Im Artikel NGC 1052-DF2 – Leuchtende Aussichten für Dunkle Materie hatte ich über eine Arbeit berichtet, in der Pieter van Dokkum behauptete, eine Galaxie gefunden zu haben, die so gut wie keine Dunkle Materie enthalte. Da Galaxien üblicherweise zum größten Teil aus Dunkler Materie bestehen, wäre dies ein Beleg dafür, dass die Gravitation, die Galaxien zusammen hält und die – jedenfalls gemäß Newton und Einstein – nicht durch die sichtbare Masse von Sternen und Gas erklärbar ist, wirklich einer nicht sichtbaren Materieform zuzuschreiben ist, denn wäre sie nur von der leuchtenden Masse und vom Abstand abhängig, wovon modifizierte Gravitationstheorien ausgehen, dann dürften Galaxien ähnlicher Größe und mit ähnlicher Leuchtkraft nicht unterschiedliche Massen haben. Die Masse erschloss van Dokkum aus der Bewegung der Kugelsternhaufen um die Galaxie. Die Galaxie Dragonfly 44 von ähnlicher Größe, die van Dokkum zuvor entdeckt hatte, erschien bei gleicher Leuchtkraft wesentlich massereicher.
Außergewöhnliche Behauptungen benötigen außergewöhnliche Belege
Die Arbeit war sofort kritisiert worden. Die Datenbasis von lediglich 10 Kugelsternhaufen sei zu klein. Die Entfernungsbestimmung sei zu ungenau; die Rotverschiebung der Galaxie könne auch eine Pekuliarbewegung (Bewegung der Galaxie in Bezug auf benachbarte Galaxien) beinhalten, sie ist kosmologisch gesehen nicht sehr weit weg, so dass die Expansion des Weltalls die Pekuliarbewegung dominieren würde. Die Kugelhaufen könnten auch in einer Ebene um die Galaxie kreisen und man sähe nur einen kleinen Teil ihrer Bewegung im Spektrum, wenn die Ebene fast senkrecht zur Blickrichtung läge. Außerdem seien sie viel zu hell – van Dokkum hatte sogar eine zweite Arbeit darüber geschrieben, wie ungewöhnlich hell sie sind. Die Kritik war sicher nicht unberechtigt, aber die Methodik zu kritisieren ist das eine, eigene Messungen anzustellen ist etwas ganz anderes.
Genau das haben Ignacio Trujillo und 12 andere Wissenschaftler aus Spanien, Chile, Portugal, Australien und Frankreich getan und in einer kürzlich eingereichten Arbeit veröffentlicht. Sie kommen zu dem Schluss, dass NGC 1052-DF2 nur 13 Mpc (statt über 20, wie von van Dokkum bestimmt) entfernt sei und behaupten, damit alle Anomalien der Galaxie erklären zu können. Schauen wir uns einmal ihre Ergebnisse an.
50 Shades of Galaxienentfernungsbestimmung
Die Forscher haben sich alle öffentlich verfügbaren Daten und Aufnahmen der Galaxie besorgt, die sie auftreiben konnten, vom Sloan Digital Sky Survey über Gemini und WISE bis zum Hubble-Weltraumteleskop. Mit Bildverarbeitungstechniken haben sie die Galaxie vom Hintergrund isoliert, die Extinktion durch Staub in der Milchstraße bestimmt und kompensiert und die Helligkeit in absoluten Einheiten bestimmt. Mit Hubble-Aufnahmen gelang ihnen sogar die Identifizierung einzelner Sterne, die von Software-Tools automatisch extrahiert und vermessen wurden. Zwar fanden sie keine Cepheiden (es gab auch nur einzelne Aufnahmen), aber aus den so bestimmten Daten konnten sie mit 5 anderen Methoden die Entfernung unabhängig von der Rotverschiebung ableiten, die ich nun vorstellen möchte, um zu illustrieren, auf welch unterschiedliche Weisen man Entfernungen von Galaxien bestimmen kann.
1. Farb-Helligkeits-Entfernung
Wenn man ein Farb-Helligkeits-Diagramm vieler Sterne eines Sternhaufens oder einer Galaxie aufstellt, kann man die Lage der Hauptreihe und der Riesen ermitteln und damit den Entfernungsmodul, die Differenz aus scheinbarer und absoluter Helligkeit, aus dem die Entfernung folgt. Über die riesige Entfernung zu NGC 1052-DF2 sind nur noch die größten Riesen als Einzelsterne erkennbar (Bild unten), deshalb sieht das Farb-Helligkeitsdiagramm etwas ungewohnt aus, man sieht nur die obere rechte Ecke (zum Vergleich: Hipparcos-Sterne). Aber immerhin 3500 Sterne sind abgebildet. Verglichen mit einer künstlichen Population (rot) zeigt sich die beste Übereinstimmung für ca. 12 Mpc Entfernung (wobei selbst die 16 Mpc näher sind als van Dokkums bestimmte ca. 20).
Noch genauer wird das Ergebnis, wenn man nach der Spitze des Riesenastes sucht, da wo die Heliumfusion einsetzt und die Sterne sich nach unten links weiterentwickeln, da das Schalenbrennen erlischt. Diese liegt nämlich bei einer bestimmten absoluten Helligkeit. Aus der Differenz zur beobachteten Helligkeit folgt die Entfernung. Durch weitere Datenverarbeitung kitzelten die Autoren diese Spitze aus den Daten heraus und fanden eine Entfernung von 13,12±0,72 Mpc.
2. Mittlere Helligkeit der Kugelsternhaufen
Anstatt die Kugelhaufen von NGC 1052-DF2 wie van Dokkum als pathologisch zu betrachten, kann man sie auch einfach als normale Kugelsternhaufen einordnen und aus deren üblicher Helligkeit und Größe eine Entfernung ableiten. Zwar sind nicht alle Kugelsternhaufen gleich hell, aber wenn man die glockenförmige Verteilung der Anzahl der Sternhaufen über deren Helligkeiten aufträgt, dann liegt das Maximum bei einer absoluten visuellen Helligkeit von etwa -7,5m. Die Autoren konnten mit Software-Hilfe neben den 11 Kugelsternhaufen1 von van Dokkum noch 8 weitere identifizieren, darunter einer, der heller als die 11 bekannten ist, sowie mehrere deutlich lichtschwächere. Das Maximum der Glockenkurve (Bild unten; vor der Umrechnung auf visuelle Helligkeit) fanden sie bei 22,94m, entsprechend einem Entfernungsmodul von 30,60 und einer Entfernung von 13,2+1,1/-1,7 Mpc. Werden nur die 11 von van Dokkum gefundenen Kugelsternhaufen verwendet, kommt als Entfernung sogar ein noch kleinerer Wert (11,3+2,8/-0,9 Mpc) heraus, denn diese 11 Kugelhaufen sind im Durchschnitt etwas heller als die 8 neuen.
3. Mittlerer Durchmesser der Kugelsternhaufen
Ähnlich wie mit den Helligkeiten kann man auch mit den Größen der Kugelhaufen verfahren. Die durchmessen bei Zwerggalaxien im Mittel 4,3±0,2 pc. Die der Milchstraße sind etwas kleiner und kugelförmiger; die Abplattung der Kugelhaufen von NGC 1052-DF2 passt jedoch hervorragend zu derjenigen bei Zwerggalaxien. Vergleicht man die mittlere Größe der 19 Kugelhaufen von NGC 1052-DF2 mit diesem Standardlineal, so ergibt sich eine Entfernung 12,4+1,4/-1,2 Mpc. Nur beschränkt auf die van-Dokkum-Kugelsternhaufen sind es gar nur 11,6±1,5 Mpc.
4. Oberflächenhelligkeits-Fluktuation
Diese Methode wurde auch in der Arbeit von van Dokkum verwendet: die Einzelsterne einer fernen Galaxie werden auf CCD-Aufnahmen nicht mehr aufgelöst (bis auf einzelne Riesen, die ihr Pixel dominieren), aber sie sind auch nicht vollkommen gleich verteilt über die Pixel. Eine gewisse Unregelmäßigkeit (Fluktuation; surface brightness fluctuation, SBF) zwischen den einzelnen Pixeln bzw. Gruppen von Pixeln verbleibt. Je stärker ausgemittelt diese Fluktuationen erscheinen, desto weiter ist die Galaxie entfernt; so in etwa wie die Faserung einer Rauhfasertapete, die mit zunehmender Betrachtungsentfernung kleiner und gleichmäßiger erscheint. Van Dokkum ermittelte 19,0±1,7 Mpc mit dieser Methode. Die Fluktuationen sind nicht für alle Farben, die eine Galaxie haben kann, gleich (rötlicher = älter, keine Sternentstehung mehr). Die Autoren argumentieren, dass van Dokkum die Farbe (Farbindex aus den beiden Helligkeiten im grünen und infraroten Bereich) nicht korrekt bestimmt hat und bei der Bestimmung der mittleren Fluktuationsamplitude eine Kalibrierungsformel für rötlichere Galaxien weit außerhalb ihres gültigen Bereichs verwendet hat; die Galaxie sei blauer als der zulässige Bereich der Formel. Sie selbst kommen mit einer anderen Formel, die besser auf die Farbe der Galaxie zugeschnitten ist, auf 14,7±1,7 Mpc.
5. Entfernung gemäß der Fundamentalebene
Der effektive Radius einer Galaxie ist derjenige, bei dem die Flächenhelligkeit auf die Hälfte abgefallen ist, denn die Galaxie hat keinen scharfen Rand, sondern wird nach außen diffuser und lichtschwächer. Was den Sternen die Hauptreihe im Farb-Helligkeits-Diagramm ist, ist den Galaxien die Fundamentalebene in einem Diagramm, das die Streuung der Geschwindigkeiten der Sterne σe innerhalb des effektiven Radius (Geschwindigkeitsdispersion), die mittlere Flächenhelligkeit < μe > im effektiven Radius und den effektiven Radius Re selbst in Beziehung setzt. Das sind drei Größen, also hat man es mit einem dreidimensionalen Diagramm zu tun. Bei elliptischen Galaxien, den Kernen (Bulges) von Spiralgalaxien, aber auch Kugelsternhaufen und Galaxienhaufen, bewegen sich die Sterne wie Teilchen in einem Gas durcheinander, das einen gewissen Druck hat, statt wie in den Spiralarmen in der gleichen Bahnebene zu kreisen. Bei solchen druckstabilisierten Konfigurationen liegen die Galaxien alle in ungefähr der gleichen Ebene im Diagramm, der sogenannten Fundamentalebene (ein paar Illustrationen davon findet man hier), was sich auch theoretisch begründen lässt, aber hier zu weit führen würde.
Kennt man also die beiden Parameter σe und < μe >, kann man den effektiven Radius aus dem Diagramm ablesen und erhält so ein Standardlineal. Aus dem Winkeldurchmesser und dem Radius folgt dann die Entfernung. Die Geschwindigkeitsdispersion und Flächenhelligkeit (welche nicht von der Entfernung abhängt) waren in der Arbeit von van Dokkum bereits gemessen worden. Die Autoren leiten eine Entfernung von 12±3 Mpc ab, nicht furchtbar genau, aber sehr gut zu den anderen Entfernungen passend:
Und was ist mit der Rotverschiebung?
Van Dokkum hatte die Kritik an seiner Entfernungsbestimmung damit gekontert, dass die Galaxie, wenn sie wesentlich näher wäre, ungewöhnlich schnell unterwegs sein müsste, denn dann würde ein kleinerer Anteil ihrer Radialgeschwindigkeit auf die kosmische Expansion entfallen und müsste stattdessen eine Pekuliarbewegung der Galaxie gegenüber ihren Nachbarn sein. Für 8 Mpc zitiert van Dokkum eine Geschwindigkeit von 1200 km/s. Folgt man der Entfernungsbestimmung der Autoren in der hier betrachteten Arbeit und rechnet man die Pekuliarbewegung der Erde in Bezug auf die kosmische Hintergrundstrahlung heraus, dann kommen die Autoren auf 640±25 km/s Pekuliarbewegung von NGC 1052-DF2, was schon deutlich weniger ist. Die Autoren haben sich die Galaxien in der Umgebung (bis 1,75 Mpc Radius) angeschaut und fanden, dass deren Geschwindigkeiten über einen weiten Bereich streuen. Im Mittel bewegen sich die Galaxien dort mit -230 km/s relativ zur kosmischen Expansion, anstatt mit 0, und die Extremwerte liegen zwischen -1400 km/s und +700 km/s. Die +640 km/s sind also hoch, aber noch im Rahmen. In dieser Gegend bewegen sich die Galaxien recht turbulent. Daher kann die Pekuliargeschwindigkeit nicht als Argument gegen die geringe Entfernung verwendet werden.
Was bleibt übrig von van Dokkum?
Wir haben bereits gelernt, dass Entfernung in der Astronomie alles ist, und so kann die neue Entfernung weit reichende Konsequenzen haben. Trujillo et al. haben daher die gravitative Galaxienmasse mit der gleichen Methode wie van Dokkum neu bestimmt (siehe ersten Artikel). Da die Galaxie näher ist, ist sie kleiner und damit die leuchtende Masse geringer. Außerdem können mehr Kugelhaufen und damit auch die Masse innerhalb von mehr Radien gemessen werden (vgl. die Massenbestimmung der Milchstraße). Van Dokkum fand 320 und 340 Millionen Sonnenmassen innerhalb von 3,1 bzw. 7,6 kpc, d.h. es ist kaum ein Halo vorhanden, der mit zunehmender Entfernung die eingeschlossene Masse erhöht.
Trujillo et al. haben die Massen für 5 verschiedene Entfernungen bestimmt und mit Methoden, wie wir sie bei der Massenbestimmung der Milchstraße kennen gelernt haben, daraus die Masse des mutmaßlichen Dunkle-Materie-Halos ermittelt (unten im Bild in Grün- bis Rottönen dargestellt sind Halo-Massenverteilungen gemäß Navarro, Frenk und White für verschiedene Gesamtmassen, als Zehnerexponenten ausgedrückt; für jede jeweils eine Unter- und Obergrenze). Außerdem bestimmten sie aus der Flächenhelligkeit und Größe eine Abschätzung für die leuchtende Masse der Sterne (blaue gestrichelte Linie mit zusätzlich Unter- und Obergrenze).
Für die Sternenmasse ergibt sich ein Wert von 60±36 Millionen Sonnenmassen – wesentlich weniger als die 200 Millionen, die van Dokkum aufgrund der größeren zugrunde gelegten Entfernung geschätzt hatte. Die am besten zu den Kugelhaufen passende Halo-Verteilung ergibt 109,1 = 1,26 Milliarden Sonnenmassen, wobei auch 108,5 = 316 Millionen oder 109,6 = 4 Milliarden möglich wären. In jedem Fall aber erheblich mehr, als die leuchtende Materie. Die Dunkle Materie ist zurück.
Ist NGC 1052-DF2 damit eine vollkommen normale ultra-diffuse Galaxie (UDG)? Nicht wirklich, ihr Verhältnis von leuchtender zu Dunkler Materie ist schon ungewöhnlich groß, aber sie ist auch kein Einzelfall, wie das letzte Bild zeigt. Die Galaxie IC1613 hat ein ähnliches Verhältnis. NGC 1052-DF2 liegt aber recht weit abseits.
Ist das ein Beleg für MOND?
Nein. Zwar kann man nicht mehr behaupten, NGC 1052-DF2 enthalte gar keine Dunkle Materie, aber wie man im Bild oben sieht variiert der Anteil Dunkler Materie bei verschiedenen Galaxien schon um 2 Zehnerpotenzen, einen Faktor 100. Und selbst wenn diese Galaxie ein völlig normales Verhältnis von leuchtender zu Dunkler Materie hätte, so fiele lediglich ein einziger Datenpunkt gegen modifizierte Schwerkrafttheorien weg.
Gerade erschien eine andere Arbeit, bei der die Masse einer Galaxie aus der Geschwindigkeitsdispersion der enthaltenen Sterne und unabhängig davon aus der Lichtbeugung einer Hintergrundgalaxie (Einsteinring) bestimmt werden konnte, und beide Massen kamen in gleicher Größe heraus, was belegt, dass die Allgemeine Relativitätstheorie hervorragend Gravitationsfelder auch in großen Abständen von Galaxien beschreibt – eine modifizierte Gravitationstheorie hätte hier einen Unterschied zur Relativitätstheorie aufzeigen müssen. Dunkle Materie ist also immer noch die beste Erklärung dafür, was Galaxien und Galaxienhaufen zusammenhält.
Referenz
[1] Ignacio Trujillo et al, “A distance of 13 Mpc resolves the claimed anomalies of the galaxy lacking dark matter“, eingereicht am 28.06.2018 bei Monthly Notices of the Royal Astronomical Society; arXiv:1806.10141.
1 In der mir zugänglichen arXiv-Version der van-Dokkum-Arbeit werden nur 10 Kugelhaufen erwähnt; aus der Arbeit hier schließe ich, dass es einen 11. gab, für den keine Radialgeschwindigkeit bestimmt wurde, und der offenbar in der Nature-Veröffentlichung aufgezählt wurde.
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