kunst widmet sich dem einzelnen, dem subjektiven. Philosophie sucht auch etwas allgemeines, bemerkt aber, dass das immer subjektiv bleibt, dass gerade das Allgemeine immer subjektiv bleibt.
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