Gaia Data Release 1 (DR1)
Am 14. September 2016, nach 14 Monaten Beobachtungszeit zwischen 25. Juli 2014 und 16. September 2015, wurde der erste Katalog oder “data release” von Gaia (DR1) veröffentlicht. Er enthielt die Positionen von 1,1 Milliarden Sternen, jedoch die Entfernungen (Parallaxen) und Eigenbewegungen von gerade einmal 2 Millionen Sternen, und zwar auf der Basis der HIPPARCOS-Kataloge (Hipparcos und Tycho 2), die vor 25 Jahren erstellt worden waren, denn Gaias eigene Messungen der Sternbewegungen waren noch zu unvollständig. Aufgrund der Positionsänderungen der in den älteren Katalogen enthaltenen Sterne gegenüber den neuen Gaia-Positionen konnte jedoch auf die Eigenbewegungen und Parallaxen (die voneinander getrennt werden müssen) geschlossen werden. Das Datenmodell erhielt den Namen TGAS (Tycho-Gaia Astrometric Solution). Schon aus diesen Daten zog man interessante Schlüsse, z.B. über die Bewegung der Sterne in Sonnennähe. Auch zwei neue Sternhaufen wurden entdeckt.
Gaia maß darüber hinaus die Position von ca. 2200 Quasaren. Quasare sind die Kerne ferner, junger Galaxien, wo das zentrale supermassereiche Schwarze Loch gerade extreme Materiemengen verschlingt und diese zum Leuchten bringt. Wir können solche Objekte über Milliarden Lichtjahre Entfernung hinweg sehen und sie erscheinen dann punktförmig wie Sterne, sind aber an ihren Rotverschiebungen und den hellen Emissionslinien (statt dunklen Absorptionslinien) leicht als Quasare erkennbar. Gaia hat viele von ihnen als Beifang gemessen. Da sie so weit entfernt sind, zeigen sie keinerlei Eigenbewegung am Himmel und können so eine feste Referenz für Sternpositionen bilden, die früher auf möglichst fernen Sternen der Milchstraße beruhten. Radioastronomisch ist ein Katalog solcher Quellen (IRCF) als Referenz schon seit 1998 etabliert. DR1 lieferte neue Objekte, mit denen Lücken gefüllt werden können, so dass man mehr Referenzpunkt in der Nähe von Objekten erhält, an denen man Positionsmessungen ausführen will (z.B. für einen neu entdeckten Asteroiden, was dann die Berechnung der Bahn und etwa die Abschätzung des Kollisionsrisikos mit der Erde verbessert).
Schließlich enthält DR1 die Perioden von rund 3200 veränderlichen Sternen, die als Standardkerzen zur Entfernungsbestimmung verwendet werden können (Cepheiden und RR-Lyrae-Sterne). Die Methode beruht darauf, dass solche Sterne in Abhängigkeit von ihrer Leuchtkraft eine bestimmte Lichtwechsel-Periode zeigen, d.h. man kann aus der Lichtkurve auf ihre Leuchtkraft rückschließen. Mit der scheinbaren Helligkeit ergibt sich somit ihre Entfernung, und so kann die Entfernung von Objekten wie Sternhaufen oder Galaxien, die solche Sterne enthalten, gemessen werden, die zu weit entfernt sind, um die Parallaxe zu messen. Dazu muss man jedoch zunächst die Perioden-Leuchtkraft-Beziehung kalibrieren, und dies erfordert, dass man die Leuchtkraft naher Veränderlicher aus ihrer bekannten Entfernung und scheinbaren Helligkeit erschließt. DR1 lieferte zwar kaum Entfernungen, aber rund 3200 Kandidaten, unter denen potenzielle Kalibriersterne für die Perioden-Leuchtkraft-Beziehung sein sollten, deren Entfernung in späteren Releases enthalten sein würde.
Gaia Data Release 2 (DR 2)
Und nun kommt DR2! Am 25. April 2018 veröffentlicht enthält DR2 zunächst Örter für knapp 1,7 Milliarden Sterne (genau sind es 1.692.919.135), knapp 55% mehr als DR1. Aber vor allem enthält DR2 nun Parallaxen, also Entfernungen, und Eigenbewegungen für 1,332 Milliarden Sterne zwischen 3. und 21. Größenklasse – 666mal so viele wie DR1. Die Genauigkeit der Parallaxen beträgt 0,04 mas (milli arc seconds, tausendstel Bogensekunden) für Sterne heller als 15m, während bei schwachen Sternen von 20m noch 0,7 mas erreicht werden. Für alle 1,7 Milliarden Sterne wurden die G-Band-Helligkeiten gemessen (also die Helligkeit über Gaias breites Empfindlichkeitsband von 330-1000 nm in den Astrometriefeldern), für 1,38 Milliarden zusätzlich die Helligkeit in den roten und blauen Bändern (BP- und RP-Photometer). Für mehr als 7 Millionen Objekte konnte mit dem RVS die Radialgeschwindigkeit ermittelt werden und damit in Kombination mit der Messung der Eigenbewegung die wahre Bewegung durch den Raum. Für 161 Millionen Sterne wurde die Temperatur (Spektralklasse) gemessen, für 88 Millionen die Extinktion durch Staub und für 77 Millionen Leuchtkraft und Radius bestimmt – von diesen 77 Millionen Sternen kennt man also alle wichtigen Zustandsgrößen.
Die 2200 DR1-Referenzquasare für das IRCF erweiterte DR2 mal eben auf 557000, was das Netz der Referenzpunkte zur Positionsmessung nun extrem dicht macht. Und gegenüber 3200 veränderlichen Sternen in DR1 listet DR2 nun fast 551000. Man kann sich gar nicht ausmalen, was dies alles für die Astronomie bedeutet.
Bedeutung für die Astronomie
Ich versuche es trotzdem… Entfernung ist in der Astronomie ALLES.
Wir kennen die Masse der Erde und der Sonne, weil uns das Gravitationsgesetz bei bekannter großer Halbachse der Umlaufbahn (das ist die Hälfte des langen Durchmessers der Bahnellipse) und der Umlaufzeit die Massensumme der Zentralmasse und der um sie kreisenden Masse liefert. Kennt man auch die individuelle Bahnkurve/Halbachse eines der Körper um den gemeinsamen Schwerpunkt (Baryzentrum), so kann man auch die Einzelmassen erschließen – so funktioniert das bei der Massenbestimmung von Exoplaneten anhand des beobachteten “Wackelns” des Sterns durch den oder die Planeten. Ohne Entfernung fehlt jedoch der absolute Maßstab zur Bestimmung der Bahnhalbachse und somit auch der Masse – das gilt sowohl im Sonnensystem, als auch bei den Exoplaneten. Deshalb war es so wichtig, dass im 17. und 18. Jahrhundert die Entfernungen zu Mars und Venus durch Triangulation bestimmt werden konnten – kennt man eine Entfernung im Sonnensystem, dann folgen über die Keplerschen Gesetze alle anderen aus den Umlaufzeiten. Und mit der Kenntnis der astronomischen Einheit (AE), also des Abstands Erde-Sonne, eröffnete sich erstmals die Möglichkeit, die Entfernung der Fixsterne und darauf aufbauend letztlich des gesamten sichtbaren Universums zu messen. Auch Gaia nutzt dieses Wissen. Mit einer astronomischen Einheit, die wir dank Radar-Entfernungsmessungen der Venus auf den Meter genau kennen.
Erdgebundene Parallaxenmessungen waren stets schwierig. Das von der Luftunruhe verursachte Verschwimmen der Sterne (im Fachjargon Seeing genannt) sorgte bis zur Entwicklung der adaptiven Optik Ende der 1980er Jahre dafür, dass man von der Erde aus auch mit großen Teleskopen Sterne kaum besser als auf eine Bogensekunde (1″) auflösen konnte, was bei ruhiger Luft bereits ein Amateurteleskop mit 15 cm Öffnung schafft. Die Entfernung eines Sterns mit einer Parallaxe von ϖ” beträgt 1/ϖ Parsec (pc) – so ist das Parsec (“Parallaxensekunde”) definiert; die unter Astronomen gebräuchlichste Entfernungseinheit, weil sie direkt aus einer Messung abgeleitet werden kann (ϖ ist die byzantinische Schreibweise des kleinen Buchstaben Pi und wird von den Profis üblicherweise verwendet, wohl um eine Verwechslung mit der Kreiszahl π zu vermeiden). Aber selbst der nächste Stern, Proxima Centauri, ist mit 4,2 Lichtjahren mehr als 1 pc (3,26 Lichtjahre) entfernt, er bewegt sich also um gerade einmal knapp 2″, wenn die Erde von der einen Seite ihrer Bahn ein halbes Jahr später zum gegenüber liegenden Ort gewechselt ist (ca. 2 AE Basislänge). Durch Fotografie und mehrfache Positionsmessungen konnte man die Genauigkeit auf bis zu 0,1″-0,03″ verbessern. Damit konnte man also ca. 100 Lichtjahre entfernte Sterne messen. Mit großem Fehler. Größere Entfernungen ließen sich nur erschließen, wenn man anhand der nahen, direkt (oder indirekt: Sternstromparallaxe) triangulierbaren Sterne etwas über die Eigenschaften der Sterne gelernt hatte, etwa, wie die Leuchtkraft von der Spektralklasse abhängt.
Die Entfernung der Fixsterne ist aber essentiell für fast alles, was wir über sie wissen. Um den Energieausstoß zu bestimmen, brauchen wir die Leuchtkraft, also die absolute bolometrische Helligkeit. Aus der Leuchtkraft und der Temperatur (Farbe) folgt über das Stefan-Boltzmann-Gesetz die Fläche und damit der Radius eines Sterns. Hat man ein Paar von Sternen (Doppelstern), so kann man aus dem Umlauf bei bekanntem Abstand auf die Masse der Sterne schließen. Aus Masse und Radius kann wiederum auf die Dichte geschlossen werden und man kann modellieren, wie der Stern innen aufgebaut ist und welche Kernreaktionen in ihm ablaufen.Auch seine Lebenserwartung lässt sich so abschätzen. Kennt man für hinreichend viele Sterne verschiedener Spektral- und Leuchtkraftklassen ihre grundlegenden Eigenschaften, dann kann man für Sterne der gleichen Spektral-/Leuchtkraftklasse deren Leuchtkraft (und damit eine angenäherte Entfernung für Sterne jenseits der Parallaxenreichweite), Durchmesser oder Massen abschätzen, was es wiederum erst möglich macht, Exoplaneten zu charakterisieren. Denn wie lange ein Transit eines Planeten dauert und wie stark er durch den Transit an Helligkeit verliert, hängt natürlich von seiner Fläche ab. Und wie massiv und dicht ein Planet ist, der seinen Stern mit einer gewissen Geschwindigkeitsamplitude hin und her rüttelt, kann nur aus der bekannten Masse des Sterns gefolgert werden.
Henrietta Swan Leavitt entdeckte 1912, dass die Helligkeit der δ-Cephei-Veränderlichen (deren Prototyp der unglücklicherweise fast 900 Lichtjahre entfernte Stern δ im Kepheus ist) mit ihrer Pulsationsdauer verknüpft ist. Sie wies das an Cepheiden in der Großen Magellanschen Wolke nach, einer Satellitengalaxie der Milchstraße deren Entfernung unbekannt war, aber immerhin waren die Cepheiden dort alle fast gleich weit entfernt und konnten direkt verglichen werden. 1913 konnte Ejnar Hertzsprung dann die Entfernung einiger näherer Cepheiden bestimmen und so die Beziehung zwischen Periode und scheinbarer Helligkeit zu einer zwischen Periode und Leuchtkraft machen. Damit kannte man sofort die Entfernung der Großen Magellanschen Wolke und die Entfernung der Andromeda-Galaxie konnte mit 900.000 Lichtjahren erstmals abgeschätzt werden. Man konnte sogar die Entfernungen von Galaxien bis zu 10 Millionen Lichtjahren mit den hellen Cepheiden messen und so gelang der Nachweis, dass sich das Weltall ausdehnt. Die Werte für die Hubble-Konstante waren jedoch lange um einen Faktor 2 unsicher – irgendwo zwischen 50 und 100 km/s/Mpc musste der Wert liegen (noch bis Anfang der 1990er wusste man es nicht besser). Leider waren im Radius der vom Erdboden aus messbaren Fixsternparallaxen nur wenige Cepheiden, und so bemerkte man erst in den 1950ern dass es zwei Grundtypen von Cepheiden gibt, die sich bei gleicher Periodendauer um 1,6 Größenklassen unterscheiden, woraufhin sich die mit Cepheiden bestimmten Entfernungen schlagartig auf mehr als das Doppelte vergrößerten.
Erst das Hubble-Weltraumteleskop und HIPPARCOS ermöglichten es, die Cepheidenmethode besser zu kalibrieren und an die nächste Standardkerze anzukoppeln, Supernovae vom Typ Ia, die alle ähnlich hell sind und anhand ihrer Lichtkurve und des Fehlens von Wasserstoff- und Heliumlinien im Spektrum leicht erkennbar sind. HIPPARCOS lieferte durch seine größere Reichweite genauere Parallaxen (10% Genauigkeit in 100 pc Entfernung) von mehr Cepheiden, und Hubble fand Cepheiden in Galaxien, in denen gerade eine Supernova vom Typ Ia explodierte, was seltener als einmal pro Jahrhundert in einer Galaxie wie der Milchstraße passiert, aber wenn man hinreichend viele Galaxien im Blick hat, schon nach viel kürzerer Zeit in irgendeiner von ihnen zu erwarten ist. Mit der Supernova-Methode konnte man die Hubble-Konstante auf 74,2±3,6 km/s/Mpc bestimmt werden und man entdeckte in den 1990ern, dass sich die Expansion des Weltalls beschleunigt. Erstmals folgte aus der Expansion ein Weltalter, das mit dem Alter der ältesten Kugelsternhaufen vereinbar war. Deren Alter kann man daran ermitteln, Sterne welcher Masse bereits die Hauptreihe des Wasserstoffbrennens verlassen haben und zu Riesen geworden sind. Kennt man die Verweildauer auf der Hauptreihe für jede Sternenmasse, dann kann man den “Turn-Off-Point” im Farb-Helligkeits-Diagramm mit einem Alter identifizieren. Wie oben bereits erwähnt beruht die Kenntnis über die Sternentwicklung wiederum auf der Entfernung der Fixsterne.
Und nun Gaia DR2 – die unmittelbare Entfernung von Sternen bis zu zehntausend pc Entfernung (10% Messfehler). Ein halbe Million Cepheiden zur Kalibrierung. Musste man früher mühsam Stern für Stern auf Spektral-/Leuchtkraftklasse und Helligkeit vermessen, um ein Farb-Helligkeits-Diagramm eines Sternhaufens zu erstellen, so liefert Gaias Datenbank mit einem Datenbank-Befehl in der Abfragesprache ADQL eine Datei mit allen nötigen Kenngrößen in maschinenlesbarem Format, so dass ein kleines Programm auf Knopfdruck ein Farb-Helligkeitsdiagramm daraus zaubert. Dies ermöglicht eine genauere Kalibrierung der Altersbestimmung von Sternhaufen, da auch andere Größen als die Masse (vor allem der Metallgehalt der Sterne) eine gewisse Rolle spielt oder etwa in Kombination mit der Eigenbewegung die Bestimmung des Alters von Sternströmen, die auf von der Milchstraße verschluckte Zwerggalaxien zurückgehen (eine solche mit der Kollision von Gaswolken beider Galaxien einher gehende Interaktion führt üblicherweise zur Entstehung neuer Sterne, anhand derer man dann auf den Zeitpunkt der Kollision rückschließen kann).
Es gelang sogar, die Eigenbewegung von 75 Kugelsternhaufen der Milchstraße zu messen, was die Massenbestimmung der Milchstraße verbessert und die Bahnen dieser Objekte um das Milchstraßenzentrum besser charakterisieren lässt.
Das alles nur, weil man Entfernungen von Sternen kennt.
Das Gaia-Archiv
Die Gaia-Datenbank mit den DR1- und DR2-Daten ist dabei für jeden frei zugänglich. Wer sich daran versuchen will, findet sie hier. Niemand kann sie komplett ausdrucken, schon die Hipparcos-Daten (300 MB) benötigten in gedruckter Form einen Ordnerstapel von ca. 1 m Breite – bei Gaia (554 GB) wären es fast 2 km! Aber man kann mit ADQL gezielt nach Eigenschaften von Objekten suchen (sei es Position, Helligkeit, Farbe oder eine Kombination von allem). Damit steht es jedem frei, diesen einzigartigen Schatz zu nutzen, der unser Wissen über das gesamte Universum revolutionieren wird.
Im kommenden Artikel dieser Reihe werden wir uns einige ansehen, welche Schlüsse die Profis schon aus den Daten gezogen haben.
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