Der Literaturnobelpreis ist im Reigen der Nobelpreise vermutlich derjenige, der am meisten Aufmerksamkeit bekommt. Und gleichzeitig ist er der Umstrittenste. Wie die Schwedische Akademie vor wenigen Augenblicken bekanntgab, geht die wichtigste literarische Auszeichnung des Jahres durchaus überraschend an den französischen Schriftsteller Jean-Marie Gustave Le Clézio. Für Gesprächsstoff ist also gesorgt.

Die Debatten in den Feuilletons und Literaturzirkeln werden wieder an Fahrt aufnehmen. Welcher herausragende Schriftsteller, welche Schriftstellerin wurde übergangen? Welcher Autor hätte den Nobelpreis schon lange verdient und wird vom Nobelpreiskomitee konsequent ignoriert?

Philip Roth, der große amerikanische Romanautor, der seit einem halben Jahrhundert ein Œuvre geschaffen hat, das seinesgleichen sucht, wurde wieder nicht berücksichtigt. Dabei reklamieren seine Fans, daß er spätestens 1998 mit “Der menschliche Makel” zu einem Schriftsteller wurde, der mit Tolstoi, Dostojewski oder Thomas Mann in einer Reihe steht und den Literaturnobelpreis längst verdient habe.

The same procedure as every year: Meinungsverschiedenheiten vorprogrammiert

Im Anschluß an die Bekanntgabe des Literaturnobelpreisträgers haben die Diskussionen, ob die Entscheidung gerechtfertigt ist oder nicht, freilich eine lange Tradition. Zwar erleben wir dieses Jahr auch in den anderen Disziplinen wie der Medizin, Chemie oder der Physik, daß sich Wissenschaftler zu Unrecht übergangen fühlen, was aber in den Naturwissenschaften eher eine Ausnahme ist, ist beim Literaturnobelpreis die Regel.

Kein Wunder, denn Stiftungsgründer Alfred Nobel hatte verfügt, daß derjenige den Preis erhalten solle, „der in der Literatur das Vorzüglichste in idealistischer Richtung geschaffen hat.” Es ist – das sollte vor diesem Hintergrund klar sein – nicht allein die literarische Qualität, die ausschlaggebend ist.

In den letzten Jahren wurden wiederholt Autoren und Autorinnen mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet, deren Werk vom Geist der Völker- und Kulturverständigung durchwirkt ist. Das ist legitim und durchaus im Sinne von Alfred Nobel. Denn egal ob Doris Lessing, die im Vorjahr den Nobelpreis erhielt oder der türkische Schriftsteller Orhan Pamuk, der im Jahr 2006 ausgezeichnet wurde: es zählt eben nicht allein die erzählerische Kraft, wenn das Nobelpreiskomitee seine Auswahl trifft.

Mit Doris Lessing zeichnete die Schwedische Akademie eine Autorin aus, die in ihren Texten politisches Engagement und die Emanzipation der Frau zum Thema machte und dadurch zu einer Klassikerin des literarischen Feminismus avancierte. Und bei Orhan Pamuk wurde explizit seine Vermittlerrolle zwischen Orient und Okzident gewürdigt.

Literaturnobelpreis für Jean-Marie Gustave Le Clézio

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Mit Jean-Marie Gustave Le Clézio erhält nun ein Autor den Literaturnobelpreis, der hierzulande kaum bekannt ist. Aber als einer der wichtigen französischen Literaten der letzten 40 Jahre gilt.

Jean-Marie Gustave Le Clézio hat ein umfangreiches und vielschichtiges Werk vorgelegt. Bereits mit seinem Erstling “Das Protokoll” (Procès-verbal) sorgte er für Aufsehen und erhielt dafür 1963 den Prix Renaudot. Damals war Le Clézio gerade einmal 23 Jahre alt. Seither hat er viele weitere Erzählungen und Romane, sowie Essays publiziert. 1980 bekam er für seinen Roman “Wüste” (Désert) den “Prix Paul-Morand” von der Académie Française.

In Deutschland knallen in dieser Sekunde in Köln und in München die Sektkorken. Die (bislang!) wenigen ins Deutsche übersetzten Texte werden von Kiepenheuer und Witsch, sowie zuletzt auch von Hanser verlegt. Damit setzt sich – das als Randbemerkung – eine erstaunliche Serie fort: Le Clézio ist der zwölfte Nobelpreisträger der im Carl-Hanser-Verlag publiziert.

Sinnliche Ekstase und poetische Abenteuer

Die Entscheidung der Stockholmer Jury für den 68 Jahre alten Autor fordert die literarische Welt nun dazu heraus, einen Schriftsteller zu entdecken, dessen Werk wenigstens hierzulande bislang nur in eingeweihteren Kreisen ein Thema war. Die Begründung, den Literaturnobelpreis an Le Clézio zu vergeben, liest sich jedenfalls vielversprechend und wunderschön:

Die höchste Auszeichnung der literarischen Welt wird – so der Wortlaut – einem Autor des “poetischen Abenteuers” und der “sinnlichen Ekstase” zuerkannt. Le Clézio sei ein

“Verfasser des Aufbruchs, des poetischen Abenteuers und der sinnlichen Ekstase, ein Erforscher einer Menschlichkeit außerhalb und unterhalb der herrschenden Zivilsation.”

Mehr kann man sich als Schriftsteller wohl kaum wünschen. Höchste Zeit für die Leser, um zu überprüfen, ob die Einschätzung des Nobelpreiskomitees zutrifft…