Neulich ging eine Meldung durch die Presse, dass eine Galaxie (fast) ohne Dunkle Materie gefunden worden sei. Während die wesentlichen Schlussfolgerungen anderswo schon gezogen wurden, möchte ich hier ein wenig näher auf die zugrunde liegende Arbeit eingehen und erläutern, was da eigentlich wie gemessen wurde.
Worum geht es?
Am 27.03.2018 veröffentlichte eine Gruppe um den an der Yale-Universität lehrenden niederländischen Astronomen Pieter van Dokkum eine Arbeit über die Galaxie NGC 1052-DF2, die sich in der Nähe der elliptischen Galaxie NGC 1052 im Sternbild Walfisch befindet. Sie war vorher schon bekannt aber bisher noch nicht auf ihre Masse hin untersucht worden. NGC 1052-DF2 zählt zu den ultra-diffusen Galaxien (UDGs), die verhältnismäßig groß sind (über 1,5 kpc = 4900 LJ Radius) aber dabei trotzdem sehr lichtschwach (mehr als 24. Größenklasse pro Quadrat-Bogensekunde). NGC 1052-DF2 hat einen Halbmesser von 7700 LJ gemessen bis zu dem Radius, bei dem die Helligkeit auf den Wert 1/e der zentralen Helligkeit abgenommen hat, und hat in diesem Radius im Mittel eine Helligkeit von 24,4 Größenklassen je Quadrat-Bogensekunde. Sie ähnelt damit anderen UDGs. UDGs sind deswegen so lichtschwach, weil sie nur rund 1/1000 der Sterndichte enthalten wie etwa die Milchstraße als typischer Vertreter von Spiralgalaxien. Eine solche Galaxie von Milchstraßengröße hat nur in der Größenordnung von 108 (100 Millionen) Sonnenleuchtkräften, die Milchstraße hingegen ca. 2·1010 (20 Milliarden).
Eine aktuelle Theorie besagt, dass solche Galaxien zunächst wie ganz gewöhnliche Galaxien aus kollabierendem Gas und Dunkler Materie entstehen. Dunkle Materie (s.u.) soll gemäß der heutigen Theorien bei der Galaxienentstehung eine zentrale Rolle spielen, weil sie (im Schnitt) in vierfacher Menge der gewöhnlichen Materie im All vorkommt, ihre Verdichtung die gewöhnliche Materie mit sich zieht und den Entstehungsprozess beschleunigt. Die Galaxien bilden bei der Entstehung in Abhängigkeit von der Menge des verfügbaren Gases eine Zahl von Kugelsternhaufen aus, die deswegen alle ungefähr so alt wie die Galaxie selbst sind. Auch die UDGs bildeten Kugelsternhaufen aus, die auf eine große anfängliche Masse von Gas schließen lassen, verloren jedoch während der Entstehung irgendwie einen Großteil dieses Gases, etwa durch Supernovae. Aufgrund des Mangels an Gas wurde die Sternentstehung früh unterbunden und es entstand nur ein Bruchteil der Sterne im Vergleich zu anderen Galaxien mit ähnlicher Anfangsmasse – es blieb im Wesentlichen nur die Dunkle Materie übrig. UDGs wären demnach fehlgeschlagene Galaxien.
In der Vergangenheit wurden dementsprechend nur UDGs gefunden, die einen sehr hohen Anteil an Dunkler Materie haben, ja teilweise geradezu nur aus Dunkler Materie bestehen. Die von van Dokkum in Kooperation mit Roberto Abraham, University of Toronto, gefundene Galaxie Dragonfly 44 (benannt nach dem Dragonfly Telephoto Array, mit dem sie entdeckt wurde, siehe Bild) enthält beispielsweise 99,9% Dunkle Materie und hat nur 240 Millionen Sonnenleuchtkräfte bei annähernd gleicher Masse wie unsere Milchstraße, 1012 (= 1 Billion) Sonnenmassen.
Und nun hat das Team um Dokkum festgestellt, dass NGC 1052-DF2 so gut wie gar keine Dunkle Materie enthält.
Die dunkle Seite der Materie
Dunkle Materie ist bekanntlich das, was Galaxien und Galaxienhaufen offenbar zusammenhält. Misst man die Geschwindigkeiten der Rotation von Spiralgalaxien oder wie schnell sich Galaxien in Galaxienhaufen umeinander bewegen, dann sind sie viel schneller unterwegs, als es die sichtbare Materie eigentlich zuließe. Wenn man die sichtbare Masse bestimmt, stellt man fest, dass weniger als 20% der Masse zu sehen sind, die nötig wären, um die Objekte bei den beobachteten Geschwindigkeiten zusammen zu halten. Sie sind schneller als mit der Fluchtgeschwindigkeit der sichtbaren Materie unterwegs und sollten eigentlich in alle Richtungen davon fliegen. Daher haben Jan Henrik Oort und Fritz Zwicky bereits in den Jahren 1932 bzw. 1933 vemutet, dass es in der Milchstraße und im Coma-Galaxienhaufen eine nicht sichtbare Materie geben muss, die die fehlenden 80% ausmacht und das Ganze zusammen hält. Sie muss sich dabei so wie ein ideales Gas niedriger Temperatur verhalten – sie stößt mit nichts zusammen, sie bewegt sich langsamer als die Fluchtgeschwindigkeit ihrer eigenen Masse und spürt die Gravitation, und sie sendet keinerlei Licht oder andere elektromagnetische Strahlung aus, weder eigene, noch reflektierte. Bis heute wissen wir nicht, was die Dunkle Materie ist. Nur was sie nicht sein kann:
- Sterne – würden sich durch ihre Leuchtkraft verraten, sie wären nicht dunkel.
- Gas – würde von den Sternen zum Leuchten angeregt oder erwärmt und somit messbare Strahlung (Licht, Infrarot, Radiostrahlung) aussenden und wäre also auch nicht dunkel. In der Durchsicht in Galaxienhaufen verrät es sich, indem es Absorptionslinien mit anderer Rotverschiebung im Licht von weiter entfernten Hintergrundobjekten verursacht. Das Gas in der gesamten Milchstraße kann mit Radioteleskopen direkt beobachtet werden. Beides reicht bei weitem nicht aus für die Dunkle Materie.
- Staub – blockiert das Licht dahinter liegender Sterne und verrät sich in der Durchsicht (wo Sternenlicht noch durchdringt) durch eine Rotverfärbung des Lichts (NICHT Rotverschiebung, es verändern sich keine Wellenlängen, sondern der blaue Teil des Lichts wird stärker vom Staub verschluckt als der rote) und wie Gas durch Radiostrahlung. Auch der Staub reicht nicht, er macht nur einen kleinen Teil der Materie aus und spielt zwischen den Galaxien, wo noch hautpsächlich das ursprüngliche, metallarme Gas des Urknalls herum hängt, keine Rolle.
- Planeten, Planemos, Braune Zwerge, Neutronensterne, stellare Schwarze Löcher – nach solchen Objekten (Massive Compact Halo Objects – MACHOs) hat man mit statistischen Methoden gesucht, denn sie würden sich durch Graviationslinsenereignisse im Licht entfernterer Sterne verraten. Solche wurden auch beobachtet, aber viel zu wenige.
- Überhaupt “normale” baryonische Materie – Baryonen sind Teilchen aus 3 Quarks, also insbesondere Protonen und Neutronen in den Atomkernen, die 99,95% der Masse der Materie ausmachen, aus denen alles um uns herum und wir selbst bestehen. Den Baryonenanteil an der Gesamtmasse kann man aus dem Leistungsspektrum der kosmischen Hintergrundstrahlung und der Zusammensetzung des beim Urknall entstandenen Gases abschätzen. Man kommt so nur auf 20% der benötigten Materiedichte – eben die sichtbare, baryonische.
- Diverse hypothetische “schwach wechselwirkende massive Teilchen” (Weakly Interacting Massive Particles, WIMPs; wimp = engl. “Schwächling” – der Kontrast zu den o.g. MACHOs war durchaus beabsichtigt!). Zahlreiche Experimente wie etwa XENON konnten viele Massen und Größen (“Wirkungsquerschnitt”) solcher Teilchen ausschließen. Es gibt natürlich immer noch einen Bereich besonders kleiner oder massiver Teilchen, der nicht ausgelotet wurde.
- Auch mutmaßliche supersymmetrische Partnerteilchen der normalen Materie wurden bisher nicht aufgespürt, eine der Aufgaben, die der LHC am CERN lösen sollte. Man hofft aber immer noch darauf, etwa den mutmaßlichen supersymmetrischen Partner des Top-Quarks (das STOP) bald zu finden. Der LHC läuft mit voller Kollisionsenergie und sucht.
Es gibt auch noch andere valide Kandidaten wie das hypothetische Axion oder sterile Neutrinos, eventuell gar während des Urknalls entstandene (“primordiale”) Schwarze Löcher (anderer Masse als diejenigen, die aus Sternen entstanden), aber gefunden hat man, so viel steht jedenfalls fest, noch nichts.
Dennoch muss da irgendetwas sein. Die Dunkle Materie verrät sich durch die Wirkung ihrer Schwerkraft auf Galaxien und Galaxienhaufen. Man kann ihre Schwerkraft mit modernster Computertechnik aus den leicht verzerrten Bildern von Galaxien rekonstruieren und ihre Verteilung in Galaxienhaufen und um Galaxien herum sichtbar machen. Ohne Dunkle Materie ließe sich weder die flache Geometrie des Universums noch die Entstehung der Strukturen im Universum erklären. Ethan Siegel hat das in einem aktuellen Artikel schön zusammengefasst.
Ich kann an dieser Stelle das Thema “Dunkle Materie” nur anreißen. Manchem mögen die oben genannten Begriffe wie katalanische Dorfnamen vorkommen, zu jedem der Punkte oben könnte ich einen ganzen Artikel schreiben. Werde ich irgendwann auch einmal tun, bis dahin verweise ich auf Florian Freistetters umfassende Blog-Serie über Dunkle Materie.
Wie wiegt man eine Galaxie?
Zurück zu van Dokkums Arbeit. Wie kann man überhaupt die Masse einer Galaxie bestimmen? Wenn man auf der Erde etwas fallen lässt, hat es eine bestimmte Fallbeschleunigung. Abgesehen vom Luftwiderstand fallen alle Objekte gleich schnell. Auf dem Mond mit seiner kleineren Schwerkraft fallen Objekte ebenfalls gleich schnell (hier gibt’s auch keinen Ärger mit dem Luftwiderstand), nur deutlich langsamer als bei uns, wie der Astronaut David Scott einst bei der Apollo-15-Mission demonstriert hat. Die Schwerebeschleunigung des Mondes ist an seiner Oberfläche nur 1/6 derjenigen der Erde. Das liegt daran, dass der Mond nur 1/81 der Erdmasse hat und man sich außerdem auf seiner Oberfläche näher am Schwerpunkt des Mondes befindet, denn die Schwerkraft hängt natürlich auch vom Abstand zum Objekt ab. Im Abstand des Erdradius vom Mondmittelpunkt herrscht tatsächlich nur 1/81 der Erdschwerebeschleunigung.
Man kann also aus der Schwerebeschleunigung auf die Masse eines Himmelskörpers schließen. Statt Objekte auf ihn fallen zu lassen, was insbesondere bei fernen Galaxien nicht ganz einfach ist, kann man sich alternativ anschauen, wie schnell vorhandene Objekte um den Himmelskörper kreisen, denn auch eine Umlaufbahn ist “freier Fall” und wird von der Schwerebeschleunigung und damit der Masse des Himmelskörpers beeinflusst: je größer die Masse, desto schneller muss ein Objekt bei gegebenem Abstand um die Masse kreisen, um nicht herunter zu fallen. Aus der Umlaufzeit des Mondes um die Erde kann man beispielsweise die Masse der Erde berechnen (und aus derjenigen der Erde um die Sonne deren Masse, siehe gleichen Link, unten).
Das funktioniert hervorragend bei Objekten, deren Umlauf man wenigstens ein Stück weit beobachten kann wie etwa bei Doppelsternen – so werden Sternmassen bestimmt, ein paar Jahre Wartezeit reichen gemeinhin. Galaxien werden von Kugelsternhaufen umkreist, so auch NGC 1052-DF2. Das Problem ist nur, dass die Umlaufzeit in Jahrmillionen gemessen wird, da kann man buchstäblich lange darauf warten, ein noch so kleines Stückchen vom Orbit zu sehen.
Glücklicherweise liefert einem die Spektroskopie jedoch wenigstens eine Geschwindigkeit sofort, nämlich die radiale Komponente, auf den Beobachter zu oder von ihm weg. Diese alleine für nur ein einzelnes Objekt im Orbit hilft einem zwar nicht wirklich weiter – der Kugelsternhaufen könnte rasend schnell von Nord nach Süd über den Himmel sausen, und wir bemerkten es nicht. Wenn man aber mehrere Objekte betrachten kann, dann kann man mit Statistik an die Sache heran gehen. So kann man beispielsweise bei zufälliger Verteilung und Positionen von Galaxien in einem Galaxienhaufen den Virialsatz über die Verteilung von kinetischer und potenzieller Energie anwenden und aus diesem eine Beziehung zwischen der Streuung (Dispersion) der Radialgeschwindigkeiten und der Massensumme der Galaxien herleiten. Man muss also nur genug Radialgeschwindigkeiten messen und kann daraus die Masse des Haufens bestimmen.
Die Autoren des van-Dokkum-Papers haben genau diese Streuung der Geschwindigkeiten für 10 identifizierte Kugelsternhaufen von NGC 1052-DF2 anhand des Dopplereffekts auf ein Triplett von Kalzium-Spektrallinien gemessen. Sie ermittelten eine Streuung der Radialgeschwindigkeiten von 8,4 km/s und schließen daraus unter Berücksichtigung von Messfehlern auf eine Streuung der realen Raumgeschwindigkeiten von nur 3,52 +5,5/-3,2 km/s, mit 90% Sicherheit aber weniger als 10,5 km/s. Die Autoren verwendeten nicht die oben verlinkte einfachen Virialsatz-Beziehung, sondern eine vom Prinzip her ähnliche Massenabschätzung gemäß einer Arbeit, die speziell den Fall von Satellitengalaxien betrachtet, die um eine große Zentralmasse kreisen (nämlich Satelliten der Milchstraße und großen Andromeda-Galaxie). Mit dieser Methode ermittelten van Dokkum & Co. die Masse für zwei Radien der Kugelhaufenorbits (dem mittleren Abstand der Kugelhaufen zur Galaxie von ca. 10.000 LJ und dem des fernsten Kugelhaufens von knapp 25.000 LJ) und kamen auf 320 bzw. 340 Millionen Sonnenmassen. In der Lokalen Gruppe, d.h. der Gruppe von Galaxien, zu der die Milchstraße und die Andromedagalaxie gehören, haben nur solche Kugelhaufen so geringe Geschwindigkeitsdispersionen, die Zwerggalaxien von gerade mal 600 Lichtjahren Durchmesser und höchstens 2 bis 3 Millionen Sonnenmassen an leuchtender Materie umkreisen – die aber eben auch eine im Verhältnis große Menge an Dunkler Materie beinhalten, welche in Galaxien weitaus stärker im Vergleich zur sichtbaren Materie konzentriert sein kann, als im mittleren Mix des intergalaktischen Raums.
Theoretisch besteht die Möglichkeit, dass die Kugelsternhaufen von NGC 1052-DF2 nicht gleichmäßig verteilt sind, sondern beispielsweise alle in einer Ebene kreisen, was den Ansatz zur Massenabschätzung konterkarikieren würde – wenn man von oben auf die Ebene blickte, sähe man nur geringe Radialgeschwindigkeiten. Daran haben die Autoren gedacht und die Geschwindigkeiten in Abhängigkeit vom Abstand in vertikaler und horizontaler Richtung zum Massenzentrum aufgetragen. Sie fanden jedoch nicht den für diesen Fall zu erwartenden Trend.Wieviel leuchtet da?
Die Galaxie ist also leicht und lichtschwach, das ist noch nicht sonderlich bemerkenswert. Es fehlt noch die Abschätzung der leuchtenden Masse. Dazu braucht man zunächst die Entfernung. Diese wurde auf zwei unabhängige Weisen bestimmt, einmal durch die kosmologische Rotverschiebung vermindert um die Beschleunigung durch umliegende Galaxienhaufen, 66,5±3,3 MLJ, und einmal aus statistischen Schwankungen der Flächenhelligkeit (surface brightness fluctuations, SBF) durch verschiedene Zahl von Riesensternen pro Pixel, 62±5,5 MLJ – was es nicht alles gibt!
Die leuchtende Masse haben die Autoren nun auf zwei voneinander unabhängige Weisen bestimmt. Eine einfache Methode schätzt die Masse einfach aus der beobachteten Helligkeit ab. Für Kugelsternhaufen (ähnlich alt, ähnlich lange keine Sterne mehr gebildet wie die Galaxie, also ähnliche Sternenpopulation) ist bekannt, dass zwei Sonnenmassen etwa eine Sonnenleuchtkraft haben (M/Lv=2,0). Mit der ermittelten Entfernung kann man die Leuchtkraft aus der scheinbaren Helligkeit berechnen und kommt auf 110 Millionen Sonnenleuchtkräfte. Macht also mit der obigen simplen Masse-Leuchtkraft-Beziehung für Kugelsternhaufen 220 Millionen Sonnenmassen an leuchtender Materie.
Die andere Methode zur Schätzung der leuchtenden Masse verwendet ein Computermodell, das eine im Abstand von 20 Mpc = 65,2 MLJ modellierte Galaxie mit der gleichen Morphologie, Helligkeit, Farbe, SBF, Metallgehalt und Alter aus einer initialen Massenfunktion (IMF) nach Kroupa (übrigens einem Gegner der Dunklen Materie…) erzeugt. Die initiale Massenfunktion sagt aus, wieviele Sterne welcher jeweiligen Masse aus einer kollabierenden Gaswolke entstehen; nach den modellierten 11 Milliarden Jahren Alter sind die massivsten Vertreter dann zu massiven Sternenleichen (Neutronensterne, Schwarze Löcher) geworden und Sterne von Sonnenmasse sind gerade Rote Riesen. Wenn man alles korrekt abstimmt, kommt man auf eine Modellhelligkeit pro Sternenmasse und kann aus der tatsächlich beobachteten Helligkeit auf die Masse zurück schließen. Und auch hier ergaben sich etwa 200 Millionen Sonnenmassen an leuchtender Materie.
Und was heißt das jetzt?
340 Millionen Sonnenmassen gravitativer Masse stehen also 200 Millionen Sonnenmassen leuchtender Materie gegenüber. Das ist vergleichsweise wenig für eine UDG – bei Dragonfly 44 waren es 240 Millionen Sonnenleuchtkräfte, also bei entsprechender Masse-Leuchtkraft-Beziehung M/Lv=2,0 knapp 500 Millionen Sonnenmassen im Gegensatz zu 1 Billion Sonnenmassen an gravitativer Masse – ein Verhältnis von 1:2000! Selbst normale Galaxien mit 200 Millionen Sonnenmassen leuchtender Materie haben Halos von Dunkler Materie in der Größenordnung von 60 Milliarden Sonnenmassen, ca. 400-mal mehr als die 150 Millionen Sonnenmassen, die von den Autoren als obere Schranke für die Halomasse aus der Bewegung des entferntesten Kugelhaufens geschlossen wurden. Das beste Ergebnis erzielten sie gar für eine Halomasse von 0.
NGC 1052-DF2 ist mithin keine gewöhnliche UDG. Sie passt nicht ins Schema einer sternarmen Galaxie, die frühzeitig ihr Gas eingebüßt hat. Sie ist einfach nur dünn mit Sternen besetzt. Eine normale Galaxie entsteht, nach allem was wir wissen, aus einer kollabierenden Wolke Dunkler Materie, die sichtbare Materie mit sich zieht. Wie soll eine Galaxie entstehen, die (fast) keine Dunkle Materie besitzt? Autor van Dokkum äußerte sich in einem Interview ratlos:“Keine Theorie hat diese Art von Galaxien vorhergesagt. Die Galaxie ist ein totales Mysterium, an ihr ist alles ungewöhnlich. Wie man so ein Ding erzeugt, ist vollkommen unbekannt.”
Ethan Siegel hat einen eigenen Artikel darüber geschrieben und gleich 5 Möglichkeiten aufgezählt, wie man so ein Ding dann doch erzeugen könnte. Hier nur ganz kurz aufgezählt:
- Das Gas der Galaxie kann mit Gas im intergalaktischen Raum kollidiert und abgebremst worden sein, während die DM davon nichts gemerkt hat und weiter geflogen ist; solche Fälle kennt man z.B. vom Bullet Cluster. Aus dem ausgebremsten Gas kann dann die ausgedünnte Galaxie entstanden sein.
- Bei Kollisionen von Galaxien kann Gas weggeschleudert werden, aus dem eine baryonische Galaxie entstehen könnte.
- Die von Quasaren – das sind Galaxien in deren Zentrum einer supermassereiches Schwarzes Loch gerade supermassiv gefüttert wird – ausgestoßenen Jets können zu kleinen Galaxien werden. Da diese von den Magnetfeldern um das Schwarze Loch beschleunigt werden, sollten sie keine Dunkle Materie mehr enthalten, die Elektromagnetismus nicht spürt.
- Es wurde vor ein paar Jahren entdeckt, dass manche Galaxien von Wolken aus ionisiertem Gas begleitet werden (Prototyp war Hanny’s Voorwerp), aus denen später eigene Galaxien werden könnten.
- Dunkle Materie existiert nicht und verschiedene Galaxien haben einfach verschiedene Zusammensetzungen (hmm, eher nicht).
Und was bedeutet das für MOND?
Die beliebteste alternative Erklärung von Gegnern der Dunklen Materie ist eine Modifizierung der entfernungsabhängigen Schwerkraft, genannt “MOdifizierte Newtonsche Dynamik”, kurz MOND. Damit möchte man die Rotationskurven von Galaxien erklären. Auch die Bewegung von Galaxien in Galaxienhaufen. Aber die Theorie berücksichtigt in fast allen Varianten nicht die Relativitätstheorie (sie verletzt sogar die starke Äquivalenz von träger und schwerer Masse) und die einzige Variante, die relativistisch ausgelegt war, ging neulich mit dem Nachweis, dass Gravitationswellen sich genau so schnell fortpflanzen wie elektromagnetische Wellen, den Bach runter. Über die Entstehung primordialen Gases oder das Leistungsspektrum der Hintergrundstrahlung kann MOND im Gegensatz zur Dunklen Materie gar nichts aussagen. Die Dunkle Materie ist einfach viel erklärungsmächtiger, deshalb wird sie von der Mehrheit der Astrophysiker und Kosmologen nicht so leicht aufgegeben.
Was bedeutet NGC 1052-DF2 nun für MOND? Nichts Gutes. Was man daran merkt, dass manche MOND-Anhänger wütend werden und manche versuchen, das Problem wegzulachen bzw. ins Lächerliche zu ziehen. Wenn von “Religion” der anderen Seite die Rede ist, muss der Frustrationslevel schon sehr hoch sein. Die Argumentation von van Dokkum ist natürlich nicht “ich sehe nichts, also existiert es”.
Sondern: leuchtende Materie und dunkle gravitative Masse sind zweierlei separate Dinge, die in beliebigem Mischungsverhältnis auftreten können.
Mal als “Dark Matter Galaxy”, mal als gewöhnliche mit großem DM-Halo, und jetzt mal als fast reine leuchtende Materie, die ganz wunderbar nach unMOdifizierter Newtonscher Dynamik funktioniert. Egal, wie sie entstanden ist. Und deshalb muss es beide geben. Denn wenn die Schwerkraft, wie auch immer ihre entfernungs- und masseabhängige Formel lauten möge, nur an der leuchtenden Masse und ihrer Verteilung hängen würde, dann könnten die UDGs nicht so verschieden sein wie NGS 1052-DF2 und Dragonfly 44.
Und zu den Kritikpunkten aus dem Osterhasen-Artikel:
- Dass die Kugelhaufen alle in einer Ebene kreisen, haben van Dokkum et al. untersucht und widerlegt, s.o.
- Das Problem mit den zu hellen Kugelhaufen haben die Autoren ebenfalls erwähnt und ein separates Paper daraus gemacht, deswegen haben sie zwei unabhängige alternative Entfernungsmessmethoden verwendet, die übereinstimmende Ergebnisse liefern. Wenn die Galaxie tatsächlich um mehr als die Hälfte näher wäre und die Kugelhaufen normal hell, wäre sie schwerer, aber nicht um einen signifikanten Faktor, der den Mangel an der 400-fachen Halo-Materie wett machen könnte. Dafür wäre sie dann gemäß ihrer Rotverschiebung mit einer Eigengeschwindigkeit von 1200 km/s unterwegs, was ziemlich ungewöhnlich wäre.
- Wenn der “externe Feldeffekt” durch die nahe elliptische Galaxie NGC 1052 eine Rolle spielen soll, dann müsste das vorgerechnet werden, um zu überzeugen.
- Und wenn’s wirklich ein Messfehler wäre: van Dokkum hat versprochen, weitere solche Galaxien zu suchen. Wenn’s bei nur einer bliebe, wäre die Kritik möglicherweise gerechtfertigt, aber wenn noch weitere gefunden werden, dann hat MOND ein echtes Problem. Wir werden sehen.
Referenzen
[1] Pieter van Dokkum et al. “A Galaxy Lacking Dark Matter.” Nature. March 29, 2018; arXiv:1803.10237.
Kommentare (117)