Am 13. Oktober 2015 entdeckten David Tholen, Chad Trujillo und Scott Sheppard ein Objekt am Rande des Sonnensystems, zu dieser Zeit etwa 80 AE von der Sonne entfernt. Das Objekt erhielt gemäß der Nomenklatur der Internationalen Astronomischen Union (IAU) die Bezeichnung 2015 TG387. Die Bezeichnung war für den internen Gebrauch zwischen den Forschern etwas unhandlich. Da es nicht mehr lang hin bis Halloween war, interpretierten sie die datumsbezogenen Buchstaben TG als Abkürzung für The Goblin, den Kobold, und nannten ihn fortan intern so.
Das Objekt dürfte, anhand seiner Helligkeit geschätzt, ca. 300 km groß sein, riesig für einen Asteroiden, aber durchaus nicht ungewöhnlich für ein Objekt jenseits der Neptunbahn. Denn es befindet sich derzeit doppelt so weit von der Sonne entfernt wie Pluto und gehört damit zu den Transneptunischen Objekten (TNOs), über die ich kürzlich schon schrieb. Da diese sich aufgrund der dort draußen nur noch geringen Schwerkraft der Sonne nur sehr langsam auf ihrer Bahn fortbewegen, mussten die Forscher drei Jahre warten, bis sie einen hinreichend großen Abschnitt der Bahn vermessen hatten, der es ihnen erlaubte, die Bahnparameter zu bestimmen. Diese reichten sie Ende September beim Astrophysical Journal ein und stellten den Entwurf auf arXiv.
JWD
Und diese Bahn hat es in sich: der Kobold ist der Zeit nahe seines Perihels, also in Sonnennähe, wobei diese bei 65±1 AE erreicht wird. Das ist mehr als doppelt so weit von der Sonne entfernt wie der äußerst Planet Neptun. Noch erstaunlicher ist ein anderer Bahnparameter: die große Halbachse (die Hälfte des langen Durchmessers der Bahn) beträgt 1190±70 AE und damit die Apheldistanz (sonnenfernster Punkt der Bahn) ca. 2300 AE! Dies bedeutet eine Umlaufzeit von über 36.000 Jahren um die Sonne.
TNOs mit einer großen Halbachse von mehr als 150 AE werden als Extreme Transneptunische Objekte (ETNOs) bezeichnet. Solche mit mehr als 250 AE bezeichnen die Autoren als Objekte der inneren Oortschen Wolke (Inner Oort Cloud Objects, IOCs). Die Oortsche Wolke ist bekanntlich das Reservoir, aus dem sich die langperiodischen Kometen speisen. Eine riesige Menge von Eisbrocken wird in 2.000-50.000 oder mehr AE Entfernung von der Sonne vermutet und soll sie kugelförmig umgeben. Die Objekte sollen einst von den großen Planeten im Sonnensystem bei Begegnungen nach dort draußen befördert worden sein. Durch Gezeitenkräfte der Milchstraße und benachbarter Sterne blieben sie dort gefangen und nur selten kehrt eines von ihnen als Komet ins innere Sonnensystem zurück, wenn etwa ein vorbeifliegender Stern die Oortsche Wolke außen durcheinander wirbelt.
2015 TG387 bewegt sich in der Zone zwischen dem vermuteten Innenrand der Oortschen Wolke und dem Kuiper-Gürtel, in dem Pluto liegt und der sich noch unter dem Einfluss des Neptun befindet. Neptun hat Pluto in eine Resonanz gezwungen, die trotz der Kreuzung ihrer Bahnen dafür sorgt, dass sie sich nie nahe kommen.
Genau das kann Neptun beim Kobold nicht. 2015 TG387 ist zwar nicht der ETNO mit der absolut größten Apheldistanz – aber unter denjenigen, die der Sonne nie näher als 50 AE kommen, ist er es sehr wohl. Diese Klasse wird noch einmal separat als Sednoiden geführt. Diese Objekte kommen keinem Planeten nahe genug, der sie auf ihre ferne Bahn hätte hieven können, denn der äußerste, Neptun, ist nur 30 AE von der Sonne entfernt.
Und es kommt noch besser: wenn man sich anschaut, wo das Perihel liegt, dann liegt es genau zwischen denen von Sedna und 2012 VP113 (Spitzname “Biden”, weil Joe Biden 2012 der Vizepräsident der USA, “VP”, war), den beiden bisher bekannten Sednoiden. Der Kobold ist das dritte Objekt, das in diese Kategorie fällt. Es handelt sich bei ihm offenbar um das Objekt, über das ich mit Ralf Kannenberg neulich schon sprach.
Die Frage ist: wie kommen diese Objekte dorthin? Und sind die Perihelia nur zufällig so ausgerichtet? Liegt vielleicht ein beobachtungsbedingter Auswahleffekt vor?
Auf der schiefen Bahn
Mit der ersten Frage hat sich schon mein damaliger Artikel beschäftigt. Die elliptische, recht stark gegen Ekliptik geneigte Bahn (im Mittel 19° Bahnneigung der Sednoiden; 11,6° bei 2015 TG387) passt nicht zu einer Entstehung an diesem Ort in der protoplanetaren Scheibe des Sonnensystems, dies hätte zur einer geringen Bahnneigung und kreisförmigen Bahnen führen sollen. Ein naher Vorbeiflug eines Sterns in der Frühzeit des Sonnensystems wäre eine Möglichkeit. Eine andere, dass ein weiter außen liegendes Objekt, etwa ein noch unbekannter großer Planet, das Perihel der Sednoiden nach außen gezogen hat.
Wie sieht es mit der Stabilität der Bahnen aus? Die Autoren führten Simulationen von ETNOs über 4 Milliarden Jahre durch. Unter dem Einfluss der Gezeitenkräfte der Milchstraße sinkt das Perihel bei Objekten, die sich mehr als 1000 AE von der Sonne entfernen. Sedna ist davon kaum betroffen, 2015 TG387 umso mehr. Sinkt das Perihel unter 60 AE, dann sorgen die inneren Planeten, die das Objekt überholen, für kleine Stöße, die das Perihel wieder etwas höher treiben. So schwankt es um ±10 AE und bleibt langfristig stabil. Sedna und Biden entfernen sich weniger weit von der Sonne und ihr Perihel ist durchgehend stabil. Ein anderes Objekt, 2014 FE72, das sich mit 3400 AE Apheldistanz noch weiter von der Sonne entfernt als der Kobold, aber mit 35 AE Periheldistanz dem Neptun nahe kommt, bekam hingegen zu viel “Kick” und wurde in den Simulationen nach ein paar hundert Millionen Jahren aus dem Sonnensystem katapultiert.Die Bahn von Objekten wie 2015 TG387 blieb jedoch stabil, nur eines von 100 simulierten Objekten mit dieser Bahn wurde in 4 Milliarden Jahren aus dem Sonnensystem geworfen. Wurden zusätzlich vorbeifliegende Sterne simuliert, kam es je nach Simulation zu etwas höheren Verlustraten (Überlebensrate bis 95%), nur in einer Simulation mit sehr dichtem Sternenfeld wurden 2/3 der Objekte aus dem Sonnensystem katapultiert, nachdem ihr Perihel in den Bereich der Planeten gesunken war.
Die Simulationen zeigten auch, dass die Richtungen der Perihelia sich unter dem Einfluss der Planeten langsam drehen und damit die Bahn insgesamt ihre Ausrichtung ändert. Viele Leser werden von der Periheldrehung des Merkur im Zusammenhang mit der Allgemeinen Relativitätstheorie gehört haben, aber der größte Teil der Periheldrehung geht auf die Kräfte der anderen Planeten zurück, der mit der Relativitätstheorie nichts zu tun hat. Die Bahn ist nur dann räumlich stabil, wenn ein Objekt alleine die Sonne umkreist. Die Asymmetrie der umkreisten Massen sorgt für eine spiralförmige Bahn, welche die Apsidenlinie vom Perihel zum Aphel allmählich um die Bahn kreisen lässt. Bei Biden dauert eine 360°-Drehung 1,3 Milliarden Jahre, bei Sedna 3 und beim Kobold 6, d.h. sie müssten mit der Zeit auseinander driften. Wie passt das aber nun wieder zusammen mit der derzeitigen ähnlichen Ausrichtung der Perihelrichtungen der Sednoiden? Kann das Zufall sein?
Wenn man nur unter der Laterne sucht…
Die Autoren schätzten die Wahrscheinlichkeit dafür ab, dass die Perihelausrichtung der drei Sednoiden zufällig sein könnte. Sie fanden in ihren Simulationen, dass nur in 1,5% der Fälle die Ausrichtung der Perihelia in einer Winkelspanne von 49° (mit 36° Standardabweichung) blieb. Das entspricht einem Konfidenzniveau von 2,4σ und schließt Zufall nicht signifikant genug aus. Noch schlechter wird die Statistik, wenn berücksichtigt wird, dass der Himmel nicht flächendeckend gleichmäßig beobachtet wurde: in der galaktischen Ebene ist die Sterndichte sehr hoch und die Identifizierung von lichtschwachen Asteroiden schwieriger, daher wurde dieser Bereich weitgehend ausgeklammert und somit ergibt sich alleine aus der Lage der Beobachtungsfelder eine gewisse örtliche Konzentration von Objekten, die gerade im Perihel näher an Sonne und Erde und damit heller und leichter aufzuspüren sind. 2015 TG387 hätte man viel weiter draußen nicht finden können.
Nimmt man diesen Auswahleffekt hinzu, steigt die Wahrscheinlichkeit für eine zufällige Häufung der Perihelia auf 2,8% oder 2,2σ. Die Autoren betonen, dass sie noch weitere Sednoiden aufspüren müssen, um eine bessere statistische Grundlage zur Bewertung der Verteilung ihrer Orbits zu schaffen.Nimmt man allerdings noch die oben im vor-vorherigen Bild türkis markierten “abgekoppelten” Objekte hinzu, deren Perihelia zusammen mit denen der Sednoiden innerhalb von 105° liegen (siehe nächstes Bild) und die unabhängig vom Einfluss der Planeten sind, dann ergibt sich für diese Häufung eine Zufallswahrscheinlichkeit von nur 0,005% entsprechend 4σ (allerdings ohne Berücksichtigung des Auswahleffekts). Dies spricht hinreichend stark dafür, dass irgendetwas die Ausrichtungen der Bahnen forciert. Und damit sind wir bei Planet 9.
Ein dunkler Dirigent?
Wenn es kein Zufall ist, was könnte die Ausrichtung der Bahnen stabilisieren? Und würde das auch für 2015 TG387 funktionieren?
Mike Brown und sein Mitarbeiter Konstantin Batygin hatten vorgeschlagen, dass ein Planet von ca. 10 Erdmassen auf einer elliptischen Bahn mit einem sonnennächsten Punkt von 200 AE und einem sonnenfernsten von 700 AE, also im Bereich der ETNOs, deren Bahnen ausrichten und stabilisieren könne. Für die bekannten ETNOs hatte einer der Autoren (Trujillo) in einer früheren Arbeit bereits tausende Simulationen durchgeführt und gefunden, dass ihre Orbits stabil blieben, aber keiner geht so weit hinaus wie der des nun gefundenen Kobolds. Also simulierten die Autoren auch für dieses Objekt die Existenz eines neunten Planeten mit den von Brown und Batygin für wahrscheinlich gehaltenen Orbitalparametern.
Die Simulationen ergaben, dass die Bahn von 2015 TG387 genau dann für Milliarden Jahre stabil blieb, wenn dies auch für die anderen ETNOs galt.Auch Planet Neun würde eine Periheldrehung erleiden, die aufgrund seiner stets großen Sonnenentfernung nur 15° über die Lebensdauer des Sonnensystem betragen würde. In den Simulationen, in denen 2015 TG387 stabil blieb, ergab sich automatisch, dass sein Perihel nicht mehr innerhalb von 6 Milliarden Jahren um die Sonne kreiste, sondern nur noch geringfügig um den Punkt schaukelte, der dem Perihel des Planeten entgegengesetzt war. Es spielte dabei keine Rolle, welchen genauen Orbit im Rahmen der sinnvollen Parameter man dem Planeten Neun mitgab, wenn die Bahn des Kobolds stabil war, richtete sie sich so aus mit einer Resonanz, die zuverlässig verhinderte, dass er dem Planeten nahe kommen und von ihm wegkatapultiert werden konnte. Das blieb auch so, wenn vorbeifliegende Sterne simuliert wurden, was dann allerdings die Überlebensrate von 95% auf 72% senkte, wobei die Perihelausrichtung mit 68% Wahrscheinlichkeit um ±45° beibehalten wurde. Dass die Bahn genau dann stabil, ausgerichtet und resonant war, wenn auch die Bahnen der anderen ETNOs das gegenüber dem angenommenen Planeten waren, beweist zwar nicht die Existenz dieses Planeten, deutet aber stark darauf hin.
Der neu entdeckte Sednoid fügt sich also perfekt in das Gesamtbild ein, dass die Existenz von Planet Neun stützt. Mit jedem weiteren ETNO steigt die Wahrscheinlichkeit, das es den Planeten wirklich gibt. Er könnte jeden Tag gefunden werden.
Referenzen
[1] Scott Sheppard, Chadwick Trujillo, David Tholen, Nathan Kaib, “A New High Perihelion Inner Oort Cloud Object”, eingereicht am 28.09.2018 beim Astrophysical Journal; arXiv:1810.00013.
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