Dem Vortrag eines Evolutionsforschers konnte ich vor einiger Zeit entnehmen, dass es bei Vogelarten, die wir gemeinhin als Zugvögel ansehen, immer Individuen gibt, denen – im Gegensatz zur Mehrheit der Artgenossen – das Bleiben und Überwintern am Ort “in den Genen” liegt, so wie es bei anderen Arten, die wir als sesshaft ansehen, auch immer einzelne Exemplare gibt, die die Strapazen des Fortziehens in wärmere Gegenden dem Frieren vorziehen.
Das ist eine “kluge Erfindung” der Evolution, die auch bei Klimaschwankungen für das Überleben der Art sorgt. Wenn die Winter mild sind, überleben die meisten von denen, die “zu faul” zum Fortfliegen waren, sie können zeitig mit dem Nestbau und dem Brüten beginnen, ihr Anteil innerhalb der Population wächst, wenn aber kalte Winter die Zahl der Faulenzer dezimieren, kommen im Frühjahr immer noch genug Zugvögel von ihrer strapaziösen Reise zurück, um die Art zu erhalten.
Ob man es für das “Wesen der Art” hält, sich auf das Überwintern im Kalten einzustellen, oder ob man meint, es läge diesen Vögeln im Blut, sich im Herbst auf den strapaziösen Weg in den Süden zu machen, hängt also von den Umweltbedingungen ab, die gerade in dem Moment herrschen, in dem wir die Tiere beobachten. Mancher mag die Zurückbleibenden, die sich nicht dem Schwarm anschließen, der gen Süden fliegt, für Außenseiter halten, die dem Untergang geweiht sind oder nur durch Glück und günstige Umstände den Winter überstehen, aber vielleicht sind sie auch diejenigen, die durch ihr unnormales, abwegiges Verhalten das Überleben der ganzen Art sichern, wenn “die Zeiten sich ändern”.
Man sagt heute oft, der Forscherdrang, das Erreichen von Fortschritten in Wissenschaft und Technologie, die Erkenntnis der Welt, liege im Wesen des Menschen begründet. “Der Mensch” will die Welt verstehen, sucht schon immer nach Erklärungen für die Ereignisse, die er beobachtet und die sein Leben beeinträchtigen, und er versucht schon immer, sich seine Umgebung besser, angemessener, “lebenswerter” zu gestalten.
Verwiesen wird auf die großen Vorbilder, die auch in Zeiten des Stillstandes nach neuen Techniken gesucht haben, die den ersten Stein zum Werkzeug geformt, den ersten Kanal durch die Wüste gezogen, das Rad erfunden haben. Sie sollen als Zeugen dafür dienen, dass der Mensch schon immer ein Wissenschaftler war (vor allem sind sie seit den Zeiten aufgeschriebener Geschichte Zeugen dafür, dass Technologie vor allem dazu dienen kann, Macht über andere Menschen, weniger über die Bedingungen des Lebens aller zu erreichen).
Aber diese “Helden” sind nichts anderes als die Außenseiter unter den Zugvögeln, die lieber den harten Winter überstehen als die Strapazen des langen Fluges in wärmere Gefilde auf sich zu nehmen. Erst, wenn die Bedingungen sich ändern, werden sie zur Mehrheit, und scheinen dann “das Wesen” der ganzen Gattung zu verkörpern. Das “Wesen” ist aber nicht ein Merkmal der Art, sondern der Zeit, in der die Art gerade überlebt.
Und die Zeiten ändern sich, die Bedingungen, unter denen der Mensch sich einzurichten hat, verschieben sich weiter, und nicht etwa in eine vorher-bestimmte, klar erkennbare Richtung, sondern in einer unbestimmten, nicht erkennbaren und vorhersehbaren Weise. Von den Vögeln unterscheidet sich die Menschen, die Forscherdrang und Erkenntnis-Suche für wesentlich halten, dadurch, dass sie sich nicht nur den Bedingungen anpassen, die sich ändern, sondern dass sie meinen, die Bedingungen den Bedürfnissen der Menschen anpassen zu können. Die Skeptiker, die Sorgenvollen, werden als Außenseiter und Gestrige verlacht. Dabei dient schon heute ein Großteil der Forschung und Technologieentwicklung dazu, mit den Folgen früherer Forschung und Technologieentwicklung klar zu kommen. Die Wissenschaft müht sich um die Lösung von Problemen, die wir ohne Wissenschaft gar nicht hätten.
So verschieben sich unsere Lebensbedingungen weiter. Vielleicht ist das, was wir heute für das “Wesen des Menschen” halten, in ein paar Jahrtausenden nur eine “Fußnote in der Geschichte”. Ob in ein paar Generationen die “Zugvögel” oder die “Bleiber” unter den Menschen die Mehrheit bilden, ist ganz ungewiss. Wichtig ist wohl nur, dass von beiden immer genug da sind, damit die wechselnden Zeiten überstanden werden. Den Vögeln, wenn sie sich paaren, ist es egal, ob der Andere ein “Zieher” oder ein “Bleiber” ist – damit sorgen sie für die Erhaltung der Art. Würden die einen versuchen, die anderen zurückzudrängen, dann könnte sich die Gattung als Ganze auf Dauer kaum erhalten.
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