Ein Traum der Astronomen wäre, ein Stück Sternenstaub untersuchen zu können. Materie, die von einem anderen Sternensystem stammt. Leider haben wir keinen Warp-Antrieb, mit dem wir eine Sonde zu anderen Sternen schicken können, um dort Proben zu nehmen und zur Erde zur bringen.
Man geht davon aus, dass bei der Entstehung von Planetensystemen zahlreiche Asteroiden und Kometen von den entstehenden Planeten ins All befördert werden und somit andere Sterne erreichen können. Es dauerte jedoch bis zum Jahr 2017, bis man den ersten zweifelsfreien Besucher aus einem anderen Sternensystem gefunden hatte. Es war das Objekt 1I/’Oumuamua, nach letzten Erkenntnissen vielleicht ein zerbrochener, erloschener Komet aus einem anderen Sternensystem. Zu gerne hätte man ihn näher untersucht, aber man entdeckte ihn erst nach seiner Annäherung an die Sonne, als er schon wieder auf dem Weg aus dem Sonnensystem heraus war, und wegen seiner hohen Geschwindigkeit ist er schon längst weiter weg als der Saturn von der Sonne. Mangels Warp-Antrieb und wegen der langen Entwicklungszeit ist er damit kaum noch erreichbar für eine Raumsonde, erst recht wenn diese ihn nicht einfach einholen und passieren soll, sondern bei ihm bleiben. Bleibt also nichts übrig, als auf den nächsten Kandidaten zu warten, zu dem man eine Raumsonde vielleicht rechtzeitiger wird schicken können.
Nun berichten zwei Wissenschaftler von der Harvard Universität in Cambridge, Massachusetts, dass man vielleicht gar nicht warten muss und schon gar keine Raumsonde braucht. Und belegen dies mit einem interstellaren Besucher, der schon im Jahr 2014 die Erde erreichte.
Wer in Eile ist, macht sich verdächtig
Woher weiß man überhaupt, ob ein Asteroid aus dem Sonnensystem stammt, oder nicht? Das ist überraschend einfach. Man muss ihn dafür nicht mit Spektrometern auf eine ungewöhnliche Zusammensetzung untersuchen oder dergleichen – man muss sich nur seinen Orbit ansehen. Eigentlich nicht einmal das, es reicht seine Geschwindigkeit zu bestimmen. Objekte, die zum Sonnensystem gehören, können nämlich niemals die Fluchtgeschwindigkeit der Sonne überschreiten. Denn dann hätten sie so viel Schwung, dass die Sonne sie mit ihrer Schwerkraft nicht einmal im Unendlichen bis auf 0 verlangsamen und zurückholen könnte. Ein Objekt, dass im Unendlichen gerade noch von der Sonne zum Stillstand gebracht werden könnte, hätte genau die Fluchtgeschwindigkeit. Aus Symmetriegründen gilt umgekehrt: ein Objekt, das aus dem Zustand der Ruhe (relativ zur Sonne) aus dem Unendlichen von der Sonne angezogen wird, erreicht genau ihre Fluchtgeschwindigkeit. Ein Objekt, das schneller unterwegs ist, muss vorher schon eine Geschwindigkeit in Richtung der Sonne gehabt haben und startete nicht aus relativer Ruhe. Zum Beispiel, weil es aus einem anderen Planetensystem fortgeschleudert wurde.
Die Fluchtgeschwindigkeit der Sonne ist – wie auch die Geschwindigkeit eines Kreisorbits – abhängig von der Entfernung zur Sonne und beträgt , wobei r die Entfernung von der Sonne ist. Das ist um den Faktor -mal höher als die Kreisbahngeschwindigkeit in der entsprechenden Entfernung; für die Erdbahn mit Kreisbahngeschwindigkeit von 29,8 km/s wären es 42,1 km/s, im Gegensatz zu 617 km/s von der Sonnenoberfläche oder 7,7 km/s von der Neptunbahn aus. Wenn ich hier von “der” Fluchtgeschwindigkeit schreibe, meine ich natürlich stets die Fluchtgeschwindigkeit für jeweilige Entfernung des Objekts von der Sonne. Ein Objekt, das irgendwo die Fluchtgeschwindigkeit der Sonne für den dortigen Abstand hat, hat sie aufgrund der Beschleunigung durch die Sonne auch an jedem anderen Ort.
Weiß man also die Entfernung von der Sonne und die Geschwindigkeit eines Asteroiden, dann kann man sofort aussagen, ob er zum Sonnensystem gehört oder von außen kommt. In der Praxis braucht es ein paar Beobachtungen, um die Orientierung der Bewegungsrichtung und damit die Raumgeschwindigkeit zu ermitteln und dann erhält man auch eine grobe Bahn. Eine Bahn mit weniger als Fluchtgeschwindigkeit ist ellipsenförmig und somit geschlossen, die Exzentrizität (bei Ellipsen ein Maß für die Abgeflachtheit der Bahn) ist < 1. Eine Bahn mit exakt Fluchtgeschwindigkeit hat die Form einer Parabel und die Exzentrizität 1, quasi eine halbe Ellipse, deren Mittelpunkt im Unendlichen liegt. Eine Bahn mit mehr als Fluchtgeschwindigkeit ist schließlich hyperbelförmig und hat eine Exzentrizität > 1.
Vor ‘Oumuamua hatte man ein paar Bahnen mit Exzentrizitäten sehr knapp über 1 gefunden, die entweder Messfehler sein konnten oder durch einen natürlichen Swing-By des Objekts an einem Planeten verursacht, bei dem das Objekt ein wenig beschleunigt wurde und so erst auf eine Hyperbelbahn gelangt war. Bei ‘Oumuamua beträgt die Exzentrizität fast 1,2 – zu groß, um von einem Planeten verursacht worden zu sein, zumal die Bahn fast senkrecht zur Ebene der Planetenbahnen verläuft und ‘Oumuamua somit keinem Planeten nahe gekommen sein konnte. Deswegen war die Schlussfolgerung hier eindeutig: es handelte sich um einen interstellaren Besucher.
Die Falle schnappt zu
Amir Siraj und Avi Loeb hatten sich nun überlegt, dass unter Umständen auch Meteore von extrasolaren Meteoroiden oder Asteroiden verursacht worden sein könnten, und dass man sie an ihrer Geschwindigkeit würde identifizieren können. In der beobachteten Endgeschwindigkeit des Meteors addiert sich zur Geschwindigkeit des Ursprungskörpers noch die der Erde und die von der Erdanziehungskraft verursachte Fallbeschleunigung. Siraj und Loeb haben nun den Meteorkatalog des CNEOS, des NASA JPL Center for Near Earth Object Studies, nach Boliden durchsucht, deren Kombination aus Einfallsrichtung und Geschwindigkeit eine heliozentrische (also auf die Sonne bezogene) Geschwindigkeit von mehr als der Fluchtgeschwindigkeit auf Höhe der Erdbahn ergibt. Dabei fanden sie drei Kandidaten, wobei der Drittschnellste im Rahmen der Messgenauigkeit auch aus dem Sonnensystem stammen könnte.
Der schnellste Bolide war derjenige vom 8. Januar 2014, 17:05 UT, der über der zu Papua-Neuguinea gehörenden Insel Manus im Südpazifik verglüht war und von ‘US-Regierungssensoren’ entdeckt worden war (vermutlich Satelliten und/oder Infraschall-Mikrofonen, wie sie zur Entdeckung von Kernexplosionen verwendet werden). Der Meteor verglühte laut Katalog in einer Höhe von 18,7 km und hatte eine Einschlagsenergie von 110 Tonnen TNT-Äquivalent. Seine Einschlagsgeschwindigkeit betrug ca. 44,8 km/s. Aus Geschwindigkeit und Energiefreisetzung kann man auf eine Masse von 460 kg und bei einer angenommenen Dichte von 0,9 bis 1,7 g/cm³ auf einen Durchmesser von 0,9 bis 1 m schließen.
Unter Berücksichtigung seiner Annäherungsrichtung, aus der er die Erde auf ihrer Bahn einholte, folgt dass er mit rund 60 km/s relativ zur Sonne unterwegs war. Das ist deutlich mehr als die Fluchtgeschwindigkeit der Sonne auf Höhe der Erdbahn. Selbst unter Berücksichtigung von Unsicherheiten kann man sehr sicher davon ausgehen, dass der Meteoroid nicht aus dem Sonnensystem stammen kann: typischerweise liegen die Unsicherheiten in der Geschwindigkeitsbestimmung der CNEOS-Boliden von 1-m- Kaliber bei nur 1 km/s, aber einige wenige Objekte haben bis zu 28% Unsicherheit. Der Manus-Meteoroid war aber gemäß den CNEOS-Daten um 45% schneller unterwegs als die Fluchtgeschwindigkeit der Sonne.Stimmt der Wert, so hatte der Meteoroid eine Exzentrizität von 2,4! Rechnet man die Bahn zurück, so kommt sie von einer Position im Sternbild Stier. Die Geschwindigkeit im Unendlichen relativ zur Sonne läge bei 43,8 km/s und wiche um 60 km/s von der Geschwindigkeit ab, mit der Sterne in der Umgebung der Sonne im Mittel um das Zentrum der Milchstraße kreisen (Local Standard of Rest). Die hohe Geschwindigkeit könnte einen Ursprung etwas außerhalb der Ebene der Milchstraßenscheibe andeuten (“thick disk”), wo die Sterne früherer Galaxienkollisionen mit ziemlich großer Geschwindigkeitsdispersion umher sausen, oder auch aus der inneren Milchstraße, wo die Sterne schneller kreisen. In beiden Fällen wäre der Meteoroid von sehr weit her zu uns gekommen. Und es wäre zu schön, wenn man ein paar auf den Boden gefallene Meteoriten von ihm fände, aber die dürften irgendwo unauffindbar in der südpazifischen Tiefsee auf dem Meeresgrund liegen.
Einmal ist keinmal
Aber wo ein interstellarer Meteor ist, gibt es deren vielleicht noch mehr. Insgesamt fanden die Autoren 3 potenzielle interstellare Boliden im Katalog, der einen Zeitraum von 30 Jahren abdeckt, wobei die Abdeckung im vergangenen Jahrzehnt deutlich besser als in den 20 Jahren zuvor war. Siraj und Loeb stellen auf dieser Basis eine sehr grobe über-den-Daumen-Abschätzung auf, nämlich dass alle 10 Jahre ein interstellares Objekt dieser Größenordnung mit der Erde kollidieren sollte, und kommen, hochgerechnet von der Größe des Erdquerschnitts als Trefferfläche, auf rund eine Million Objekte (mit Fehlergrenzen von 30.000 bis 6.000.000) pro ‘Astronomischer Kubik-Einheit’ (AE³). Dann müssten die Sterne bei der Planetenentstehung allerdings im Mittel jeweils zwischen 0,2 bis 20 Erdmassen an Materie aus ihren protoplanetaren Scheiben in die Milchstraße katapultieren, ein recht hoher Wert angesichts der bisherigen Annahme, dass eine typische protoplanetare Scheibe innerhalb des Radius, in dem Objekte mit 60 km/s kreisen, nur rund eine Erdmasse an Material enthält. Zusammen mit der aus einer anderen Arbeit gefolgerten Häufigkeit von ‘Oumuamua-großen (ca. 200 m durchmessenden) interstellaren Asteroiden von 0,2/AE³ kommen sie jedoch auf eine Häufigkeitsverteilung in Abhängigkeit vom Durchmesser, die gut verträglich ist mit der entsprechenden Verteilung im Kuiper-Gürtel, was ihre Häufigkeitsschätzung stützt.
Stimmt die Zahl, dann wurde die Erde bisher von 450 Millionen (Fehlerintervall von 15 Millionen bis 2,5 Milliarden) Boliden ähnlicher Größe getroffen und der eine oder andere Krümel Sternenstaub könnte auf dem nächsten Acker oder im Schrank eines Meteoritensammlers seiner Entdeckung harren. Kann man der Objekte selbst nicht habhaft werden, so wäre wenigstens ein Spektrum des Meteors interessant (wozu es nur deutlich kleinerer und entsprechend häufigerer Meteore von Sandkorn- bis Kieselsteingröße bedürfte). Ein solches ist sogar mit guter Amateurausrüstung machbar. Vielleicht ist die Entdeckung des interstellaren Meteors ja der Initialzünder für die systematische Aufnahme von Meteorspektren.
Vielleicht braucht es also gar keinen Warp-Antrieb, um zu den Sternen zu gelangen, weil sie uns gewissermaßen vor die Füße fallen. Wir müssen nur nach ihnen suchen.
Referenzen
[1] Amir Siraj, Abraham Loeb, “Discovery of a Meteor of Interstellar Origin”, eingereicht am 15. April 2019; arXiv:1904.07224.
[2] Charles Q. Choi, “The First Known Interstellar Meteor May Have Hit Earth in 2014“, Space.com, 16.04.2019.
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