Ich unterbreche meine Urknall-Serie kurz aus aktuellem Anlass: die Planet-9-Jäger Konstantin Batygin und Michael Brown haben eine Arbeit veröffentlicht, die neue Analysen zur Natur des von ihnen gesuchten Planeten enthält und seine Existenz weiter bestärkt.
Die Dunkle Macht im Hintergrund
Die beiden Autoren hatten 2015 aus einer Häufung der Ausrichtung von Umlaufbahnen einiger extrem ferner Kuipergürtel-Asteroiden (KBO, Kuiper Belt Objects) in einem bestimmten Sektor geschlossen, dass es weit draußen im Sonnensystem bei ca. 700 AE Entfernung von der Sonne noch einen Planeten von ca. 10 Erdmassen geben müsse, der die Gleichrichtung der Orbits verursacht. 10 Erdmassen sind etwas mehr als die Hälfte der Neptunmasse (17 Erdmassen). Bei dieser Masse wäre das Objekt gerade an der Grenze zwischen einer Supererde und einem Mini-Neptun, also entweder einem Objekt mit fester Oberfläche oder einem deutlich größeren Gasplaneten, je nachdem, wie er zusammengesetzt wäre.
Mittlerweile wurden weitere Kuipergürtelobjekte mit auffälligen Bahnen gefunden, die eine zufällige Häufung der Bahnausrichtungen unwahrscheinlich machen und die verlässlichere Analysen erlauben. Die Autoren führten tausende Simulationen durch und konnten die Eigenschaften von Planet 9 und seiner Bahn besser als zuvor bestimmen. Die neue Arbeit fasst die gesamte “Theorie 2.0” auf satten 92 Seiten zusammen (die Autoren nennen sie vorsichtiger Hypothese). Ich möchte hier die wesentlichen Grafiken zeigen und erläutern, wie die Autoren auf die neuen Parameter des gesuchten Planeten geschlossen haben.
Worum es geht
Zunächst ein Bild, das die Elemente einer Planetenbahn vorstellt, also die charakteristischen Größen, die eine solche Bahn genau bestimmen. Man muss sich die nicht alle merken, aber die Exzentrizität e, die Inklination i und die Länge des Perihels ϖ (eine variante Schreibweise des griechischen Buchstaben Pi) sollte man im Hinterkopf behalten.
Die Exzentrizität gibt an, wie abgeflacht die Bahnellipse ist: der Wert kann für Ellipsen von 0 (kreisförmig) bis unter 1 (parabelförmig) reichen; Ellipsenbahnen haben also 0 ≤ e < 1. Die Inklination i besagt, wie stark die Planetenbahn gegen die Erdbahn geneigt ist (0°-180°; >90° bedeutet ein Umlauf gegen die Richtung der Erde um die Sonne) und die Länge des Perihels ϖ ist die Summe aus der Länge des aufsteigenden Knotens Ω und dem Argument des Perihels ω (Winkel zwischen Knotenlinie und Linie des Perihels), wie im Bild rechts zu sehen.

Elemente einer Planetenbahn. Oben links die Bahnellipse mit großer Halbachse a, kleiner Halbachse b, Periheldistanz q (von der gelben Sonne aus gemessen) und Exzentrizität e, die bei Kreisbahnen 0 und bei Parabeln 1 ist (a·e ist dann der Abstand der Sonne vom Zentrum der Ellipse). Rechts die Orientierung der Bahn im Raum: in grün die Ebene der Erdbahn (Ekliptik), welche die Planetenbahn entlang der roten Linie schneidet. Der Schnittpunkt, wo der Planet die Ekliptik nach oben (Norden) durchstößt, heißt aufsteigender Knoten (gegenüber liegt dann der absteigende Knoten) die rote Linie Knotenlinie (die eigentlich durch beide Knoten geht). Die Neigung der Planetenbahn zur Ekliptik heißt Inklination i. Der schwarze Pfeil nach links gibt eine Referenzrichtung der Winkelzählung an (dies ist die Richtung zum Frühlingspunkt, wo die Sonne von der Erde aus gesehen zu Frühlingsanfang steht). Der Winkel Ω (groß Omega) gibt die Länge des aufsteigenden Knotens an. Der Winkel ω (klein Omega) von der Knotenlinie zum sonnennächsten Punkt der Bahn (Perihel) heißt Argument des Perihels. Die Summe aus Ω und ω heißt Länge des Perihels ϖ (Pi). Und die ist bei bestimmten Kuiper-Gürtel-Objekten ähnlich orientiert. Bild: [1], arXiv, gemeinfrei.

Orbits aller KBOs mit großen Halbachsen a > 250 AE, Periheldistanzen q >30 AE und Inklinationen i < 30°. Die violetten Bahnen mit q > 40 AE sind stabil über die Lebensdauer des Sonnensystems. Grüne Bahnen kommen Neptun (30 AE) nahe und sind nicht langfristig stabil. Graue Bahnen liegen dazwischen (metastabil). Wie man sieht, häufen sich die Perihellängen vor allem der violetten Bahnen in einem ca. 120°-Sektor. Links oben in Polarkoordinaten, wohin die senkrecht auf den Bahnen stehenden Drehimpuls-Pfeile der Bahnen am Himmel weisen (Orientierung der Bahnebenen). Sie gruppieren sich um eine Richtung, die mit dem Zeichen ⊗ markiert ist und etwa abseits des Pols der Ekliptik liegt. Bild: [1], arXiv, gemeinfrei.
Was das Problem ist
Man könnte nun sagen, na und, Zufall oder schlechte Auswahl (im Bereich des Milchstraßenbandes ist es schwerer, die lichtschwachen KBOs im Sterngewimmel aufzustöbern, was einen Richtungs-Bias verursacht), aber Brown hat berechnet, dass die Chance für eine zufällige Ausrichtung oder voreingenommene Auswahl kleiner als 0,2% ist.
Man könnte einwenden, gut, hat vielleicht ein vorbeifliegender Stern die Bahnen in einer Richtung in die Länge gezogen, aber diese Ausrichtung ist langfristig nicht stabil – die inneren Planeten, vor allem Jupiter, verursachen eine Wanderung der Perihelia – entfernungsabhängig! – in der Größenordnung von bis zu 1° in einer Million Jahren – in wenigen 100 Millionen Jahren (im Vergleich zum Alter des Sonnensystems ist das nichts) wären die Bahnen völlig über den Vollkreis zerstreut.
Außerdem ist unklar, wie Objekte überhaupt auf Bahnen mit Perihelia von teils über 40 AE gelangt sind. Neptun kann sie zwar auf große Halbachsen-Werte streuen, aber sie müssten immer wieder zur Neptunbahn zurückfallen. Etwas muss sie im sonnenfernsten Punkt beschleunigt haben, nur so kann das Perihel angehoben worden sein. Benachbarte Sterne sind dafür zu weit entfernt. Darüber hinaus gibt es Objekte (hier nicht dargestellt), die Inklinationen von 50° bis über 90° aufweisen – letztere umkreisen die Sonne retrograd, gegen den Umlaufsinn der Planetenbahnen. Aus solchen Bahnen können diese Objekte nicht entstanden sein.
Eine Supererde kommt zur Hilfe
Was jedoch die Bahnen stabilisieren kann, ist ein weiterer, noch unentdeckter massiver Planet jenseits dieser Bahnen, dessen Länge des Perihels dem vorgenannten Häufungssektor gegenüber steht:

Analytische Betrachtung der “Apsiden-Dynamik” (Aphel und Perihel werden unter dem Begriff Apsiden zusammengefasst) von KBO-Bahnen unter dem Einfluss eines Planeten 9 mit 5 Erdmassen, 500 AE großer Halbachse, Exzentrizität 0,25 und Inklination 20°. Die vier Bilder betrachten verschieden große Halbachsen der KBO-Bahnen (200, 300, 400 und 500 AE). Auf der y-Achse ist jeweils die Exzentrizität e der Bahn, auf der x-Achse die Differenz Δϖ der Perihellänge zu derjenigen von Planet 9 dargestellt, wie sie sich über lange Zeiträume (viele Sonnenumläufe) allmählich entwickeln würden. Für 200 AE rollt Δϖ kontinierlich nach rechts über alle Winkel (apsidal rotation oder Periheldrehung) und die Exzentrizität ist vorwiegend klein. Bei mehr als 250 AE werden die Längen der Perihelia um die gelben Bereiche um Δϖ≈180° eingeschlossen, also dem Perihel des Planeten 9 gegenüber liegend, und schwanken dort (apsidal libration). Die Exzentrizitäten sind nun hoch – genau so, wie es für die zuvor vorgestellten KBOs der Fall ist. Bild: [1], arXiv, gemeinfrei.
Eine ähnliche Analyse ergibt, dass die Drehimpulsachsen jenseits von a=250 AE um den des Planeten 9 kreisen, so wie das im vorletzten Bild oben links zu erkennen war.
Wie super ist Planet 9?
Um diese Erkenntnisse zu verifizieren und die bestmöglichen Parameter für Planet 9 zu finden, führten die Autoren zahlreiche Simulationen mit verschiedenen Planet-9-Bahnen und -Massen durch, wobei jedesmal die Bahnen tausender KBOs in verschiedenen Sonnenabständen betrachtet wurden. Hier ein paar Beispiele:

Streuung der Perihellänge in Simulationen für verschiedene Planet-9-Parametersätze (siehe Beschriftungen rechts). Linke Spalte: Simulationen mit allen inneren Planeten Jupiter, Saturn, Uranus, Neptun und Planet 9 (JSUNP9), rechte Spalte: nur Neptun und Planet 9 J2NP9). Auf den y-Achsen die Distanz Δϖ der Länge des Perihels zu der von Planet 9, auf der x-Achse die große Halbachse der KBO-Bahnen. Jenseits einer “kritischen” großen Halbachse ac werden die Perihellängen von KBOs mit Perihelia zwischen 30 und 100 AE (blaue Punkte) in einem schmalen Bereich um Δϖ=180° festgehalten. ac hängt empfindlich von der Masse von Planet 9 ab. Die realen KBOs sind, farbkodiert wie in den vorherigen Bildern, als Kreise eingezeichnet. Über den Diagrammen ist noch die apsidal confinement fraction fw (etwa: Apsiden-Einschlussrate) angegeben, das ist derjenige Anteil der simulierten blauen KBOs, der rechts von ac in den gestrichelten Kasten von 180° Breite in Δϖ fällt. Bild: [1], arXiv, gemeinfrei.
Die folgenden Diagramme sind da hilfreicher. Sie zeigen in den linken Bildern die Perihellängendifferenz als Außenwinkelkoordinate und die Exzentrizität der Bahn als Radius. Die blauen KBOs werden wieder in einem Längensektor gegenüber von Planet 9 zusammen gedrängt, welcher selbst rechts der Bildmitte im Zentrum der Konturlinien sitzen würde.

Linke Spalte: Polardiagramme mit der Perihellängendifferenz zu Planet 9 auf dem umlaufenden Winkel und der Bahnexzentrizität auf dem Radius; Exzentrizität 1 befindet sich am Außenrand, 0 in der Bildmitte. Oben ein Planet 9 mit 5 Erdmassen, Mitte mit 10, unten mit 20. Rechte Spalte: Polardiagramme mit der Knotenlängendifferenz zu Planet 9 auf dem umlaufenden Winkel und der Inklination auf dem Radius; die simulierten Objekte gruppieren sich um einen Schwerpunkt (gelber Punkt), der von den Autoren forced equilibrium, erzwungenes Gleichgewicht, genannt wird. Sein Abstand vom Mittelpunkt ist über den Diagrammen als forced equilibrium action angegeben. Die Werte streuen entsprechend des gelben durchgezogenen Kreises. Die überlagerten realen Objekte haben ihren Gleichgewichtspunkt im gelben Zielkreis mit einer gestrichelten Linie für die Streuung. Die Daten der realen KBOs passen am besten zu den Diagrammen in der ersten Zeile mit 5 Erdmassen. Bild: [1], arXiv, gemeinfrei.
Wie man sieht, passen die überlagerten realen Objekte sehr gut zu einem Planeten 9 von 5 Erdmassen, etwas schlechter zu einem von 10, und gar nicht gut zu einem von 20. Der gesuchte Planet ist also offenbar eher eine leichtgewichtige Supererde als ein Mini-Neptun. Und er ist dann auch näher als die massiveren Kandidaten.
Das ganze Gedöns
Dies waren einzelne Parametersätze zur Demonstration, wie geeignete Parameter von Planet 9 die Beobachtungen reproduzieren können. In den letzten Bildern wird noch einmal eine Gesamtübersicht über alle Simulationen gegeben. Jeder Punkt ist eine Simulation mit einem Satz von Parametern. Auf der x-Achse sind die simulierten Exzentrizitäten von Planet 9 dargestellt, die Farben geben von dunkelblau bis hellgrün zunehmende Inklinationen von 10° bis 35° wieder.
In den jeweils oberen beiden kleinen Diagrammen sind links die Apsiden-Einschlussraten bzw. die Winkel der forced-equilibrium-Punkte auf der y-Achse dargestellt. Nur die weißen Bereiche sind verträglich mit den Daten.
Im jeweils unteren großen Diagramm sind die Simulationen als Kreise dargestellt. Der Durchmesser der Kreise entspricht der Streuung der forced-equilibrium-Werte (entsprechend dem Durchmesser der gelben Kreise im vorigen Bild), auf der y-Achse die Abweichung des forced-equilibrium-Punkts vom Zentrum des Koordinatensystems (Abstand gelber Punkt vom Mittelpunkt im vorigen Bild). Der zulässige Bereich ist in der Mitte orangefarben hervorgehoben. Nur solche Simulationen sind farbig mit dem Inklinationswinkel dargestellt, die in den ersten beiden Bildern in den zulässigen Bereich fallen.
Die am besten passenden Simulationen sind in allen Bildern mit grauen Kästen umrahmt.

Gesamtübersicht über die Simulationen. Oben links jeweils die Apsiden-Einschlussrate, oben rechts der Winkel des forced-equilibrium-Punkts und unten der forced-equilibrium-Abstand (vgl. voriges Bild) auf der y-Achse. Auf der x-Achse die Exzentrizität von Planet 9. Jeder Kreis ist eine Simulation. Die Farbe gibt den Inklinationswinkel an (im großen Bild nur für Simulationen, die in den kleineren Bildern verträglich mit den Daten sind, helle Bereiche). Die 2 besten Simulationen sind jeweils mit grauen Kästen umrahmt. Oben: 5 Erdmassen, Mitte: 10 Erdmassen, unten: 20 Erdmassen. Bild: [1], arXiv, gemeinfrei.
Es stellt sich vor: Planet 9
Die besten Simulationsergebnisse werden für einen Planeten mit 5 bis höchstens 10 Erdmassen, einer Inklination von 15°-25°, einem mittleren Sonnenabstand von 400-800 AE und einer Exzentrizität von 0,2 bis 0,5 erzielt, wobei die kleineren Werte die besseren Ergebnisse liefern. Damit wäre Planet 9 eine echte Supererde mit 2,5-3,5 Erddurchmessern und kein Mini-Neptun. Er wäre bis zu halb so massiv wie ursprünglich angenommen und entsprechend kleiner. Das wäre jedoch kein Nachteil für seine Auffindbarkeit, ganz im Gegenteil: je weniger Masse er hätte, desto näher müsste er der Sonne und der Erde sein (höchstens 625 AE im Aphel, statt bis zu 1160 AE bei 10 Erdmassen). Das macht ihn sowohl aufgrund der kleineren Entfernung zu uns heller, als auch wegen der in größerer Sonnennähe helleren Beleuchtung, und insgesamt macht dies den kleinen Verlust an reflektierender Fläche weit mehr als wett.
Im letzten Bild ist die mögliche Himmelsregion und die erwartete Helligkeit des mutmaßlichen Planeten angegeben.

Auffindbarkeit von Planet 9. Oben die mutmaßliche Lage der Bahn am Himmel im Vergleich zur Ekliptik und dem Milchstraßenband, wo ein Objekt schwierig auffindbar ist. Unten die Helligkeit über die Längenkoordinate am Himmel (Rektaszension). Alles unter der gestrichelten Linie scheidet wegen der Himmelsdurchmusterung Pan-STARSS aus, sonst wäre Planet 9 schon gefunden. Er kann sich nur in den zwei Lücken oder oberhalb der Linie im gelben Bereich befinden. Die niedrigere Masse spricht für eine größere Helligkeit (unterer Bereich der gelben Zone). Bild: [1], arXiv, gemeinfrei.
Dann sollte er sich auch aufspüren lassen. Falls Batygin und Brown recht behalten sollten.
Referenzen
[1] Konstantin Batygin, Fred C. Adams, Michael E. Brown, and Juliette C. Becker, “The Planet Nine Hypothesis“, Elsevier Physics Reports, 10. Februar 2019; arXiv:1902.10103.
[2] Konstantin Batygin, “The Search for Planet Nine – version 2.x“, Find Planet Nine Blog, 26. Februar 2019.
[3] Konstantin Batygin Tweets auf Twitter, @kbatygin, 27. Februar 2019.
Kommentare (43)