Der Strom der Gaia-Papers will nicht versiegen, es sind schon über 100 Stück erschienen. In diesem Artikel möchte ich wieder auf ein paar Highlights näher eingehen.
Die Masse der Milchstraße
Die Masse der Milchstraße ist überraschenderweise nur sehr grob bekannt. Die aktuell zitierten Werte liegen zwischen 500 Milliarden und 3 Billionen Sonnenmassen. Wie man Galaxien wiegt, haben wir schon bei NGC1052-DF2 gelernt – man betrachtet die Geschwindigkeiten der Kugelsternhaufen, welche die Galaxie umkreisen. Im Fall von NGC1052-DF2 konnte man alleine die radiale Bewegung der Kugelsternhaufen beobachten. Bei der Milchstraße ist das problematisch, weil wir uns aus Sicht der Kugelsternhaufen relativ nahe an deren Zentrum befinden, d.h. wir sehen nur die Geschwindigkeitskomponente in Richtung Zentrum der Milchstraße – darauf kann man keine gute Analyse der Bewegungsenergie der Kugelhaufen aufbauen.
Doch mit Gaia kann man sogar die Eigenbewegungen der Kugelsternhaufen der Milchstraße direkt messen! D.h. Gaia “sieht” die Kugelsternhaufen über den Himmel kriechen. Bereits mit dem Hubble-Weltraumteleskop waren die Eigenbewegung einiger weniger Kugelsternhaufen gemessen worden, aber Gaia hat die statistische Basis wesentlich verbessert. Datenrelease 2 enthält die Eigenbewegungen von 75 Kugelsternhaufen bis 21 kpc (68.500 LJ) Abstand vom galaktischen Zentrum und darüber hinaus für 10 Zwerggalaxien und die Magellanschen Wolken. In ihrer Arbeit Evidence for an Intermediate-Mass Milky Way from Gaia DR2 Halo Globular Cluster Motions [1] haben die Autoren Laura Watkins, Roeland van der Marel, Sangmo Tony Sohn und Wyn Evans 34 Kugelsternhaufen davon ausgewählt, die sich die längste Zeit nur im Milchstraßenhalo aufhalten (also der kugelförmigen Zone, die die Milchstraße umgibt und in welcher sich kaum leuchtende Materie, aber der Großteil der Dunklen Materie aufhalten soll), und aus deren Bewegung sowie der Eigenbewegung der Sonne um die Milchstraße, die herausgerechnet werden muss, die Masse der Milchstraße bestimmt.
Die ausgewählten Gaia-Kugelsternhaufen befinden sich zwischen 2 und 21 kpc vom Zentrum der Milchstraße entfernt. Ein zusätzlicher Satz von 12 Kugelhaufen, die mit dem Hubble-Teleskop gemessen worden waren, erweitert den Radius auf 39,5 kpc. Dies erlaubt es, den Halo in verschiedenen Radien zu “wiegen” und somit etwas über die Massenverteilung im Halo selbst auszusagen. Das Problem ist, dass der Halo weit über die Radien der Kugelsternhaufenbahnen hinaus reicht (200-400 kpc). Man muss also versuchen, die globale Verteilung der Masse im Halo aus einem relativ schmalen inneren Ausschnitt, den man beobachten kann, abzuleiten. Dazu bedienten sich die Autoren eines Modells für Massenverteilungen in Teilchen-Halos, das von Julio Navarro, Carlos Frenk und Simon White 1996 in N-Körper-Simulationen gefunden wurde und das zwei freie Parameter hat (eine charakteristische Dichte und einen charakteristischen Radius). Die Dichte des Halos nimmt von innen nach außen ab und verliert sich allmählich im intergalaktischen Medium. Damit man eine definierte äußere Grenze hat, wird der Radius des Halos willkürlich dort begrenzt, wo die mittlere Dichte der eingeschlossenen Materie etwa 100-mal so hoch ist, wie die mittlere Dichte des Universums (R100). Die in diesem Radius eingeschlossene Masse ist die Masse der Galaxie.
Die Analyse selbst ist hochkomplex und es würde mindestens eines eigenen Artikels bedürfen, sie nur in Ansätzen zu beschreiben (Geschwindigkeitsdispersion, Massenschätzer, statistische Simulationen etc. kommen zum Einsatz). Es ergibt sich für die 34 Gaia-Kugelhaufen eine Masse von 220±40 Milliarden Sonnenmassen innerhalb von 21,1 kpc Radius, dem Abstand des am weitesten außen liegenden Gaia-Kugelsternhaufens. Nimmt man die Hubble-Kugelhaufen mit hinzu, so kommen die Autoren auf 440±70 Milliarden Sonnenmassen innerhalb von 39,5 kpc Radius. Für den R100-Radius der Milchstraße ergibt sich dann eine Masse von 1670 +790/-500 Milliarden Sonnenmassen. Dies liegt ziemlich genau in der Mitte des eingangs genannten Wertebereichs, daher der Verweis auf die intermediate mass im Titel der Arbeit.
Wer hat die Milchstraße verbogen?
Schon seit 1957 ist bekannt, dass die Milchstraßenscheibe nicht völlig eben ist, sondern etwas gewölbt. Diese Beobachtung wurde damals mit Radioteleskopen anhand der 21-cm-Strahlung des neutralen Wasserstoffs gemacht, mit dem wir die gesamte Milchstraße überblicken können. Die überwiegende Zahl der Spiralgalaxien zeigt solche Deformationen, aber nicht alle, so dass es sich wohl nicht um ein verbliebenes Artefakt aus der Entstehungsphase der Milchstraße handelt. Auch gibt es offenbar keinen Zusammenhang zwischen der Häufigkeit der Deformationen und dem Alter der Galaxien, so dass es sich nicht um eine Eigenschaft handelt, die sich im Rahmen der Entwicklung einer Spiralgalaxie ergibt. Mögliche Ursachen könnten Interaktionen mit anderen Galaxien sein (z.B. mit den Magellanschen Wolken oder von der Milchstraße verschluckten Zwerggalaxien), intergalaktische Magnetfelder oder ein gegen die Milchstraße verschobener Dunkle-Materie-Halo.
Zwar ist die Form der Wölbung bekannt, aber weil man nicht genau weiß, wie sich die Sterne in Bezug auf sie bewegen, kann man die Ursache nicht herausfinden. Gaia DR2 bietet nun die Möglichkeit, gezielt die Bewegungen der Objekte außerhalb der Milchstraßenebene zu analysieren, und dies haben E. Poggio, R. Drimmel et al. in ihrer Arbeit Warped kinematics of the Milky Way revealed by Gaia [2] getan. Dazu haben sie sowohl junge Sterne (Hauptreihensterne der Klassen O, B und A) als auch alte Sterne (Riesen) separat betrachtet, denn die jungen Sterne zeichnen die Sternenstehungsgebiete nach, die alten Sterne die Verteilung der Sterne insgesamt.
Das Problem ist, dass nur für einen Bruchteil der DR2-Sterne eine Spektralklassifikation vorliegt. Wenn man aber alleine nach der Farbe der Sterne laut Gaia-Messungen vorgeht, kann man durch die Extinktion des Sternenlichts in Staubwolken, welche blaues Licht besonders stark verschlucken und somit die Sternenfarbe verändern, getäuscht werden. Um dieses Problem zu vermeiden, verknüpften die Autoren die Sterne mit Helligkeitsmessungen aus dem 2MASS-Projekt in den Infrarotbändern J (1235 nm), H (1662 nm) und Ks (2159 nm; sichtbares Licht liegt zwischen 400 und 750 nm), denn infrarotes Licht wird von Staub kaum absorbiert. Durch Gegenüberstellung der Farbindizes J-H vs. G-Ks oder J-Ks vs. G-Ks (G ist die Gaia-Helligkeit, die in etwa der visuellen Helligkeit entspricht) in einem Zweifarbendiagramm findet man die blauweißen OBA-Sterne in der linken unteren Ecke (J-Helligkeit klein/heller gegenüber H-Helligkeit: unten; G klein gegenüber Ks: links) und die Riesen rechts oben (Bild unten).
![Plot der Gaia-Sterne (rötliche Töne) im Zweifarben-Diagramm. Auf der x-Achse der Farbindex aus Gaia-Helligkeit (sichtbares Licht) 2MASS-Helligkeit im infraroten Ks-Band. Heißere Sterne liegen links. Auf der y-Achse der Farbindex aus den infraroten Bändern J und H. Heißere Sterne liegen unten. Die Überlagerung mit bekannten OB-Sternen (blaue Punkte) und Riesen (grüne Punkte) aus dem Tycho-2 Spektralkatalog (T2STC) zeigt, dass die OB-Sterne links unten und die Riesen rechts oben liegen. Die gestrichelten Linien zeigen, wo die Autoren ihre Selektionsgrenzen zur Auswahl der Sterne ansetzten. Bild: [2]](https://i2.wp.com/scienceblogs.de/alpha-cephei/files/2018/06/Sternfarben.jpg?resize=598%2C297&ssl=1)
Plot der Gaia-Sterne mit 2MASS-Helligkeiten (rötliche Töne; je dunkler, desto mehr Sterne) im Zweifarben-Diagramm. Auf der x-Achse der Farbindex aus Gaia-Helligkeit G (sichtbares Licht) und 2MASS-Helligkeit im infraroten Ks-Band. Heißere Sterne liegen links. Auf der y-Achse der Farbindex aus den infraroten Bändern J und H. Heißere Sterne liegen unten. Die Überlagerung mit bekannten OB-Sternen (blaue Punkte) und Riesen (grüne Punkte) aus dem Tycho-2 Spektralkatalog (T2STC) zeigt, dass die OB-Sterne links unten und die Riesen rechts oben liegen. Die gestrichelten Linien zeigen, wo die Autoren ihre Selektionsgrenzen zur Auswahl der Sterne ansetzten. Bild: [2]
Bewaffnet mit diesen Stichproben analysierten die Autoren die Bewegungen der Sterne senkrecht zur Milchstraßenebene. In den Bildern unten schaut man von oben auf die Milchstraßenebene, deren Zentrum bei (x=0; y=0) auf halber Höhe der y-Achse liegt. Die Sonne befindet sich an der Stelle des kleinen schwarzen Kreuzes in der Mitte der Bilder. Die inneren 5 kpc wurden aus Gründen der Ungenauigkeit in der Bestimmung der vertikalen Geschwindigkeit ausgeblendet – hier mussten Annahmen über die Rotationskurve der Milchstraße mit einfließen, da für die meisten Sterne keine Radialgeschwindigkeit im DR2-Katalog eingetragen war, und die ist im inneren Teil komplexer als weiter außen. Das linke Bild zeigt die OBA-Hauptreihensterne, das rechte die alten Riesensterne. Die Plots kodieren die mittleren Geschwindigkeiten der Sterne senkrecht zur Milchstraßenebene in jedem Pixel farblich: rot steht für eine Bewegung nördlich aus der Milchstraßenebene heraus, blau für südlich. Man sieht, dass bei großen Radien (rechts in den Bildern) die Sterne eine hohe Geschwindigkeit (rot) nach Norden aus der Milchstraßenebene hinaus zeigen.
![Draufsicht auf die Milchstraßenben zentriert um die Sonne (Kreuz). Die Farbe gibt die mittlere Geschwindigkeit senkrecht zur Milchstraßenebene an (rot: Bewegung in nördliche Richtung/positive galaktische Breite, blau: südliche Richtung/negative Breite). Bild: [2]](https://i2.wp.com/scienceblogs.de/alpha-cephei/files/2018/06/Vertikale_Geschwindigkeiten.jpg?resize=601%2C227&ssl=1)
Draufsicht auf die Milchstraßenebene zentriert um die Sonne (Kreuz). Die Farbe gibt die mittlere Geschwindigkeit senkrecht zur Milchstraßenebene an (rot: Bewegung in nördliche Richtung/positive galaktische Breite, blau: südliche Richtung/negative Breite). Links: junge OBA-Hauptreihensterne, rechts: alte Riesensterne. Bild: [2]
Was löst Supernovae vom Typ Ia aus?
Eine sehr spannende Arbeit beschäftigt sich mit Typ Ia Supernovae, die so wichtig sind für die Bestimmung kosmologischer Entfernungen. Die üblichen Kernkollaps-Supernovae massiver Sterne über 8 Sonnenmassen fallen unter die Bezeichnungen II (Wasserstoff im Spektrum sichtbar) und Ib oder Ic (kein Wasserstoff, Vorläuferstern hatte seine Wasserstoffhülle vor der Explosion verloren). Der Typ Ia zeigt ebenfalls keinen Wasserstoff und wird nicht durch Kernkollaps massiver Sterne, sondern die Explosion Weißer Zwerge von knapp 1,4 Sonnenmassen ausgelöst. Da die Ia-Explosionen sich stark ähneln, eignen sie sich als Standardkerzen zur Entfernungsbestimmung über rund den halben Durchmesser des beobachtbaren Universums.
Tatsächlich weiß man recht wenig über den Mechanismus, warum weiße Zwerge zu Supernovae explodieren. Das Standardmodell sieht vor, dass ein Weißer Zwerg, der hauptsächlich aus Kohlenstoff und Sauerstoff besteht, von einem Riesen begleitet wird, der sich im Laufe seiner Entwicklung über die sogenannte Roche-Grenze hinaus aufgebläht hat, jenseits derer die Schwerkraft des Weißen Zwergs stärker als die des Riesen wird, so dass Material vom Riesen zum Weißen Zwerg hinüberfließen kann. Das Material sammelt sich eine Weile an, führt möglicherweise zu ein paar Nova-Ausbrüchen (kurzfristig setzt Fusion in dem aufgesammelten Wasserstoffgas ein – der Weiße Zwerg hat selbst so gut wie keinen Wasserstoff mehr), bis irgendwann knapp unterhalb der Chandrasekhar-Masse von 1,4 Sonnenmassen, die Weiße Zwerge und Neutronensterne scheidet, konvektive Kohlenstofffusion im Inneren des Weißen Zwergs einsetzt, die den Druck im Stern dramatisch steigen lässt, so dass er als Supernova explodiert.
Das Problem ist: warum findet man die Begleitsterne solcher Supernovae nicht? Sie müssten nach der Explosion des Weißen Zwergs, die ihn vollständig zerstört, eigentlich mit erhöhter Geschwindigkeit dem Supernovaüberrest, also der expandierenden Explosionswolke, die noch ein paar tausend Jahre lang auffindbar ist, entfliehen. Solche weggeschleuderten Begleiter hat man nie aufspüren können.
Es gibt aber auch andere vorgeschlagene Szenarien, die von Ken. J. Shen, Douglas Boubert et al. in ihrer Arbeit [3] vorgestellt werden.
Zum einen bezüglich des Detonationsmechanismus: statt der einmaligen Zündung der Kohlenstofffusion könnte auch eine an der Oberfläche explosionsartig einsetzende Helium-Fusion ähnlich wie bei einer Nova dafür sorgen, dass die tiefer gelegenen Schichten aus Kohlenstoff und Sauerstoff in einem zweiten Schritt zünden und der Stern insgesamt explodiert. Dieses Szenario nennt sich Doppel-Detonation.
Zum anderen bezüglich des Begleiters: dieser könnte auch selbst ein Weißer Zwerg sein, der seinen massiveren Begleiter eng umkreist; bereits vor einer Kollision kann Materie vom kleineren Weißen Zwerg auf den massiveren überfließen und dessen Explosion auslösen, so dass es zu keiner Verschmelzung kommt. Dieses Szenario nennt sich doppelt-entartet (Weiße Zwerge bestehen aus entarteter Materie, englisch degenerate matter, daher double-degenerate scenario).
Wenn der kleinere Weiße Zwerg viel Helium an der Oberfläche enthält, kann er genau das Helium liefern, das eine Doppel-Detonation und damit die Supernova auslöst. Wenn Nova-Ausbrüche das System in eine expandierende Gaswolke einhüllen, die die kreisenden Sterne abbremst, würde sich der Massentransfer weiter beschleunigen und schließlich exponentiell wachsen, was eine Supernova auslösen würde – dieses kombinierte Szenario bezeichnen die Autoren selbstironisch als dynamically driven double-degenerate double detonation – D6!
Die Frage ist, ob ein Weißer Zwerg als Begleiter eine Supernova des Hauptsterns überstehen könnte. Wenn dies nicht so wäre und er zerstört würde, sollte er einen asymmetrischen Torus um den explodierenden Stern bilden und die Explosionreste sollten entsprechend asymmetrisch fortschleudern – weniger Material in Richtung der dicksten Stelle des Torus. Außerdem müsste man den Sauerstoff des Sternenrests des Begleitsterns als Emissionslinie sehen. Beides wurde aber nie bei Supernovaüberresten beobachtet. Wenn aber der Begleiter die Explosion folglich überlebt, müsste er ebenfalls aus dem Supernovarest geschleudert werden. Weil Weiße Zwerge nur erdgroß sind, umkreisen sie sich erheblich enger und schneller als in einem System aus einem Riesen und einem Weißen Zwerg, bevor es zu einem Massentransfer kommen kann, und der fliehende Weiße Zwerg wäre entsprechend schneller unterwegs und weiter weg von der Quelle zu finden – 1000 -2500 km/s werden erwartet (Bild unten). Nach genau solchen Sternen haben die Autoren im DR2 gesucht und wurden fündig!
![Umlaufgeschwindigkeiten von verschiedenen Begleitsternen eines Weißen Zwergs beim Beginn des Materietransfers über die Roche-Grenze (Roche Lobe Overflow, RLOF). x-Achse: Masse des Begleitsterns, y-Achse: Orbitalgeschwindigkeit. Grün: Zwerge auf der Hauptreihe, violett: Riesensterne (Heliumbrennen im Kern), rot: leichte Weiße Zwerge aus Helium, blau: massive Weiße Zwerge aus Kohlenstoff und Sauerstoff. Bild: [3]](https://i1.wp.com/scienceblogs.de/alpha-cephei/files/2018/06/RLOF-Umlaufgeschw.jpg?resize=601%2C596&ssl=1)
Umlaufgeschwindigkeiten von verschiedenen Begleitsternen eines Weißen Zwergs zu Beginn des Materietransfers über die Roche-Grenze (Roche Lobe Overflow, RLOF). x-Achse: Masse des Begleitsterns, y-Achse: Orbitalgeschwindigkeit. Grün: Zwerge auf der Hauptreihe, violett: Riesensterne (Heliumbrennen im Kern), rot: leichte Weiße Zwerge aus Helium, blau: massive Weiße Zwerge aus Kohlenstoff und Sauerstoff. Bild: [3]
Die drei Sterne wären somit die schnellsten bisher bekannten Objekte mit Ausnahme einiger Pulsare, die von der asymmetrischen Explosion ihrer Supernovae auf extreme Geschwindigkeiten beschleunigt wurden. Die Autoren verfolgten die Bahnen der Sterne zurück und keine von ihnen kam aus Richtung des galaktischen Zentrums, von wo aus gelegentlich durch das supermassereiche Schwarze Loch Sagittarius A* getrennte Doppelsternpartner auf hohe Geschwindigkeiten beschleunigt werden. Einer der drei Kandidaten, genannt D6-2, ließ sich sogar zu einem potenziellen Supernova-Überrest einer mutmaßlichen Typ Ia-Supernova zurückverfolgen (Artikelbild ganz oben) – für die beiden anderen fand sich kein solcher Überrest, diese waren womöglich bereits im interstellaren Medium zerstreut. Die Beobachtung der drei Hochgeschwindigkeitssterne spricht jedoch definitiv für das D6-Szenario als Explosionsursache der Typ-Ia-Supernovae. Zukünftige Gaia-Datenreleases mit geringeren Unsicherheiten in der Parallaxe werden vermutlich weitere Kandidaten aufstöbern und könnten so die D6-Theorie untermauern.
Wenn die Nachbarschaft auf Besuch kommt…
…muss das nicht immer eine gute Nachricht sein. Das gilt jedenfalls für unser Sonnensystem. Der Stern Gliese 710, derzeit 62 Lichtjahre entfernt im Schwanz der Schlange (Serpens Cauda) ist schon seit Gaia Datenrelease 1 dafür bekannt, dass er geradewegs auf das Sonnensystem zuhält und in 1,35±0,05 Millionen Jahren in nur 13400±6250 AE Entfernung von der Sonne mitten durch die innere Oortsche Wolke düsen wird, ein riesiges Reservoir von Kometenkernen und Quelle der langperiodischen Kometen, welches das Sonnensystem höchstwahrscheinlich in 10.000-100.000 AE umschließt. Dies dürfte dort einige Kometenkerne in Richtung auf das innere Sonnensystem und potenziellem Kollisionskurs mit der Erde lenken. Die Dinosaurier lassen schön grüßen. Dieses Ergebnis wurde mit DR2 bestätigt [4]: Gliese 710 kommt demnach sogar auf 10700±2100 AE der Sonne nahe, und das schon in 1,28±0,05 Millionen Jahren. Da die Daten einer gewissen Streuung unterliegen, ist mit geringer Wahrscheinlichkeit gar eine Annäherung auf 4300 AE in 1,29 Millionen Jahren denkbar.
Coryn Bailer-Jones und andere suchten im DR2 nach weiteren Kandidaten für Annäherungen an das Sonnensystem, wie sie in einer anderen Arbeit [5] darlegen. Dabei suchten sie nur unter den 7,2 Millionen der insgesamt 1,7 Milliarden DR2-Sterne, für die alle Positions- und Bewegungswerte (insbesondere die Radialgeschwindigkeit aus dem Spektrum) vorlagen, d.h. sie betrachteten nur eine winzige Stichprobe aller Gaia-Sterne. Selbst unter den 1,7 Milliarden Sternen insgesamt werden nicht alle Braunen Zwerge sein, die uns in den nächsten Millionen Jahren begegnen werden, weil diese schon in geringen Entfernungen zu lichtschwach für Gaia sind. Dennoch fanden die Autoren 26 Sterne, die sich der Sonne in einem Zeitraum von 15 Millionen Jahren auf weniger als 1 pc (3,26 Lichtjahre, 206.000 AE) nähern bzw. genähert haben. 8 davon kommen oder kamen näher als 0,5 pc (103.000 AE) und 3 näher als 0,25 pc (56.500 AE). Unter diesen befindet sich auch Gliese 710; keiner der anderen Sterne rückt uns allerdings so nahe auf die Pelle wie jener, der laut Bailer-Jones’ Analyse zwar nur mit 95% Wahrscheinlichkeit näher als 17000 AE kommen soll, jedoch definitiv den größten Einfluss aller 26 Besucher auf die Oortsche Wolke haben wird. Alle anderen 25 Sterne waren bisher noch nicht als Besucher des Sonnensystems bekannt.
Unter Berücksichtigung der beschränkten Datenauswahl extrapolieren Bailer-Jones und Kollegen, dasssich im Mittel etwa 500 Sterne (491±54) dem Sonnensystem binnen einer Million Jahren auf weniger als 5 pc nähern, und 20 auf weniger als 1 pc. Das ist doppelt so viel Besuch der stellaren Art wie in einer früheren Arbeit von 2001 aufgrund der Hipparcos Daten geschätzt worden war (11,7±1,3/MJahr innerhalb 1 pc).
Kollege Computer findet 54 neue offene Sternhaufen
Zuletzt noch kurz eine Arbeit über offene Sternhaufen, die Kinderstuben der Sterne. Schon für DR1 hatte ein Team um T. Cantat-Gaudin ein Stück Code namens UPMASK geschrieben (Unsupervised Photometric Membership Assignment in Stellar Clusters; und ja, “Clusters” mit “C”), das innerhalb der Gaia-Daten automatisch anhand von Überdichten der Sternverteilung, gemeinsamen Entfernungen und Eigenbewegungen nach offenen Sternhaufen suchte. Dieses Programm ließen sie nun über die DR2-Datenbank laufen [6]. Der Computer spuckte nicht weniger als 1212 offene Sternhaufen aus, von denen 54 bisher unbekannt waren. Diese waren teilweise mit bekannten Haufen optisch verschmolzen und daher war ihre Eigenständigkeit bisher übersehen worden.
Sie ermittelten auch gleich Farb-Helligkeits-Diagramme der Sternhaufen und ordneten ihnen unter Zuhilfenahme von Literaturquellen ihr Alter zu.
In den Bildern unten sieht man die Verteilung der Sternhaufen in der galaktischen Ebene. Die Sonne befindet sich in der Mitte der Koordinatensysteme. Im linken Bild sind die neu entdeckten Sternhaufen gelb hervor gehoben und die Position der Spiralarme ist markiert. Die Spiralarme der Milchstraße sind bekanntlich die Zonen, in denen neue Sterne entstehen, und die durch die kurzlebigen, sehr hellen OB-Sterne optisch hervortreten, obwohl sie keinesfalls mehr Sterne enthalten als die Zonen zwischen den Spiralarmen. Da Sternentstehung offene Sternhaufen hervorbringt, findet man diese gehäuft in den Spiralarmen, wie das linke Bild zeigt. Im rechten Bild ist das Alter der Sternhaufen farblich codiert, die dunklen Sternhaufen sind die jüngsten. Hier zeigt sich, dass die jungen Sternhaufen erwartungsgemäß die Spiralarme nachzeichnen. Die Verteilung älterer Sternhaufen ist gleichförmiger.
![Offene Sternhaufen in der galaktischen Ebene. Links: die Positionen bekannter (schwarz) und neu entdeckter (gelb) Sternhaufen in der Umgebung der Sonne (Mitte des Bildes). Die nächsten Spiralarme der Milchstraße sind unterlegt; dort finden sich überdurchschnittlich viele Sternhaufen. Rechts: Das Alter der Sternhaufen logarithmisch farbcodiert (gelb: 2 Milliarden Jahre, dunkelblau: 30 Millionen Jahre). Die jüngsten Sternhaufen befinden sich erwartungsgemäß in den Spiralarmen. Bild: [6]](https://i2.wp.com/scienceblogs.de/alpha-cephei/files/2018/06/Offene_Sternhaufen.jpg?resize=1589%2C683&ssl=1)
Offene Sternhaufen in der galaktischen Ebene. Links: die Positionen bekannter (schwarz) und neu entdeckter (gelb) Sternhaufen in der Umgebung der Sonne (Mitte des Bildes). Die nächsten Spiralarme der Milchstraße sind unterlegt; dort finden sich überdurchschnittlich viele Sternhaufen. Rechts: Das Alter der Sternhaufen logarithmisch farbcodiert (gelb: 2 Milliarden Jahre, dunkelblau: 30 Millionen Jahre). Die jüngsten Sternhaufen befinden sich erwartungsgemäß in den Spiralarmen. Bild: [6]
Referenzen
[1] Laura L. Watkins, Roeland P. van der Marel, Sangmo Tony Sohn, N. Wyn Evans, “Evidence for an Intermediate-Mass Milky Way from Gaia DR2 Halo Globular Cluster Motions“, submitted to AAS Journals, arXiv:1804.11348.
[2] E. Poggio, R. Drimmel et al., “Warped kinematics of the Milky Way revealed by Gaia“, submitted to MNRAS, arXiv:1805.03171.
[3] Ken J. Shen, Douglas Boubert et al., “Three Hypervelocity White Dwarfs in Gaia DR2: Evidence for Dynamically Driven Double-Degenerate Double-Detonation Type Ia Supernovae“, submitted on 30 Apr 2018, arXiv:1804.11163.
[4] Raúl de la Fuente Marcos, Carlos de la Fuente Marcos, “An independent confirmation of the future flyby of Gliese 710 to the solar system using Gaia DR2“, submitted on 7 May 2018, arXiv:1805.02644.
[5] C.A.L. Bailer-Jones, J. Rybizki, R. Andrae, M. Fouesneau, “New stellar encounters discovered in the second Gaia data release“, submitted to Astronomy & Astrophysics Magazine, arXiv:1805.07581.
[6] T. Cantat-Gaudin, C. Jordi et al., “A Gaia DR2 view of the Open Cluster population in the Milky Way“, submitted to Astronomy & Astrophysics Magazine, arXiv:1805.08726 .
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