China ist derzeit die einzige Nation, die in der Lage ist, Menschen in den Weltraum zu schießen. Nach der Notlandung der Sojus MS-10, die eigentlich die beiden Mitglieder der ISS Expedition 57 zur Internationalen Raumstation bringen sollte, sind bis auf Weiteres alle Sojus-Starts ausgesetzt. Seit die NASA die Shuttle-Flotte stillgelegt hat, ist sie auf die russische Sojus angewiesen, um ihre Astronauten zur ISS befördern zu lassen, während sie darauf wartet, dass Space-X und Boeing ihre Raumkapseln fertig stellen – deren erste bemannte Flüge sollten eigentlich noch in diesem Jahr stattfinden, sind nun aber für kommenden Sommer terminiert. Die Europäer haben sich gegen die Weiterentwicklung ihres unbemannten ATV-Transporters zur bemannten Kapsel entschieden. Was die Chinesen im Augenblick zu einsamen Champions macht.
Das sichere Arbeitspferd
Die Sojus-Rakete (sowohl das Raumschiff als auch die Rakete heißen Sojus, zu deutsch “Union”, als Hommage an die frühere “Union der Sozialistischen Sowjet-Republiken”) war lange eines der verlässlichsten Raumfahrzeuge. Die seit 1966 in Betrieb befindlichen und stetig weiter entwickelten Raketen verbuchen über 1700 Flüge (bemannt und unbemannt). Seit dem Jahr 2002 gab es zwar eine Reihe von Fehlstarts unbemannter Sojus-Versionen, aber die bemannte Raumfahrt schien davon verschont zu bleiben. Der letzte Fehlschlag fand am 26. September 1983 statt, als Sojus T-10a vor dem Start wegen einer leckgeschlagenen Treibstoffzuleitung Feuer fing und die Besatzung mit dem Raumschiff durch Funk-Fernauslösung des Rettungssystems noch rechtzeitig vor der Explosion von der Rakete weg geschossen werden konnte. Im Jahr 1975 war das Rettungssystem zuletzt während des Aufstiegs von Sojus 18a eingesetzt worden und rettete 3 Kosmonauten, als sich die zweite und dritte Stufe nicht trennten. Und nun Sojus MS-10.
Sojus MS-10
Normalerweise besteht die Besatzung einer Sojus-Kapsel aus 3 Raumfahrern. Diesmal waren nur der russische Kosmonaut Alexej Owtschinin (der seinen 2. Raumflug absolvieren wollte) und der amerikanische Astronaut Tyler “Nick” Hague (für den es der erste Raumflug hätte werden sollen) an Bord. Der dritte Platz blieb frei – der ursprünglich als dritter Mann vorgesehene Nikolai Tichonow war im April von der Besatzungsliste gestrichen worden, da das russische ISS Nauka-Modul aufgrund von Verzögerungen immer noch nicht gestartet worden war, in welchem er hätte arbeiten sollen. Die Idee, einen Weltraumtouristen mitzunehmen, verwarf man zugunsten von 62 kg zusätzlicher Nutzlast in Form von Proviant und einem 3D-Bio-Drucker. Der Sitz war allerdings für die Rückkehr eines Weltraumtouristen aus den Vereinigten Arabischen Emiraten vorgesehen, der mit dem nächsten Flug zur ISS starten sollte und nach einer Woche Aufenthalt auf der ISS wieder mit der MS-10-Kapsel hätte landen sollen.
Die beiden Kosmonauten würden zu Alexander Gersts Crew stoßen. Nick Hague sollte mit Astro-Alex noch im Oktober zwei Weltraum-Außenbordeinsätze durchführen, um Batterien an den Solarzellen der ISS auszutauschen.
Startablauf
Der Start (T+0:00) erfolgte am 11. Oktober 2018 pünktlich um 10:40:15 MESZ von der Gagarin-Rampe in Baikonur, übrigens im Beisein des neuen, von Donald Trump eingesetzten NASA-Administrators Jim Bridenstine und Roskosmos-Chef Dmtri Rogosin. Die Rakete stieg zunächst wie gewohnt auf ihrem Feuerstrahl auf.
1m54s nach dem Start (T+1:54) wurde das Feststoff-Rettungssystem an der Spitze der Rakete planmäßig abgesprengt, das für den Einsatz bei niedrigen Flughöhen oder auf der Startrampe vorgesehen ist. 4 Sekunden später (T+1:58) war Brennschluss der vier sogenannten “Booster”, angekoppelten zusätzlichen Flüssigtreibstoffraketen, die daraufhin abgeworfen wurden. Die Booster (üblicherweise mit Block B, V, G und D bezeichnet, weil das die latinisierten ersten kyrillischen Buchstaben nach dem A sind) bilden die erste Stufe der Rakete, die Kernstufe (Block A) zählt als zweite Stufe (siehe folgendes Bild).
Die Rakete war nun in ca. 50 km Höhe an der Grenze zur Mesosphäre. Den Beobachtern fiel auf, dass die Booster nicht das sonst übliche, symmetrische “Korolew-Kreuz” bildeten (benannt nach Sergej Korolew, dem Entwickler der R-7, einer Interkontinental-Atomrakete, aus der die Sojus hervorgegangen war). Hier ein Video, das zeigt, wie das eigentlich hätte aussehen sollen:
Statt dessen sah die Abtrennung so aus:
Leider fehlt in diesem von NASA-TV ausgestrahlten Video der entscheidende Moment, weil just zu diesem Zeitpunkt gerade die Besatzung in der Kapsel gezeigt wird, die heftig durchgeschüttelt wurde; man sieht aber nach der Umschaltung auf das Außenbild noch das asymmetrische Korolev-Kreuz. Die ganze Szene sieht man auf dem Video auf dieser Seite (welches mich Vimeo leider nicht hier einbinden ließ), und zwar ab 2m35. Bei 2m38s sieht man, wie die Rettungsrakete abgeworfen wird und nach unten fällt, dann folgt zum Brennschluss der Ausstoß einer kleinen Wolke, die man auch in dem ersten Video oben sieht, und kurz danach sehr viel Dampf oder Rauch, es sieht aus wie eine kleine Explosion, aus deren Wolke die Booster herausfallen, die nicht im Gleichtakt rotieren, sondern versetzt.
Wenn man genau hinschaut, sieht man ab 2m47 einen kleinen Punkt, der sich rasch nach links oben entfernt. Dabei dürfte es sich um die Sojuskapsel handeln. Das Sojus-Raumschiff wurde nämlich 4 Sekunden nach dem Abtrennen der Booster (T+2:02) durch vier Feststoffraketen in der Nutzlastverkleidung automatisch von der Rakete abgetrennt und weg beschleunigt.
Hier ein Standbild des Abwurfs, als sich die Wolke gerade auflöst. Man sieht rechts unten die dampfende Rakete, drumherum die vier Booster und mögliche Trümmerteile oder wegfliegende Teile der unteren Nutzlastverkleidung, und ganz links als kleinen Punkt das sich entfernende Sojus-Raumschiff:
Das Sojus-Raumschiff besteht aus drei Teilen, dem runden Orbitalmodul auf der Spitze mit dem Andock-Anschluss für die Raumstation, die vor dem Wiedereintritt abgetrennt wird und verglüht, darunter das konische Abstiegsmodul, in dem sich die Kosmonauten bei Start und Landung befinden, und zuunterst das Instrumenten- und Service-Modul mit Antrieb und Energieversorgung. Die Abtrennung von der Rakete im Notfall erfolgt zwischen dem Abstiegsmodul und dem Service-Modul, das mit der dritten Raketenstufe verbunden bleibt.
Bei T+2:40 erhielten die Kosmonauten die Anweisung, das Abstiegsmodul vom Orbitalmodul und dessen Nutzlastverkleidung abzutrennen. Die Kosmonauten berichteten über Funk von Schwerelosigkeit. Sie befanden sich nun im freien Fall. Durch die Geschwindigkeit der Kapsel stiegen sie noch weiter auf, vermutlich bis auf 70-95 km, und fielen von dort aus wieder zurück zur Erde. Dort oben ist kaum Atmosphäre vorhanden und der Sturz ist ziemlich steil, verglichen mit einem normalen Wiedereintritt. Deswegen gewinnt die Kapsel eine hohe Geschwindigkeit und trifft dann recht abrupt auf dichtere Luftschichten, was für eine stärkere Verzögerung sorgt als beim regulären, viel flacher verlaufenden Wiedereintritt aus der Umlaufbahn, der ungefähr 3-4 g verursacht (es wirkt also das drei- bis vierfache Eigengewicht auf die Kosmonauten); die 1975 aus noch größerer Höhe geretteten Insassen der Sojus 18a mussten bis zu 21g (!) ertragen, was bei mindestens einem Kosmonauten zu inneren Verletzungen und bleibenden Schäden führte, die ihm keinen späteren Raumflug mehr erlaubten. Die Sojus-MS-10-Besatzung hatte aus geringerer Höhe mehr Glück und nur 6,7 g beim Wiedereintritt auszuhalten. Danach öffneten sich die Fallschirme und 34 Minuten nach dem Start landete die Kapsel sicher 25-30 km östlich der kasachischen Stadt Schesqasghan in der Steppe, rund 400 km von Baikonur entfernt.
Die Besatzung blieb unverletzt und wurde nach ca. 1h von einem Flugzeug mit Fallschirmspringern aufgespürt. Hubschrauber und Bergungsfahrzeuge folgten. Ein Hubschrauber flog die beiden Raumfahrer dann nach Schesqasghan und dort stiegen sie in ein Flugzeug um, dass sie zurück nach Baikonur brachte, wo sie ihre Angehörigen in die Arme schlossen. Sie blieben noch bis zum Abend für medizinische Untersuchungen im Kosmodrom und wurden am nächsten Tag nach Moskau geflogen.
Alexander Gerst gelang übrigens ein Foto des Aufstiegs von der ISS aus gesehen:
Untersuchung der Unfallursache
Natürlich ist der misslungene Start ein großer Fehlschlag für die russische Raumfahrt, weitere Flüge der Rakete (auch unbemannte) wurden bis auf weiteres ausgesetzt, solange die Fehlerursache noch nicht gefunden ist. Auf der anderen Seite gab es auch viel Lob für das Rettungssystem, das wieder einmal funktioniert hatte. Es gibt vom Start bis zum Erreichen des Orbits eigentlich keinen Augenblick, in dem kein wirksames Rettungssystem für den Fall einer katastrophalen Fehlfunktion vorhanden ist; dazu müsste das Rettungssystem schon selbst unmittelbar betroffen und beschädigt sein. Im Gegensatz dazu gab es beim Space Shuttle überhaupt kein Rettungssystem für den Fall, dass der Orbiter nicht intakt war; man konnte bestenfalls beim Ausfall der Haupttriebwerke eine Notfalllandung durchführen (beim Flug STS-51 der Challenger war eines der Triebwerke im Aufstieg ausgefallen, aber man konnte mit den restlichen unter erhöhtem Schub und längerer Brenndauer noch den Orbit erreichen, ein sogenannter Abort to Orbit). Daher sind Raketen mit absprengbaren Kapseln die sicherere Wahl für den Flug in den Orbit und möglicherweise einer der Gründe, warum die NASA das Konzept des Raumgleiters Dream Chaser der Firma Sierra Nevada Corporation zugunsten der Kapseln von Space-X und Boeing ablehnte, während ein verkleinerter Dream Chaser für unbemannte Flüge weiter gefördert wird.
Der Chef der russischen Raumfahrtbehörde Roskosmos Dmitri Rogosin ordnete noch am Tag des Unfalls eine Untersuchung an. Dabei könnte das beim MS-10-Flug erstmals eingebaute neue ASTRA-Avionik-System wertvolle Dienste leisten, das zahlreiche Parameter der Rakete in Echtzeit zum Boden überträgt. Am 12. Oktober wurden Trümmerteile aller Stufen und des Rettungssystems der Sojus-Rakete in der kasachischen Karaganda-Region in einem 40-km-Umkreis beim Dorf Talap geortet, geborgen und zu Roskosmos transportiert. Bis zum 14. Oktober sollen sie beim Sojus-Hersteller RKT in Samara eintreffen, wo ihre Untersuchung stattfinden wird. Laut der russischen Nachrichtenagentur TASS soll die Untersuchungskommission am 25. Oktober ihre Analyse vorlegen. Man will bereits im Dezember die nächste Besatzung zur ISS bringen (allerdings nicht die beiden Raumfahrer der MS-10, die erst im nächsten Frühjahr wieder starten sollen). Die NASA verlautbarte ebenfalls optimistisch, dass Alexander Gerst mit seiner Crew wie geplant im Dezember zur Erde zurückkehren würde. Die geplanten Außenbordeinsätze sind indes gestrichen worden. Dies gilt auch für einen von Roskosmos geplanten Einsatz zur externen Begutachtung eines Lochs in der MS-09.
Deutsche Medien hatten darüber spekuliert, dass Gerst und die beiden anderen Raumfahrer noch wesentlich länger oben bleiben müssten, bis Februar oder gar April. Ihr Sojus-Raumschiff darf den Vorschriften gemäß allerdings höchstens bis Ende Januar im Weltraum bleiben und dass man ihnen ein leeres, frisches Raumschiff hinauf schickt, scheint doch angesichts der immensen Kosten eher unwahrscheinlich; die ISS kann auch eine Weile ohne Besatzung betrieben werden, das hat bei der Mir auch schon einmal funktioniert.
Erste Mutmaßungen über die Unfallursache verlautete die russische Nachrichtenagentur RIA Novosti unter Berufung auf Industriequellen bereits wenige Stunden nach dem Unfall. Die Telemetriedaten wiesen demnach darauf hin, dass die Trennung zwischen Booster D und Block A nicht wie vorgesehen funktioniert habe.
Der Abwurfmechanismus funktioniert folgendermaßen: die Booster stecken mit Kugelköpfen von unten in außen an der Kernstufe befindlichen Kerben. An der Unterseite sind sie mit Stützstangen befestigt, die ein seitliches Wegkippen verhindern, die aber dem Schub alleine nicht standhalten können; das Kugelgelenk vermittelt die Kräfte des Boosters auf den Kern der Rakete. Da die Booster mehr Schub haben, als die Kernstufe, schieben sie diese vor sich her. Kurz vor Brennschluss wird der Schub der Booster zurückgenommen und die Stangen unten werden pyrotechnisch gekappt. Da nun die Kernstufe mehr Schub als die Booster hat, fallen diese nach unten weg. Dabei wird das oben seitlich befindliche Entlüftungsventil des Sauerstofftanks DPKO (im Bild die Nr. 3) aufgesprengt, in dem sich noch unter Druck stehendes Gas befindet, das beim Entweichen einen Rückstoß erzeugt, der die Oberseite des Boosters von der Kernstufe weg rotiert. Wenn alles schön synchron abläuft, ergibt sich das oben gesehene Ballet der Booster (im ersten Video oben sieht man das Gas oben aus den Boostern entweichen).
Eine Theorie von zwei französischen Experten (die Fracht-Sojus startet ja auch für die ESA von Kourou/Frz.-Guyana aus) besagt, dass das Aufsprengen des DPKO-Ventils bei einem Booster möglicherweise nicht funktionierte und er dann mit der Kernstufe kollidierte.
Die russische Nachrichtenagentur Interfax bestätigt dies mit der Aussage, dass ein Booster mit der Kernstufe kollidierte und einen Treibstofftank derselben aufriss, so dass die Stufe ihre Lageregelung verlor. Dies löste aufgrund einer Abweichung von mehr als 7° der zweiten Stufe den automatischen Rettungsmechanismus aus, der nach dem Abtrennen der Booster eine 6-sekündige Pause einhält, damit die Kernstufe nach dem Abwurf noch Zeit hat, die Rakete gegebenenfalls wieder zu stabilisieren. Eine Videoaufzeichnung von Kameras an der Rakete zeige außerdem ein abnormes Abtrennverhalten von Booster D aufgrund eines defekten DPKO-Ventils.
Nun kommt es darauf an, die eigentliche Ursache für das Versagen des DPKO-Ventils ausfindig zu machen und den Fehler zukünftig abzustellen. Viele Ursachen sind denkbar, von einem Materialfehler über fehlerhaft durchgeführte Arbeiten bis hin zur Sabotage. Man denke an das in der Sojus MS-09 gefundene Loch, das laut Aussage von Rogosin höchstwahrscheinlich absichtlich gebohrt und dann mit Klebstoff “repariert” worden war. Es gab auch schon einmal einen Fall, in dem einer Rakete versagte, weil ein Lappen in einer Treibstoffleitung vergessen worden war (Nr. 10 in der Liste). Die Russen sind flott in der Reaktion auf Fehlschläge. Nur 6 Wochen nach dem Sojus-18a-Notfall 1975 flog die nächste Besatzung mit einer Sojus ins All.
Hoffen wir, dass das alte Arbeitspferd auch diesmal wieder schnell eingespannt werden kann. Und nächstes Jahr mit den amerikanischen privaten Raketen genug Ersatz vorhanden ist, dass es bei einem Versagen eines Trägers keine erneute Unterbrechung in der Erreichbarkeit der ISS gibt.
Referenzen
- Anatoli Zak, “Soyuz MS-10 makes emergency landing after a launch failure“, RussianSpaceWeb.com,(ständige Updates).
- Anatoli Zak, @RussianSpaceWeb, Twitter-Timeline.
- Jonathan McDowell, “Jonathan’s Space Report“, Jonathan’s Space Report, No. 755 (draft)
- Doug Messier, “Failures Continue to Haunt the Russian Space Program“, Parabolic Arc, 11. Oktober 2018.
- Stephen Clark, “Live coverage: Soyuz crew safe after emergency landing“, Spaceflight Now, 10. Oktober 2018.
- Spaceflight Now, “Multiple Replays of the Soyuz launch and abort“, Spaceflight Now, 12. Oktober 2018.
- “Soyuz (rocket family)“, en.wikipedia.org.
- “Soyuz-FG“, en.wikipedia.org.
- Nicolas Pillet, “Soyouz | Les Blocs BVGD“, Kosmonavtika, 24.12.2012.
- “Russland will schnell wieder bemannte Flüge zur ISS senden“, Stuttgarter Zeitung, 12. Oktober 2018
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