Wir können einen dritten Erfolg der Multi-Messenger Astronomie feiern, d.h. der Entdeckung von Signalen eines kosmischen Objekts über grundverschiedene Informationsträger (derzeit verfügbar: elektromagnetische Wellen wie Licht, Radio- oder Röntgenstrahlung, Teilchenstrahlung wie Protonen oder Neutrinos, sowie Gravitationswellen). Nach der Supernova 1987A, die wenige Stunden nach der Registrierung eines kleinen Neutrino-Schauers im japanischen Kamiokande-Detektor auch optisch aufleuchtete, und nach dem Gravitationswellenereignis GW170817, dessen Nachweis durch LIGO und VIRGO das Aufspüren der Verschmelzung zweier Neutronensterne in einer über 100 Millionen Lichtjahre entfernten Galaxie in allen verfügbaren elektromagnetischen Bändern erlaubte, konnte nun ein Neutrinoereignis direkt seiner Quelle zugeordnet werden.
Kosmische Hämmer
Die kosmische Strahlung wurde schon vor mehr als 100 Jahren von dem deutschen Physiker (und Jesuiten) Theodor Wulf mit dem von ihm erdachten Elektrometer bei Versuchen am Eiffelturm entdeckt und kurz danach von Victor Hess mit Ballonexperimenten als extraterrestisch identifiziert. Der Name “Strahlung” ist als “historischer Unfall” zu betrachten, denn es handelt sich, anders als bei der elektromagnetischen Strahlung, um meist geladene Teilchen wie Protonen oder leichte Atomkerne. Einige dieser Teilchen haben unvorstellbare Energien: am weltgrößten Teilchenbeschleuniger LHC schafft man es, die Teilchen mit 13 Tera-Elektronenvolt (1 TeV=1012 eV) aufeinander prallen zu lassen – 1991 wurde in Utah ein Teilchen in der Atmosphäre registriert, das mit 320 Exa-Elektronenvolt (1EeV = 1018 eV) eingeschlagen war; das ist ein makroskopischer Energiewert von 51,3 J, etwa die Energie eines mit 110 km/h aufgeschlagenen Tennisballs – in einem Kernteilchen!
Es wurde schon länger vermutet, dass solche Teilchen, die weitaus mehr Energie haben als solche von der Sonne oder selbst aus Supernova-Explosionen, in den Magnetfeldern der Akkretionsscheiben um supermassereiche Schwarze Löcher beschleunigt werden, insbesondere im Zentrum von aktiven Galaxien, deren Schwarze Löcher gerade Materie verschlingen, aber der Nachweis ist schwierig, weil solche geladenen Teilchen trotz ihrer hohen Energien in Magnetfeldern wie denen der Milchstraße oder der Sonne abgelenkt werden und bei ihrem Einschlag ihre ursprüngliche Herkunftsrichtung nicht mehr verraten. Jedoch erzeugen die Teilchen der kosmischen Strahlung bei Wechselwirkungen mit Photonen mittlerer Energie in der Nähe ihrer Quelle auch Mesonen1, die unter anderem in ungeladene Neutrinos zerfallen, geisterhafte Teilchen, die keine Magnetfelder und keine elektrischen Felder spüren und deshalb durch die vor allem von den elektrischen Feldern der Elektronen erfüllte Materie hindurch fliegen, als sei sie nicht da – die mittlere freie Weglänge, bis ein Neutrino statistisch gesehen auf ein Quark in einem Kernteilchen stoßen würde, beträgt in Blei etwa ein Lichtjahr, und ein Neutrino könnte mit etwas Glück sogar tausende Lichtjahre Blei durchfliegen.
Wie man Geisterteilchen fängt
Dennoch – wenn genügend Neutrinos vorhanden sind und der Detektor groß genug ist, dann kann hin und wieder eines der Teilchen einem Quark in einem Atomkern nahe genug kommen, um mit ihm über die “Schwache Wechselwirkung” zu interagieren und Sekundärteilchen wie Elektronen, Myonen oder Tauonen erzeugen. Da Licht ein lichtbrechendes Medium mit weniger als der Vakuumlichtgeschwindigkeit durchläuft, bewegen diese schnellen Teilchen sich im Medium des Detektors mit mehr als Medium-Lichtgeschwindigkeit und erzeugen eine Art “Überlichtblitz” von Tscherenkow-Strahlung, den die Lichtsensoren in einem Neutrinodetektor aufspüren können und dessen Orientierung verrät, aus welcher Richtung das Teilchen kam.
In der Nähe der Amundsen-Scott-Station am Südpol nutzt man das klare, luftblasenfreie Eis in 1450 bis 2450 m Tiefe als Detektormedium des treffenderweise IceCube genannten Neutrinodetektors. Ein Kubikkilometer Eis in dieser Tiefe wurde mit 5160 sogenannten Digitalen Optischen Modulen (DOMs) verteilt auf 86 Kabelstränge bestückt, um in der ewigen Dunkelheit die manchmal kilometerlangen Tscherenkow-Spuren der von Neutrino-Reaktionen erzeugten Teilchen zu registrieren.
Seit 2008 werden von IceCube jährlich bis zu 70.000 Neutrinospuren registriert, von denen weniger als 1% kosmischen Ursprungs sind; die meisten stammen aus Zerfällen in der Atmosphäre, ausgelöst durch kosmische Strahlen. Seit 2016 werden automatische Alarme bei der Detektion von mutmaßlich kosmischen Neutrinoereignissen ausgelöst und weltweit verteilt, in der Vergangenheit bereits zehnmal. Und nun gelang es endlich, die Herkunft eines solchen Teilchens erstmals dingfest zu machen.
Ein Neutrino aus Texas
Am 22. September 2017 um 20:54:30.43 Weltzeit registrierte IceCube ein Neutrino-Ereignis von 290 TeV, katalogisiert als IceCube 170922A. IceCube konnte die Herkunftsrichtung auf 1/2° (also etwa einen Vollmonddurchmesser) genau peilen und sendete nach 43 Sekunden bereits einen Alarm mit der ermittelten Position an die Wissenschaftswelt, die mit Beobachtungen der entsprechenden Position begann. Nach wenigen Tagen war die Quelle identifiziert. Das Gammastrahlen-Weltraumteleskop Fermi hatte seit April 2017 eine verstärkte Aktivität des 4,4 Milliarden Lichtjahre entfernten Blazars TXS 0506+056, der wegen des Kürzels auch den Spitznamen “Texas-Quelle” bekam, in der betreffenden Gegend ausgemacht. Die Zahlen hinter dem Buchstabenkürzel geben die Position an, 05h06 Rektaszension/+5,6° Deklination – d.h. knapp am Nordhimmel, das Neutrino wurde also nach dem Durchdringen eines beträchtlichen Stücks Erde am Südpol aufgefangen.
Blazare sind Kerne aktiver Galaxien. Wie bei allen aktiven Galaxien, von denen es eine Reihe von Typen gibt, ist hier ein supermassereiches Schwarzes Loch am Werk, das gerade Materie aus der es umgebenden Akkretionsscheibe verschlingt. Ein Großteil der Materie endet dabei nicht im Schwarzen Loch, sondern wird von den Magnetfeldern der Akkretionsscheibe als Jets in die beiden Richtungen entlang der Drehachse senkrecht zur Scheibe beschleunigt. Blazare sind nun solche aktiven Galaxienkerne, bei denen wir zufällig genau von oben in einen Jet hinein schauen und dessen erratisches Flackern, das über Zeiträume zwischen Minuten und Jahren variiert, wir somit direkt beobachten können.Nachfolgende Beobachtungen mit den MAGIC-Tscherenkow-Teleskopen auf La Palma, zwei 17 m durchmessenden Parabolspiegeln, die nach Tscherenkow-Blitzen in der Atmosphäre suchen, die von den Sekundärteilchen der in die Lufthülle einschlagenden Gammastrahlen und Teilchen der kosmischen Strahlung verursacht werden, bestätigten, dass vom Blazar Gammastrahlen von bis zu 400 GeV ausgingen – da brodelte es offenbar gerade gewaltig. Die Aktivität des Blazars konnte mit (neben IceCube) insgesamt 17 Geräten über einen weiten Hochenergie-Frequenzbereich nachgewiesen werden.
Einmal ist keinmal
Nun ist ein einzelnes Neutrino noch kein phänomenaler Beleg für die Herkunft von einem im Umkreis von einem halben Grad gefundenen aktiven Objekt – auch wenn in größerem Umkreis keine anderen aktiven Objekte zur betreffenden Zeit zugange waren und die hohe Energie auf eine kosmische Quelle hinwies. Man schätzte eine Konfidenz von 3σ (99,73%), dass es kein zufälliges Zusammentreffen zweier Ereignisse war. Man fand jedoch in den Aufzeichnungen von IceCube 13±5 Neutrinos über dem statistischen Hintergrundrauschen aus der gleichen Richtung, die bereits um die Jahreswende 2014/2015 registriert worden waren (Bild unten). Deren Konfidenz wird auf 3,7σ (99,98%) geschätzt.
Die Analyse der Daten ergab, dass die Leuchtkraft, die der Blazar in Form von Neutrinos aussendet, um den Faktor 4 höher ist, als die Leuchtkraft im Gammastrahlenbereich, der für Fermi messbar ist (0,1 – 100 GeV). Die Autoren in Referenz [2] gehen davon aus, dass beide Strahlungsarten aus dem Zerfall von Pionen2 entstehen: begegnet ein hochbeschleunigtes Proton einem Photon, können entweder ungeladene Pionen entstehen, die zu zwei Gammastrahlen-Photonen zerfallen, oder geladene Pionen, die in ein Lepton (Elektron oder seine schweren Brüder Myon und Tauon bzw. deren Antiteilchen) und ein Neutrino zerfallen – die Häufigkeit sollte gleich sein, weil genau so viele neutrale wie geladenen Pionen entstehen müssten. Entweder wird die Gammastrahlung in der Nähe des schwarzen Lochs oder im Jet absorbiert, oder sie hat Energien außerhalb der Empfindlichkeit von Fermi.Blazare bzw. die Jets von supermassereichen Schwarzen Löchern sind somit als eine der vermuteten Quellen für kosmische Strahlung hoher Energie belegt. Jedoch können sie nur für einen Teil der energiereichen Neutrinos verantwortlich sein wie in Referenz [1] ausgeführt wird, denn frühere Untersuchungen des Zusammenfallens von Fermi-LAT-Beobachtungen von Blazar-Eruptionen und IceCube-Neutrino-Ereignissen oberhalb von 10 TeV zeigten keine eindeutige Übereinstimmung. Vielleicht können weitere Multi-Messenger-Beobachtungen die anderen Quellen der kosmischen Hämmer identifizieren.
Referenzen
[1] The IceCube Collaboration, Fermi-LAT, MAGIC, AGILE, ASAS-SN, HAWC, H.E.S.S., INTEGRAL, Kanata, Kiso, Kapteyn, Liverpool Telescope, Subaru, Swift/NuSTAR, VERITAS, VLA/17B-403 teams, “Multimessenger observations of a flaring blazar coincident with high-energy neutrino IceCube-170922A“, Science, 12. Juli 2018.
[2] The IceCube Collaboration, “Neutrino emission from the direction of the blazar TXS 0506+056 prior to the IceCube-170922A alert“, Science, 12. Juli 2018.
Weitere Artikel
- The IceCube Collaboration, “IceCube neutrinos point to long-sought cosmic ray accelerator“, IceCube/NSF Webseite, 12. Juli 2018
- Daniel Fischer, “Eine Galaxie schießt mit Neutrinos (und noch viel mehr): die ganze Geschichte“, Abenteuer Astronomie, 12. Juli 2018.
- Jan Hattenbach, “Das Neutrino, das dem Schwarzen Loch entkam“, Spektrum.de, 12.07.2018.
- Sibylle Anderl, “Durchbruch in der kosmischen Neutrinoforschung“, FAZ Online, 12.07.2018.
- Dr. Razmik Mirzoyan, Barbara Wankerl, “Neutrino aus einer fernen Galaxie“, Max-Planck-Gesellschaft, 12.07.2018.
1 Mesonen sind instabile Teilchen mittlerer Masse, die aus einem Quark-Antiquark-Paar bestehen; die stabilen Baryonen wie Neutron und Proton bestehen hingegen aus drei Quarks (bzw. ihre Antiteilchen aus drei Antiquarks).
2 Pionen oder Pi-Mesonen sind die leichtesten Mesonen, die aus Up- und Down-Quarks (bzw. Anti-Quarks) bestehen, die auch die Bestandteile von Proton und Neutron sind. Es gibt das π+, das aus einem Up-Quark und einem Down-Antiquark besteht und das eine positive Ladungseinheit trägt, das π–, das aus einem Down-Quark und einem Up-Antiquark besteht und das eine negative Ladung trägt, sowie das elektrisch neutrale π0 bestehend aus einem Up-Quark/Antiquark oder Down-Quark/Antiquark-Paar.
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