Galaxien rotieren und bewegen sich in Galaxienhaufen, so als ob da viel mehr Masse vorhanden wäre, als sichtbar ist. Auch für die Entstehung der heute beobachteten Menge an Helium und anderen Elementen kurz nach dem Urknall sowie die Strukturbildung des Universums ist diese zusätzliche Masse laut unseren Modellen erforderlich – das Universum sähe ohne sie ganz anders aus. Die einfachste Lösung für dieses Problem wäre eine zusätzliche Form von Materie, die sich nicht direkt beobachten lässt und die ca. 80% der Gesamtmasse der Materie im Universum ausmacht. Das erscheint zunächst als eine sehr steile These: 80% des Weltalls soll unsichtbar sein – wo soll sich die ganze Materie denn aufhalten und warum ist sie bisher in keinem Experiment nachweisbar? Wäre es nicht viel einfacher, das Gravitationsgesetz zu modifizieren, so dass es mit den Beobachtungen überein stimmt?
Kein einfacher Ausweg
Das Problem beim Ansatz der alternativen Gravitationstheorien ist allerdings, dass sie mit der vielfach experimentell bestätigten Allgemeinen Relativitätstheorie kompatibel sein müssen, und in dieser ist die Schwerkraft nur eine Scheinkraft die entsteht, weil Materie die Raumzeit krümmt, was zu krummen Geodäten (Linien kürzesten Abstands) führt, denen Licht oder Materie gerne folgen möchten – und wenn man sie daran hindern will, dann muss man sich gegen ihre Trägheitskraft stemmen – so ähnlich wie man das tun muss, wenn man ein Objekt aus seinem Zustand gleichförmiger, geradliniger Bewegung etwa in eine kreisförmige Bahn zwingt: dann spürt das Objekt eine “Fliehkraft”. Aus der Allgemeinen Relativitätstheorie (ART) fällt zwanglos die Newtonsche Gravitationstheorie als Spezialfall heraus, und auch die Expansion des Universums, so wie wir sie beobachten. Aber es ist ziemlich schwierig, eine andere Form der Gravitation aus der ART heraus zu kitzeln, die dann nicht in irgendeiner Weise inkompatibel mit ihr wäre.
Dunkle Materie im Kessel
Nun gibt es neue Hinweise dafür, dass in Galaxien wirklich eine unentdeckte Materieform herum wabert. Nach Navarro-Frenk-White (NFW), dem Standardmodell für die Verteilung Dunkler Materie in Galaxien, das uns schon mehrfach hier begegnet ist, sollte kalte Dunkle Materie sich in den Zentren von Galaxien zu einer Art steilem “Höcker” (englisch cusp) verdichten; gemäß der Rotationskurven vieler Galaxien scheint sie jedoch tatsächlich gleichmäßiger im Zentrum verteilt zu sein (Core-Cusp-Problem).
In einer am 3. Januar veröffentlichten Arbeit von Read, Walker und Steger [2] haben die Autoren nun Belege dafür vorgelegt, dass Dunkle Materie durch massive Sternentstehung im Zentrum von Zwerggalaxien aufgeheizt und fortgeblasen werden kann, was die verschiedenen Dichteprofile im Inneren der Zwerggalaxien erklären würde.
Hochauflösende Simulationen anderer Wissenschaftler, die die Sternentstehung, das Abkühlen des Gases und die Wechselwirkungen zwischen der Bewegung des Gases und der Sternentstehung berücksichtigen, hatten ergeben, dass aufeinanderfolgende Wellen von Sternentstehung im Zentrum von Zwerggalaxien durch die Sternwinde der jungen Sterne zu einer wellenförmigen Variation der Gasdichte in den Zentren der Galaxien führen sollten. Einfallendes Gas lässt (unter anderem) kurzlebige Sterne mit starken Sternwinden entstehen, die den Gaseinfall bremsen und umkehren, so dass die Sternentstehung erlahmt, was wiederum den Einfall frischen Gases in Gang setzt, usw. Das weggeblasene Gas sollte dabei einen Teil der Dunklen Materie gewissermaßen per Gravitationstraktor mit sich fortziehen und so im Radius verschmieren. Die durcheinanderwirbelnde Dunkle Materie wird als “aufgeheizt” bezeichnet, weil sie in schnellerer Bewegung als im einfachen NFW-Fall.Der Effekt lässt sich auch mathematisch beschreiben. Damit wurde die violette Linie im Bild oben generiert, hier im Vergleich zu reinen NFW-Dichteverteilungen für verschiedene Galaxienmassen (Schwarz, Blau, Rot).
In Zwerggalaxien, in denen keine Sternentstehung mehr stattfindet, sollte sich die Dunkle Materie zu einem steilen “Höcker” im Zentrum verdichten, wie bei den reinen NFW-Kurven. In Galaxien mit aktiver Sternentstehung sollte hingegen das flachere Profil herauskommen. Wie man im Bild an der senkrechten grauen Linie erkennen kann, reicht es zu Unterscheidung die Geschwindigkeit der Sterne bei ca. 150 pc Abstand vom Galaxienzentrum zu messen. Dort unterscheiden sich die Kurven stark genug, so dass eine Beobachtung der Rotation der Sterne in diesem Radius eindeutig die Form der Kurve erkennen lässt. Andererseits ist der Abstand groß genug, um genug Dunkle Materie einzuschließen und räumliche Dichteschwankungen auszumitteln.
Kalte und warme Küchen
Die Autoren wählten nun 16 Zwerggalaxien (8 elliptische und 8 irreguläre) in der lokalen Gruppe aus (dem kleinen Galaxienhaufen, der sich um die Andromedagalaxie und die Milchstraße als größte Galaxien schart) und maßen die Rotationsgeschwindigkeiten der Sterne bzw. des Gases, aus der die innerhalb des Radius enthaltene Gesamtmasse bestimmt werden kann. Außerdem untersuchten sie die Sternpopulationen und leiteten daraus, soweit möglich, die Geschichte der Sternentstehung der jeweiligen Galaxien ab (siehe nächstes Bild). Aus den 16 in der Arbeit ermittelten Dichteprofilen seien hier exemplarisch vier ausgewählt:
Es zeigt sich genau das erwartete Verhalten: je höher die Sternentstehungsrate in jüngerer Zeit, desto flacher verläuft das Dichteprofil. Die Sternentstehung heizt die Dunkle Materie auf, die Sternwinde blasen Gas und damit indirekt die Dunkle Materie vom Zentrum der Galaxie fort, so dass sie sich auf größeren Radius verteilt. Die oben dargestellten Galaxien sind, bis auf WLM, elliptische Zwerggalaxien. WLM ist eine irreguläre Zwerggalaxie.
Die übrigen von den Autoren betrachteten aber hier nicht gezeigten elliptischen Galaxien bilden kaum noch Sterne und zeigen alle den zentralen Dichtehöcker. Die weiterhin in der Arbeit vorgestellten irregulären Galaxien, die ihre gestörten Formen durch Interaktionen mit anderen Galaxien erhielten, welche den Kollaps ihrer Gaswolken und damit die Sternentstehung anregten, haben alle einen sehr flachen Dichteverlauf.
Eine harte Nuss für MOND
Die von den Autoren durchgeführten Messungen eignen sich nun aber auch hervorragend, um alternative Gravitationstheorien zu überprüfen. Einer der Väter der MOND-Theorie, Mordehai Milgrom höchstpersönlich, hatte vorgeschlagen, zum Test der Theorie zwei Zwerggalaxien der Andromedagalaxie mit ähnlicher Masse und ähnlichem externen Feld zu untersuchen und fand die Vorhersagen von MOND über den Verlauf der Rotationskurven in ihnen bestätigt. Die Milchstraßennachbarn Draco und Carina ermöglichen einen besonders sauberen Test, da die beiden elliptischen Zwerggalaxien ähnliche Sternmassen, Radien halber Helligkeit und Abstände von der Milchstraße haben. Sie sollten mit 76 bzw. 105 kpc Entfernung schon im tiefen MOND-Regime liegen (die externe Gravitation der Milchstraße liegt in 100 kpc Entfernung bei 10-11m/s², 10 mal kleiner als die Grenzbeschleunigung a0, siehe den Artikel von Oliver Müller).Schaut man sich die Vorhersagen von MOND im Bild oben an, so passen sie nicht recht zu den gemessenen Profilen. Im Bild dargestellt ist das Verhältnis der gravitativen Masse (also Sterne plus Dunkle Materie) zur leuchtenden Masse (nur Sterne) über den Abstand vom Zentrum bis zu einem Kiloparsec. Die Messungen ergeben die breiten Bänder (1 σ [dunkel] und 2 σ [hell] Konturen). Die schmalen Linien entsprechen den MOND-Vorhersagen ohne externen Feldeffekt (durchgezogen) und mit externem Feldeffekt (gestrichelt), wobei MOND natürlich nicht wirklich verschiedene leuchtende und gravitative Massen vorhersagt, sondern nur eine scheinbar verschiedene gravitative Masse, die aus dem abweichenden Gravitationsgesetz für die vorhandene leuchtende Masse folgt – deswegen sind die gestrichelten Linien mit maximalem externen Feldeffekt konstant: leuchtende Masse = gravitative Masse. Die MOND-Vorhersagen haben einen anderen Verlauf und unterscheiden nicht zwischen der im Zentrum der Galaxien verschiedenen gravitativen Massen – Draco hat zweimal mehr Dunkle Materie im Kern als Carina. Dies erklären die Autoren damit, dass die beiden Galaxien unterschiedliche Massen der sie umgebenden Dunkle-Materie-Halos haben (was die Autoren auch gemessen haben); folglich weicht die Konzentration der Dunklen Materie auch im Inneren voneinander ab.
MOND ist hier nur exemplarisch gewählt, aber keine alternative Gravitationstheorie, die sich nur auf die Sterne als Träger der Masse stützt, kann ohne zahlreiche Zusatzbedingungen erklären (wie ein noch nicht eingetretenes Gleichgewicht, Gezeiteneinwirkung von außen o.ä.), warum die sehr ähnlichen Galaxien in ihren Rotationskurven signifikant voneinander abweichen. Ein verschiedener Anteil an Dunkler Materie kann dies jedoch erklären und ist daher das plausiblere Modell. Und die von der Sternentstehung abhängigen Dichteprofile der Zwerggalaxien belegen ebenfalls, dass Dunkle Materie ein realer Stoff ist.
Referenzen
[1] J. I. Read, M. G. Walker, P. Steger, “Dark matter heats up in dwarf galaxies“, Monthly Notices of the Royal Astronomical Society, (2019); arXiv:1808.06634.
[2] Morgan Hollis, “Dark Matter on the Move“, Royal Astronomical Society, 28.12.2018.
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