Die tägliche Erfahrung lehrt uns: was vorbei ist, ist vorbei. Glücklich ist, wer vergisst, was nicht mehr zu ändern ist. Und die Zukunft scheint unbestimmt. Prognosen seien schwierig, heißt es, besonders wenn sie die Zukunft beträfen. Insofern scheint das einzig greifbare die Gegenwart zu sein. Das, was gerade passiert, ist die harte Realität. Alles andere existiert (noch) nicht (mehr).
Die zeitige Dreifaltigkeit
Diese in der Philosophie als “Präsentismus” bezeichnete Sichtweise vertrat schon der griechische Philosoph Platon Ende des 5./Anfang des 4. Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung. Für ihn hatten nur die “Ideen” bestand (heute würden wir dazu “Modelle” oder “Information” sagen), während die Dinge selbst flüchtig und vergänglich seien. Der Theologe und Kirchenlehrer Augustinus von Hippo übernahm im 4. Jahrhundert unserer Zeitrechnung Platons Sicht auf die Zeit. In seinem Buch “Confessiones” schrieb er (11. Buch, 20. Kap./26. Abschnitt):
Die Behauptung, des gebe drei Zeiten, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, trifft nicht im strengen Sinne zu. Im strengen Sinne müsste man wohl sagen: es gibt drei Zeiten, die Gegenwart von Vergangenem, die Gegenwart von Gegenwärtigem und die Gegenwart von Zukünftigem. Denn diese drei sind in einem gewissen Sinne im Geiste, und anderswo finde ich sie nicht: die Gegenwart des Vergangenen als Erinnern (memoria), die Gegenwart des Gegenwärtigen als Anschauen (contuitus), die Gegenwart des Zukünftigen als Erwarten (expectatio).
Anders gesagt sind für Augustinus Vergangenheit und Zukunft nur in den Gedanken präsent und damit existent – als Erinnerung an die Vergangenheit und als Erwartung oder vielleicht auch Vorhersage der Zukunft.
Hinterher ist man schlauer
Schon die Erkenntnis, dass Licht sich nur endlich schnell fortbewegt, erschüttert diese Ansicht im astronomischen Kontext. Für uns real ist das, was wir gerade jetzt wahrnehmen. Tatsächlich nehmen wir um uns herum aber stets nur Vergangenes wahr. Schon unseren Gesprächspartner sehen wir mit ein paar Milliardstel Sekunden (Nanosekunden) Verzögerung – das Licht legt knapp 30 cm in einer Nanosekunde zurück -, was allerdings, wie auch die weitaus höhere Verzögerung des Schalls der Sprache um einige Millisekunden, vollkommen in der Trägheit der Informationsverarbeitung unseres Gehirns untergeht. Deutlicher wird der Laufzeitunterschied von Blitz und Donner im Gewitter. Ist der Donner nicht schon eine reale Manifestation der Vergangenheit?
Und schließlich der Sternenhimmel: schon der Mond ist 1,3 Lichtsekunden entfernt, die Sonne 8 Lichtminuten 20, die Planeten einige Minuten bis Stunden an Lichtlaufzeit. Den Laufzeitunterschied des Lichts von Jupiter, wenn er einmal auf der gegenüberliegenden Seite der Sonne seine Bahn zieht und ein halbes Jahr später in seiner Oppositionsstellung bei größter Erdnähe, nutzte bereits Ole Rømer 1676, um zu zeigen, dass das Licht nicht unendlich schnell war – die Verfinsterung des Jupitermondes Io fand bei fernem Jupiter seiner Messung gemäß 22 Minuten später statt, als aufgrund der Beobachtung der Umlaufperiode dieses Jupitermondes zu erwarten war. Tatsächlich sind es 16:40 Minuten, aber für den damaligen Stand der Uhrentechnik war Rømers Wert schon ein recht genaues Ergebnis. 2 Jahre später nutzte Christiaan Huygens den Wert für die allererste Bestimmung der Lichtgeschwindigkeit: 221.000 km/s. Etwas zu niedrig, aber die Größenordnung stimmte. Zu den Ungenauigkeiten der Zeitmessung kam hinzu, dass die Entfernungen der Planeten noch sehr unsicher waren. Erst nachdem man die Entfernung zu Mars und Venus trianguliert hatte, folgte aus Keplers drittem Gesetz auch der Abstand der Erde zur Sonne, der hier zweimal eingeht.
Noch weiter hinaus geht der Blick in den Sternenhimmel. Schon der nächste Stern ist 4 Lichtjahre und 73 Lichttage entfernt und wir sehen heute sein Licht von Anfang Januar 2016. Drama-Queen Beteigeuze ist bereits an die 700 Lichtjahre entfernt. Wir sehen ihn im Licht aus der Zeit, als bei uns tiefstes Mittelalter herrschte, und theoretisch (wenn auch nicht sehr wahrscheinlich) könnte er bereits nicht mehr existieren. Ein paar mit dem Feldstecher sichtbare Kugelsternhaufen sind zehntausend und mehr Lichtjahre entfernt, ihr Licht stammt aus der Zeit, als der Mensch sesshaft wurde und mit dem Ackerbau begann. Die in unseren Breiten leider unsichtbaren Magellanschen Wolken warten mit Licht aus der Zeit auf, als unsere Art Homo Sapiens entstand. Und mit einem Superteleskop in der Andromeda-Galaxie könnten dortige Beobachter die ersten Vertreter der Gattung Homo durch die afrikanische Steppe streifen sehen.
Kosmologisch gesehen ist das aber noch nebenan, auf diese lächerliche Entfernung greift noch nicht einmal die kosmische Expansion. Nein, dafür muss man schon Galaxien betrachten, deren Licht aus der Zeit der Saurier stammt. Unser Blick reicht aber noch viel weiter in die Vergangenheit, weiter als das Alter der Erde. Mit Radiowellen ertasten wir Strahlung, die nur 380.000 Jahre jünger ist als das Universum selbst. Und dahinter ist uns bislang der Blick durch den Feuerball des Plasmas im frühen Universum verwehrt (theoretisch könnten Gravitationswellen oder Neutrinos uns noch näher an den Urknall blicken lassen, aber bislang konnten wir solche Signale noch nicht aufspüren).
(K)ein Jetzt für Jedermann
Wir blicken innerhalb des Lichtkegels in die Vergangenheit, und alles außerhalb des Lichtkegels ist für uns (noch) nicht real. Dennoch können wir über die Lichtlaufzeit im Nachhinein berechnen, welche Ereignisse mit unserer Jetztzeit gleichzeitig stattfanden – wie ich dies in den Beispielen oben bereits getan habe, als ich Ereignisse auf der Erde zur Lichtlaufzeit in Beziehung gesetzt habe. Wie am Beispiel von Beteigeuze gesehen könnte der Stern jetzt möglicherweise schon Geschichte sein. Und mit dem Entfernungsmaß Eigendistanz rechnen wir die Distanz zu Galaxien aus, die sie bei fortschreitender Expansion heute von uns haben würden, wenn man sie ohne Zeitverzögerung mit einem Maßband messen könnte.
Insofern scheint Eindeutigkeit zu herrschen: Der Lichtkegel wird an der schmalsten Stelle von einer Gegenwarts-Ebene durchschnitten (als 4. Dimension für die Zeit ist diese Ebene in Wahrheit der dreidimensionale Raum) und trennt die Vergangenheit von der Zukunft. Die Gegenwart ist real, auch wenn ihre Signale uns erst zukünftig erreichen und wir tatsächlich nur die Vergangenheit sehen können.
Mit diesem scheinbar einleuchtenden Bild räumte jedoch ein Mitarbeiter des Schweizer Patentamts in Bern vor 115 Jahren radikal auf. Die Rede ist natürlich wieder von Albert Einstein. Gemäß der Relativitätstheorie ist die Gegenwart für verschieden schnell bewegte Beobachter nicht ein- und dieselbe.
Einsteins Gedankenexperiment dazu sieht wie folgt aus: man denke sich einen Zug, der mit sehr hoher Geschwindigkeit durch einen Bahnhof fährt. In dem Zug befindet sich in der Mitte eines Waggons eine Blitzlichtlampe und zwei Fotozellen an den Waggonenden, eine am in Fahrtrichtung vorderen Ende, eine am hinteren Ende, die den Lichtblitz registrieren. Da sich der Zugpassagier gemäß der Relativitätstheorie in Ruhe verharrend wähnen kann und das Licht sich demgemäß aus seiner Sicht symmetrisch von der Lampe ausbreitet, erreicht der Blitz, nachdem er ausgelöst wurde, die beiden gleich weit entfernten Sensoren an den Waggonenden gleichzeitig. Zwei durch die Sensoren ausgelöste Signallampen könnten dann gleichzeitig für ihn aufblinken; ihr Licht legt den gleichen Weg in der gleichen Zeit zum Beobachter zurück wie der Lichtblitz zuvor, nur in umgekehrter Richtung.
Ein Beobachter auf dem Bahnsteig sähe aber etwas völlig anderes. Das Licht breitet sich für ihn ebenfalls mit der gewohnten Geschwindigkeit in Fahrtrichtung und gegen die Fahrtrichtung des Zuges aus, ohne dass die Geschwindigkeit des Zuges darauf irgend einen Einfluss haben könnte. Das Licht, das sich zum vorderen Waggonende bewegt, muss diesem jedoch hinterher eilen und erreicht es verspätet. Das hintere Waggonende bewegt sich hingegen auf die Lichtquelle zu und verkürzt die Lichtlaufstrecke, so dass es früher getroffen wird. Keinesfalls erscheint dem Beobachter am Bahnsteig also, dass die Signallampen gleichzeitig auslösen, sondern die am hinteren Waggonende wird vor der am vorderen Ende auslösen.
Dass dem bewegten Beobachter die Signallampen simultan erscheinen, wird der ruhende Beobachter darauf zurück führen, dass das Licht der hinteren Signallampe nun den mit dem Zug bewegten Beobachter erst einholen muss und somit den gesamten Zeitvorsprung wieder einbüßt, während der Zugpassagier dem Licht der vorderen Signallampe entgegen kommt, so dass es seinen Zeitrückstand durch das spätere Auslösen genau wieder aufholt und gleichzeitig mit dem Licht der hinteren Lampe eintrifft.
In Stein gemeißelt
Was ein zunächst nur ein wenig kurios erscheint, hat in Wahrheit tief reichende Implikationen für die Struktur des gesamten Universums. Für den Beobachter im Zug ist die Gegenwart eine andere Menge von Raumzeitpunkten als für den Beobachter am Bahnsteig. Seine Gegenwartsebene erscheint aus Sicht des Beobachters auf dem Bahnsteig verkippt. Ereignisse, die für den Beobachter auf dem Bahnsteig in der Zukunft oder in der Vergangenheit liegen, erscheinen dem Beobachter im Zug als gegenwärtig. Er kann in Fahrtrichtung gewissermaßen in die Zukunft des Bahnsteigbeobachters schauen (bzw. gegen die Fahrtrichtung in die Vergangenheit). Je weiter entfernt im Raum ein Ort liegt, desto weiter in der Zukunft des ruhenden Beobachters reicht die Ebene der Gleichzeitigkeit des bewegten Beobachters. Er sieht quasi einen anderen Schnitt durch die Raumzeit, wie eine schräg angeschnittene Wurst. Zwar sieht er diese Zukunft auch erst mit der Verzögerung der Lichtlaufzeit und kann dem ruhenden Beobachter beim Passieren noch nichts darüber erzählen, was in dessen Zukunft liegt, aber da die Gegenwart nach obigem das Geschehen ein- für alle Mal festlegt und zur unabänderlichen Realität macht, sind für den bewegten Beobachter offenbar Ereignisse schon fest bestimmt, die für den ruhenden Beobachter scheinbar noch vollkommen offen sind. Z.B. ein Würfelwurf auf Proxima Centauri b.
Ein Beobachter, der uns gerade passiert, kann kein Ereignis in seiner Gegenwart haben, das innerhalb unseres Lichtkegels liegt, die Gegenwartsebene bleibt immer außerhalb des Lichtkegels. Wenn der bewegte Beobachter sich mit fast c bewegt, liegt die Ebene und die x-Achse außen am Konus an. Mit zunehmender räumlicher Entfernung wird die Zeitdiskrepanz zwischen der Gegenwart des bewegten Beobachters und uns als ruhendem Beobachter immer größer. Die Gegenwartsebene von uns entfernten Beobachters kann unseren Lichtkonus durchaus durchschneiden. Ein hinreichend weit entfernter Beobachter hat Ereignisse in seiner Gegenwart, die für uns noch lange bevor stehen und die wir für bisher vollkommen unbestimmt halten, auf die wir noch einen Einfluss zu haben glauben. Die Lichtlaufzeit vom Ereignis zum entfernten Beobachter und dessen Entfernung von uns hindert ihn allerdings daran, uns von dieser Zukunft berichten zu können, bevor sie für uns real wird.
Wenn also für den bewegten Beobachter Ereignisse in Raumzeitpunkten real und fest bestimmt sind, die es für den ruhenden Beobachter noch nicht sind, dann platzt die Blase des Präsentismus. Für jedes zukünftige oder vergangene Ereignis wird sich ein bewegtes Inertialsystem und ein Ort finden, aus deren Sicht das Ereignis gerade jetzt passiert. Das heißt in aller Konsequenz allerdings nichts anderes, als dass die Zukunft schon feststeht und die Vergangenheit noch nicht verflogen ist. Unsere Entscheidungsfreiheit wäre demnach nur imaginär. Vergangenheit und Zukunft sind nur eine Illusion, hat Einstein gesagt – wenn auch eine sehr hartnäckige.
Außer einer gedachten zeitlosen Sicht von außen, von nirgendwann, wie der Philosoph Huw Price es ausdrückt, ist das Universum ein vierdimensionaler starrer Block, in dem sich nichts verändert. Der Geist eines Beobachters ist eine Abfolge von Gedächtniszuständen, die wie der Scheinwerferkegel eines Autos diesen Block in einem bestimmten Winkel durchzieht, welcher von der Raumzeitgeschwindigkeit abhängt. Was im Scheinwerferlicht auftaucht, erscheint möglicherweise überraschend und unerwartet, obwohl es schon “immer” da war, so wie ein im Kino gezeigter Film, dessen Bildfolge schon vor dem Beginn der Vorführung feststand. Ein vollkommen zufälliger, unvorhersehbarer radioaktiver Kernzerfall – solche sind bekanntlich einzeln vollkommen unvorhersagbar; man kann lediglich Aussagen darüber machen, dass in einer gewissen Zeit ein gewisser Anteil einer großen Menge von Kernen zerfallen wird, aber keinesfalls, wann genau welcher zerfällt – ist längst in Stein gemeißelt, ebenso wie das Ergebnis einer jeden, für uns nicht vorhersagbaren Quantenmessung. Es ist aber lediglich unsere Unwissenheit zu einem bestimmten Zeitpunkt, die uns die Unbestimmtheit vorgaukelt. Wem das unplausibel erscheint: Die Zukunft und die Vergangenheit gehorchen denselben physikalischen Gesetzen, auch im Nachhinein stimmt die Statistik radioaktiver Zerfälle, obwohl wir da schon wissen (jedenfalls wissen könnten) welche Kerne in einer Probe zerfallen sind. Die Vergangenheit erscheint uns vollkommen bestimmt, also kann es auch die Zukunft sein, nur dass wir sie eben noch nicht kennen. Wie den Verlauf einer unbekannten Straße im Dunklen oder den Ablauf eines Films, den wir zum ersten Mal sehen.
Das einzige Hintertürchen, das der Unbestimmtheit noch bleibt, ist die bereits behandelte Viele-Welten-Theorie, die – hier stark verkürzt zusammengefasst – besagt, dass nicht nur der Mikrokosmos der kleinsten Teilchen, sondern die ganze Welt eine Überlagerung von Quantenzuständen ist, deren gemeinsame Wellenfunktion niemals an irgendeiner Stelle kollabiert, wie es die quantenmechanische Interpretation von Bohr (“Kopenhagener Deutung”) behauptet, sondern die den Beobachter einer Quantenmessung einfach mit in die Überlagerung einbezieht. Er verschränkt sich mit den Quantenzuständen, die er beobachtet, und wenn es davon viele gibt, dann gibt es entsprechend viele überlagerte Zustände des Beobachters. Die quantenmechanische Unbestimmtheit besteht dann einfach darin, mit welchem Beobachter man sich gerade identifiziert. Dann wäre die Raumzeit nicht nur ein solider Block, sondern eine quantenmechanische Überlagerung unzählig vieler Blöcke. Das Universum hätte viele (nämlich genau alle physikalisch möglichen) Historien und man fände sich als Beobachter zufällig in einer von diesen wieder, am wahrscheinlichsten in einer solchen, die ein hohes Gewicht hat, das heißt die zu einem breiten Strang wahrscheinlicher und ähnlicher Historien gehört.
Während die Realität von Vergangenheit und Zukunft und damit die Vorbestimmtheit des Universums unausweichliche Folgerungen aus der Relativitätstheorie sind, ist diese Erweiterung natürlich spekulativ und nicht falsifizierbar (andere würden sagen: unphysikalisch), aber ich möchte sie dennoch erwähnen und später noch einmal darauf zurückkommen, weil sie uns später hilfreich sein wird bei der Formulierung einer Hypothese über die Natur der Zeit. Aber mehr dazu im übernächsten Teil der Artikelreihe. Der nächste wird sich zunächst mit Zeitreisen und Zeitparadoxa beschäftigen.
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