Den heutigen Artikel (bzw. eigentlich den folgenden 2. Teil…) wollte ich schon schreiben, als ich noch darüber grübelte, was ich wohl auf einem eigenen Blog schreiben könnte. Es geht um das Zwillingsparadoxon der speziellen Relativitätstheorie. Mit Martin Bäker hatte ich mal eine private Diskussion, in der er die Meinung vertrat, man erkläre es am besten mit einem Minkowski-Diagramm, während mir das Diagramm für Laien eher wenig intuitiv erscheint und ich statt dessen auf ein praktisches, durchgerechnetes Beispiel aus verschiedenen Perspektiven setzen würde. Nachdem Martin mit seinem Artikel The Good, the Bad, and the Ugly – die Erklärung(en) des Zwillingsparadoxons einen faktischen Undercut vorgelegt hat, in dem insbesondere das Rechnen eines Beispiels sehr schlecht wegkommt, lege ich hier mal nach – mit einem ebensolchen. Mal schauen, wie diese Erklärung bei den Lesern im Vergleich so ankommt.
Das Relativitätsprinzip
Beginnen wir heute zunächst mit einer kleinen Zusammenfassung der Grundaussage der speziellen Relativitätstheorie (RT), dem Relativitätsprinzip, das wir dann zum Zwillingsparadoxon weiter führen. Wer das alles schon kennt, kann den heutigen Artikel überspringen, sollte aber beim nächsten nochmal reinschauen, weil die Perspektive ungewohnt sein wird (und erhellend, wie ich finde).
Die ganze spezielle RT lässt sich aus einer einzigen Grundannahme ableiten:
Die Lichtgeschwindigkeit c=299.792.458 m/s erscheint in allen Inertialsystemen gleich groß.
Ein Inertialsystem ist dabei ein gleichförmig bewegtes, kräftefreies, also unbeschleunigtes Bezugssystem, das folglich der Bewegung seiner eigenen Massenträgheit folgt (lat. inertia = Trägheit). Das kann in erster Näherung1 ein Physik-Schulklassenraum sein, eine mit konstanter Geschwindigkeit fahrende Eisenbahn, die ISS oder ein gerade antriebslos fliegendes Raumschiff im weiten Weltraum.
Eine verschärfte Form des Relativitätsprinzips besagt:
Man kann in jedem Inertialsystem alle physikalischen Experimente durchführen und wird zu den gleichen Ergebnissen kommen.
Man kann ohne ein äußeres Bezugssystem also durch kein Experiment und keine Beobachtung erschließen, mit welcher Geschwindigkeit man sich bewegt, man kann seine Geschwindigkeit immer nur relativ zu einem anderen Objekt (respektive Bezugssystem) messen und kann dann selbst entscheiden, wer von beiden eigentlich in Ruhe ist (wenn überhaupt). Mehr noch: eine absolute Geschwindigkeit gibt es nicht. Nicht einmal die Differenzgeschwindigkeit zur Lichtgeschwindigkeit bietet einen Bezugspunkt.
Wenn man in einem fahrenden Zug einen Ball dribbelt, springt der Ball aus eigener Sicht senkrecht auf und ab. Von außen gesehen würde der Ball hingegen eine Zickzack-Linie vollführen, denn er bewegt sich mit dem Zug vorwärts, während er auf und ab springt. Der Ball würde sich außerdem von außen gesehen insgesamt viel schneller bewegen, denn zur Auf- und Ab-Geschwindigkeit addierte sich die Vorwärtsbewegung des Zuges hinzu.
Nun dachte man früher, das sei bei Licht ebenso. Wenn man die Lichtgeschwindigkeit etwa in Richtung der Erdbewegung um die Sonne messe, sollte sich die Bewegung der Erde zur Lichtgeschwindigkeit addieren, in Gegenrichtung subtrahieren und bei anderen Winkeln käme die Vektorsumme der Geschwindigkeiten heraus2. Zahlreiche Experimente haben jedoch ergeben, dass die Lichtgeschwindigkeit stets konstant erscheint. Auch von einer schnellen Rakete aus gesehen kommt das Licht von vorne nur mit c auf die Rakete zu, und ein von ihr ausgesandter Laserstrahl würde sie mit c verlassen, egal in welcher Richtung.
Diese Grundannahme, c=const., führt über ein Gedankenexperiment zwingend zu den Formeln der speziellen RT. Wenn c=const., dann sind die Folgerungen der speziellen RT unvermeidlich.
Die Lichtuhr
Analog zum gedribbelten Ball in der Bahn denke man sich zwei senkrecht übereinander montierte horizontale Spiegel, deren Spiegelflächen aufeinander zu gerichtet seien. Zwischen den beiden Spiegeln werde ein Lichtstrahl hin und her reflektiert. Dies entspricht dem Prinzip einer Uhr: das Licht hat eine feste Geschwindigkeit und braucht für den festen Abstand der Spiegel eine feste Zeit t, um einmal von unten nach oben und zurück zu laufen. Zählt man die Augenblicke, in denen der Strahl zum gleichen Spiegel zurückkehrt, so hat man eine konstante Zeitbasis wie den Pendelschlag einer Wanduhr oder die Schwingung eines Taktquartzes in der Armbanduhr, daher heißt dieses hypothetische Konstrukt Lichtuhr.
Nehmen wir an, Angela (A) und Horst (H) seien zwei Beobachter, die sich mit großer Geschwindigkeit relativ zueinander bewegen, denn Horst befindet sich in einem sehr schnell fliegenden Raumschiff, das sich mit atemberaubender Geschwindigkeit v nach rechts bewege, während Angela auf der Erde in stoischer Ruhe verweile.
Horst habe eine Lichtuhr an Bord und Angela könne diese beobachten. Horst sieht seine Uhr ebenfalls ticken, und analog zum gedribbelten Ball bewegt sich der Lichtstrahl für ihn mit Lichtgeschwindigkeit c auf und ab. Für einen halben Schlag (einfache Strecke zwischen den Spiegeln) brauche sie die Zeit t’ (Bild unten, links).
Angela sieht hingegen, dass der Lichtstrahl einem Zickzack-Kurs folgt, während das Raumschiff sich mit der Geschwindigkeit v nach rechts bewegt (Bild oben, rechts). Der Lichtweg ist ganz offenbar länger, aber c ist gemäß aller durchgeführten Experimente konstant, folglich dauert ein Zeittick aus Angelas Sicht länger; nennen wir diese Zeit t. Die Verlangsamung des Zeitablaufs eines bewegten Beobachters wird Zeitdilatation genannt (lat. dilatare = dehnen).
Man kann aus diesem Konstrukt ganz einfach herleiten, wie sich die beobachtete Ganggeschwindigkeit von Horsts Uhr aus Angelas Sicht aus der Geschwindigkeit v ergibt, mit der Horst sich relativ zu Angela bewegt:
Aus Angelas Sicht bewegt sich die Lichtuhr in der Zeit t um die Strecke v·t nach rechts (Bild oben). Während der gleichen Zeit t legt der Lichtstrahl die Strecke c·t nach rechts oben zurück. Aus Horsts Sicht läuft der Strahl hingegen senkrecht nach oben in der Zeit t’, also legt er aus seiner Sicht die (kürzere) Strecke c·t’ zurück.
Wie groß t’ im Vergleich zu t ist, lässt sich mit dem Satz des Pythagoras ausrechnen, denn wie wir oben im Bild erkennen können, haben wir es mit einem rechtwinkligen Dreieck zu tun, und da gilt: die Summe der Quadrate über den kurzen Seiten (Katheten) ist so groß wie das Quadrat über der langen, dem rechten Winkel gegenüber liegenden Seite (Hypotenuse). Also ist (c·t’)2 + (v·t)2 = (c·t)2. Nach ein paar einfachen Umformungen, die man oben rechts im Bild findet, folgt t’ = t/γ, wobei γ (“Gamma”) der sogenannte Lorentzfaktor ist, benannt nach dem Physiker Hendrik Antoon Lorentz; zum Faktor wird γ, wenn man ihn auf die andere Seite der Gleichung holt: t’·γ=t.
γ hängt, wie in der letzten Zeile rechts unten im Bild zu sehen ist, von der Geschwindigkeit v und der Lichtgeschwindigkeit c ab. Für v deutlich kleiner als c ist γ geringfügig größer als 1 und t’ fast exakt gleich t, wie wir es im Alltag gewohnt sind. Wenn v sich jedoch c nähert, wächst γ schnell ins Unermessliche und für v=c gibt es keinen definierten Wert mehr: man kann die Lichtgeschwindigkeit nicht erreichen.
Für v=0,8c (rund 240.000 km/s) hat γ den Wert 5/3, d.h. nach obigem ist t’ = t ÷ (3/5) = t · 5/3 = 0,6 · t. D.h. Angela sieht Horsts Uhr mit nur 60% der Geschwindigkeit ihrer eigenen Zeitmessung ticken.
Wenn Horst jetzt beispielsweise bei Alpha Centauri (Entfernung: 4,3 Lichtjahre) vorbei fliegt, er sich relativ zur auf der Erde ruhenden Angela mit der Relativgeschwindigkeit v = 0,8c sieht und für ihn nur 60% der Zeit vergeht, dann erreicht er aus seiner Sicht Alpha Centauri natürlich nach 60% der Flugzeit, die Angela beobachten würde: Angela würde messen, dass Horst nach 4,3 LJ/0,8c = 5,375 Jahren am Ziel eintrifft. Horst würde aber behaupten, nur 5,375 J · 0,6 =3,225 Jahre unterwegs gewesen zu sein und somit auch nur 3,225 J · 0,8c = 2,58 LJ = 4,3 LJ · 0,6 zurück gelegt zu haben. Wenn also dem als ruhend betrachteten Beobachter die Zeit des relativ zu ihm bewegten Beobachters um 1/γ verlangsamt erscheint, dann erscheint dem bewegten Beobachter eine Strecke im Bezugssystem des ruhenden Beobachters um 1/γ verkürzt – so bekommt man die vermeintliche Zeitdifferenz auf dem Weg zu Alpha Centauri wieder mit der Entfernung aus beider Perspektiven in Einklang. Das Phänomen nennt sich relativistische Längenkontraktion. Übrigens sieht Angela auch Horsts Raumschiff auf 60% seiner Länge gestaucht. Die Richtungen senkrecht zur Bewegungsrichtung bleiben unverändert.
Das Zwillingsparadoxon
Aus der Zeitdilatation kommt man nun zum eigentlichen Problem, dem Zwillingsparadoxon. Im Original werden Zwillingsgeschwister betrachtet, weil sie gleich alt sind, und dann einer von ihnen auf einem Raumflug mit hoher Geschwindigkeit weniger altert als sein Geschwister. Vermutlich sind Angela und Horst keine bei der Geburt getrennten zweieiigen Zwillinge, aber uns geht’s ja nur um das Prinzip.
Horst ist also mit 0,8c in 3,225 Bordjahren nach Alpha Centauri geflogen, findet dort aber keine Migranten Aliens und kehrt unverzüglich mit der gleichen Geschwindigkeit zurück. Nach weiteren 3,225 Jahren seiner Bordzeit (insgesamt 6,45 Jahren Flugzeit) erreicht er wieder die Erde, aber für Angela sind in der Zwischenzeit zweimal 5,375 = 10,75 Jahre (siehe oben) vergangen. So weit, so gut.
Nun gilt aber das Relativitätsprinzip, demgemäß Horst mit gleichem Recht behaupten kann, er habe sich gar nicht bewegt, sondern Angela sei es, die erst mit -v nach links und später wieder mit v nach rechts rase. Demgemäß würde er Angelas Uhren verlangsamt laufen sehen. Das gilt auf dem Hin- und auf dem Rückflug – der Lorentzfaktor hat für v und -v die gleiche Größe. Aus dieser Sicht wäre Angela ja eigentlich jünger geblieben. Wie passt das unter einen Hut? Wie kann denn jeder vom anderen behaupten, dessen Uhr liefe langsamer? Das ist doch völlig paradox!
Wie sich in der speziellen Relativitätstheorie dieses Problem auflöst, folgt dann im 2. Teil. Wir werden das Problem aus drei Blickwinkeln betrachten und feststellen, dass es gar kein Problem gibt – alle werden sich einig darüber sein, wieviel Zeit bei Angela und Horst vergangen ist.
[Update 13.07.18:] Und weil das alles zu lang und unübersichtlich wurde, gibt’s noch einen tabellarischen, übersichtlicheren Teil mit allen Formeln und Bildern, aber weniger Text.
1 Natürlich herrscht auf der Erde Schwerkraft, so dass alle nicht frei fallenden, erdgebundenen Bezugssysteme in der Vertikalen keinesfalls Inertialsysteme sein können, aber in der horizontalen Ebene und unter Minimierung von Reibungskräften, Luftwiderstand und der Erdrotation kann man auch auf der Erde beschränkt Experimente wie in einem Inertialsystem machen.
2 Das hier angeschnittene Michelson-Morley-Experiment nahm an, das Licht bewege sich wie Wasserwellen durch ein Medium, den sogenannten “Äther”, und die Erde sei in Bewegung relativ zum Äther. Die Geschwindigkeit des Lichts in der Messapparatur hing aber nicht von der Richtung in Bezug auf die Erdbewegung ab, auch nicht jahreszeitlich bei verschiedenen Richtungen der Erdbewegung um die Sonne. Das Ergebnis wäre verträglich damit, dass entweder der Äther von der Erde lokal mitgezogen würde, oder wie beim im Zug gedribbelten Ball die Geschwindigkeit relativ zur bewegten Lichtquelle konstant wäre. Weitere Experimente (siehe Link im Haupttext) ergaben jedoch, dass beide Annahmen falsch waren.
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