Im ersten Teil der Astro-Archäologie haben wir davon erfahren, dass ein englisches Forscherteam die Spuren einer Kollision der Milchstraße mit einer großen Galaxie in den Gaia-DR2-Daten gefunden hat, deren Sterne heute noch auf stark elliptischen Bahnen um das Zentrum der Milchstraße kreisen, die sie weit hinaus in deren Halo tragen. Auch andere Teams graben in den Daten und eines davon kam einem ähnlichen Ereignis auf die Spur.
Durch Dick und Dünn
Die Milchstraßenscheibe besteht aus zwei deutlich verschiedenen Komponenten, einer dünnen Scheibe von ca. 3000 LJ Dicke und einer dicken Scheibe, die etwa den doppelten Querschnitt hat. Eine dünne Scheibe ist leicht erklärbar, denn aus einer rotierenden Struktur aus Gas, wie sie der Milchstraße vorausging, entsteht automatisch eine flache Scheibe, denn nur in einer solchen kann das Gas kollisionsfrei um den Massenschwerpunkt kreisen – gegeneinander verkippte Bahnen von Gasteilchen führen zu Überschneidungen und Gas füllt den Raum komplett aus, so dass es unweigerlich zu Kollisionen der Teilchen kommt, die jegliche Vertikalbewegung gegenüber der Hauptrichtung aufzehren und als Wärme abstrahlen. In der Scheibe entstehen dann Sterne, die die Bahn des Gases fortführen – was kann ihre Bahnen dynamisch so “erhitzen” (wie die Astronomen das nennen), dass sie sich von der Scheibe entfernen?
Ein Team um Amina Helmi von der Universität Groningen (die wir hier bereits kennengelernt hatten; hier erklärt sie in einem Video die Entstehung der Milchstraße) hat sich dazu die von Gaia gemessenen Bewegungen der Sterne in 2,5 kpc (8150 LJ) Radius um die Sonne herum angeschaut, d.h. die dünne und dicke Scheibe in der Sonnenumgebung. Trägt man deren Geschwindigkeiten Vy in Richtung einer Kreisbahn um die Milchstraße (also tangential zur Scheibe) auf der waagerechten Achse und die Geschwindigkeiten im rechten Winkel dazu auf der vertikalen Achse auf (Vx: Geschwindigkeit in Richtung oder Gegenrichtung zum Zentrum der Milchstraße, Vz: nach oben oder unten aus der Scheibe heraus; V⊥ = Vektorsumme aus beiden = Geschwindigkeit senkrecht zur tangentialen Geschwindigkeit), so ergibt sich das Bild unten links:
Die Sterne in der rechten unteren Ecke bilden die dünne Scheibe; sie kreisen im Mittel mit 220 km/s um das Milchstraßenzentrum und haben nur einen kleinen Bewegungsanteil senkrecht dazu. Die schwarzen Punkte links davon sind Sterne des Halos (genauer gesagt solche, deren Geschwindigkeiten um mehr als 210 km/s von der Kreisbahngeschwindigkeit abweichen). Und die blauen Kreise sind Sterne einer gewissen Mindestenergie und Entfernung von der Scheibe. Die blauen Kreise bewegen sich mit negativer Vy-Geschwindigkeit, d.h. im Gegensinn zur Drehung der Scheibe (retrograd), und sie bewegen sich stärker abseits der Kreisbahn (auf der vertikalen Achse weiter oben). Interessant wird es, wenn man dieses Bild mit dem rechts daneben abgebildeten vergleicht: hier wurde die Kollision von zwei Spiralgalaxien simuliert, bei der die eine (schwarze Punkte) fünfmal mehr Masse hatte als die andere (blaue Punkte), wobei die Kollisionsgeschwindigkeit so gewählt wurde, dass quantitativ ein ähnliches Bild wie links heraus kommt. Die Ähnlichkeit ist in dieser Darstellung verblüffend. Die Kollision führt zu retrograden Bahnen der verschluckten Sterne, die sich weit von der Scheibe der größeren Galaxie entfernen.
Generationenkonflikt
Das niederländische Team suchte nach weiteren Unterschieden zwischen den Sterngruppen. So zeigte sich, dass die oben blau abgebildeten Sterne eine starke Streuung in ihrem Metallgehalt zeigten, ihr Alter variiert, während die schwarz punktierten Halosterne alle relativ alt sind. Bei einer Galaxienkollision kommt es bekanntlich zur Entstehung frischer Sterne. Die Sternentstehung in der Vorläufergalaxie soll 2 Milliarden Jahre angedauert haben, bevor es zur Kollision kam, die vor 10 Milliarden Jahren stattgefunden haben müsste, wie sich aus der Alterstruktur der “blauen” Sterne ableiten lässt.
Aus dem Metallgehalt schließen die Autoren, dass die “blauen” Sterne aus einer Galaxie mit einer kleineren Sternentstehungsrate als die Milchstraße entstanden sind, die etwa 600 Millionen Sonnenmassen an Sternmasse (ohne Dunkle Materie) gehabt haben soll – etwa die Masse der Kleinen Magellanschen Wolke. Mit dunkler Materie wären es ca. 2,4 Milliarden Sonnenmassen, etwa 1/4 der mutmaßlichen Masse der dicken Scheibe der Milchstraße zur Zeit der Kollision (10 Milliarden Sonnenmassen), was ausgereicht haben dürfte, diese so aufzuheizen, wie wir sie heute vorfinden. Etwa 30.000 Sterne in der Sonnenumgebung gehören zur “blauen” Population. Bis zu 80% der Halosterne könnten auf diese Kollision zurückgehen, schätzt Autorin Helmi. Nicht weniger als 13 Kugelsternhaufen bewegen sich synchron zu den Sternen der eingefangenen Galaxie und dürften von ihr beigetragen worden sein.
Und so könnte die Kollision abgelaufen sein (wobei hier die blauen Sterne von der Milchstraße stammen und die einschlagende Galaxie in Rot dargestellt ist):
Wie man Galaxien vernünftig benennt…
Im Gegensatz zu den britischen Kollegen (“Würstchengalaxie”) haben sich die Niederländer richtig Mühe gegeben, einen würdevollen Namen für ihre Galaxie zu finden. In der griechischen Sagenwelt war der Titan Enceladus, Sohn der Erdgöttin Gaia und des Uranus, ein Riese, der später unter dem Ätna begraben wurde und für die Beben auf Sizilien verantwortlich sein sollte. Das Team nannte die Galaxie Gaia-Enceladus, weil sie ein Abkömmling der Sonde Gaia ist, riesig im Vergleich zu anderen, von der Milchstraße verschlungen Zwerggalaxien, weil sie in der Milchstraße begraben ist und für die Erschütterung der Milchstraßenscheibe verantwortlich ist, die zur Entstehung der dicken Scheibe führte. Damit es keine Verwechslung mit dem Saturnmond Enceladus gibt, wurde die Gaia im Namen vorangestellt.
Bezüglich der Namenswahl würde ich mal werten: The Netherlands – twelve points / les Pays-bas: douze points!
Referenzen
[1] Amina Helmi, Carine Babusiaux et al., “The merger that led to the formation of the Milky Way’s inner stellar halo and thick disk”, Nature, 1. November 2018; arXiv: 1806.06038.
[2] Kim Venn, “Evidence of ancient Milky Way merger“, News & Views, Nature-Webseite, 31.10.2018.
[3] Camille M. Carlisle, “Ancient Wreckage in the Milky Way“, Sky-&-Telescope-Webseite, 31.10. 2018.
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