Seit Jahrzehnten schon sind zahlreiche Experimente auf der Suche nach den mutmaßlichen Trägerteilchen der Dunklen Materie. Alle Experimente gingen bislang leer aus und schlossen immer mehr Kandidaten wie etwa supersymmetrische Partnerteilchen der bekannten Elementarteilchen des Standardmodells aus – in vorderster Reihe das XENON-Experiment in Italien. Lediglich im Bereich niedriger Energien gibt es noch einen kaum erforschten Bereich. Dort könnten sich exotische Teilchen namens Axionen tummeln, ca. ein bis 100 Milliarden mal leichter als Elektronen, die von Theorien der starken Wechselwirkung vorhergesagt werden. Bisher konnte noch kein Axion aufgespürt werden. Das könnte sich nun geändert haben. Sagt das XENON-Experiment.
Wozu braucht jemand Axionen?
Axionen entstammen den Theorien der starken Wechselwirkung, der Grundkraft, die die Bindung der Quarks untereinander beschreibt. Bekanntlich bestehen Protonen und Neutronen aus je drei Quarks und Mesonen bestehen aus Quark-Antiquark-Paaren. Während die Gravitation nur einen Pol kennt (alle Massen ziehen sich an) und die elektrostatische Kraft bei elektrisch geladenen Teilchen zwei Pole hat (+ und -, verschiedene Ladungen ziehen sich an, gleiche stoßen sich ab), gibt es bei der starken Wechselwirkung viele Pole, die von den Physikern nach den Farben wie Rot, Grün und Blau benannt wurden. Stabile Teilchen aus Quarks vereinigen stets Quarks mit unterschiedlichen “Farbladungen”, die sich gemäß der Farbenlehre zu Weiß mischen würden: bei Protonen und Neutronen jeweils ein rotes, grünes und blaues Quark, bei den Mesonen haben die Antiquarks entsprechende Anti-Farbladungen, etwa Anti-Rot (in der Farbenlehre entspräche dies Türkis), das sich mit einem Roten Quark ebenfalls zu Weiß mischt. Eine schöne Analogie, solange man im Hinterkopf behält, das Quarks nicht wirklich bunt sind.
Weil die Lehre der starken Wechselwirkung so schön bunt ist, nennt man sie Quantenchromodynamik (croma = griechisch “die Farbe”), oder kurz QCD. Nun sagt das Standardmodell der Teilchenphysik voraus, dass die QCD die CP-Symmetrie verletzen müsse – es sollte Prozesse geben, deren Umkehrprozess mit umgekehrten Ladungen (Farb- und elektrische Ladung) und gespiegelter Raumrichtung (etwa gespiegelter Anordnung der Quarks in Protonen und Neutronen) nicht existiert oder anders abläuft, als der Prozess selbst. Insbesondere sollte ein Neutron, das aus einem Up-Quark mit +2/3-Elementarladungen und zwei Down-Quarks mit je -1/3-Elementarladung besteht, normalerweise ein elektrisches Dipolmoment besitzen, d.h. es sollte an einem Ende negativ und am anderen positiv geladen sein (siehe Bild oben). Kehrt man beim Neutron die Parität und die Ladung um, käme allerdings ein Teilchen heraus, bei dem das Dipolmoment gegenüber dem Drehimpuls um 180° gekippt wäre (folgendes Bild), die CP-Symmetrie wäre verletzt, denn so ein Teilchen existiert nicht. Dem entzieht sich das Neutron geschickterweise dadurch, dass sein Dipolmoment Null ist und somit die CP-Symmetrie erhalten bleibt. Das Verschwinden des Dipolmoments des Neutrons kennt man unter dem Stichwort starkes CP-Problem. Jede Lösung des starken CP-Problems geht über die Physik des Standardmodells hinaus und wäre somit “neue Physik”.In der Teilchenphysik löst man Probleme gerne mit Feldern (in der zugrunde liegenden Quantenfeldtheorie besteht alles aus Feldern und die Teilchen sind lediglich Anregungszustände von Feldern, in etwa wie Wellen auf einer sonst glatten Wasseroberfläche). Man denke an das Higgs-Feld, mit dem erklärt wird, warum nicht alle Teilchen masselos mit Lichtgeschwindigkeit durch die Gegend fliegen, sondern ihnen dieses Feld eine Masse verleiht. Das Teilchen des Higgs-Felds ist das Higgs-Boson. Roberto Peccei und Helen Quinn schlugen 1977 die Existenz eines Felds jenseits des Standardmodells vor, dessen Potenzial die CP-Verletzung des Neutrons wieder ausbügelt (siehe folgendes Bild). Das zugehörige Teilchen dieses Feldes ist das Axion, auch A0 geschrieben. Und es wäre ein guter Kandidat für das Trägerteilchen der Dunklen Materie.
Geistiger Verwandter des Photons mit einem Hauch von Masse
Dunkle-Materie-Axionen wären, wenn es sie denn gäbe, extrem leicht, mit 10-5 bis 10-3 eV/c² (= 10-1000 µeV/c²) in der Größenordnung von nur etwa einem Hundertmilliardstel bis einem Milliardstel der Masse eines Elektrons (511·103 eV/c²). Gemessen an den ansonsten gehandelten Dunkle-Materie-Kandidaten wie etwa supersymmetrischen “WIMPs” (weakly interacting massive particles = schwach wechselwirkende massive Teilchen) mit 109 bis 1012 eV/c² oder sterilen Neutrinos mit 109 eV/c² wären sie ein Nichts und es müsste Myriaden von ihnen geben, um die Dunkle Materie zu erklären. Selbst gewöhnliche Neutrinos wären mit geschätzten Massen > 0,1 eV/c² Schwergewichte gegen sie. Entsprechend schwer wären sie nachweisbar.
Sie hätten keinen Spin und keine elektrische Ladung, könnten aber elektromagnetisch wechselwirken: wie der theoretische Physiker Pierre Sikivie 1983 zeigte, würden sie sogar eine Erweiterung der Maxwellschen Gleichungen, die bekanntlich für Photonen gültig sind, erfüllen. Sikivie erklärte in einem Interview, dass das Axion so etwas wie ein geistiger Verwandter des Photons sei, aber mit einem Hauch von Masse. Er errechnete, dass beim Urknall genug von ihnen entstanden sein könnten, um die Dunkle Materie zu erklären, so fern sie langsam genug unterwegs sind und somit geringe Energien haben. Denn Dunkle Materie muss “kalt” sein, also aus Teilchen bestehen, die langsam genug sind, dass sie sich unter ihrer Eigengravitation zu Galaxien und Galaxienhaufen verdichten konnten.
Im Beisein starker magnetischer Felder sollten Photonen sich in Axionen verwandeln können (Primakoff-Prozess) und Axionen wieder in Photonenpaare zerfallen, allerdings entsprechend der geringen Teilchenenergien typischerweise mit Wellenlängen von 1 bis 100 Metern – kein Licht, sondern Kurzwellen-Radiostrahlung. Sikivie erdachte einen Detektor, den er Haloskop nannte, um die Axionen der Dunklen Materie nachzuweisen.
Das Axion Dark Matter Experiment ADMX, das 2018 an der Universität von Washington an den Start ging, ist nach dem Prinzip von Sikivies Haloskop gebaut. Es ist das erste Experiment, das empfindlich genug sein könnte, Axionen der Dunklen Materie nachzuweisen. ADMX besteht aus einer zylindrischen Röhre mit einem Innenmaß von 1 m Länge und 0,5 m Durchmesser, die als Mikrowellen-Resonator-Hohlraum wirkt. Supraleitende Magnete erzeugen in ihrem Inneren ein Magnetfeld von sagenhaften 8 Tesla – etwa die 150.000-fache Stärke des Erdmagnetfelds oder die fünffache eines fetten Neodym-Magneten, dem stärksten Dauermagneten, den wir kennen. Die Detektorkammer wird mit Helium auf 4,2 K gekühlt, um thermisches Rauschen des Behältermaterials zu unterdrücken. Wenn nun Axionen im Zylinder zerfallen und Radiostrahlung der richtigen Wellenlänge im Zylinder entsteht, bleibt sie einen Moment darin als stehende Welle gefangen, bis sie vom Zylindermaterial absorbiert worden ist. Empfindliche Antennen, deren Verstärkerrauschen weniger als 100 Millikelvin beträgt, werden im Zylinder verschoben, um nach den Amplitudenmaxima solcher Radiowellen zu suchen.
Axion-Massen von 2,7 bis 3,4 µeV/c² konnte das Experiment bisher schon ausschließen. Man hat sich vorgenommen, den Bereich bis 42,6 µeV/c² auszuloten. Wenn Axionen die einzigen Bestandteile der Dunklen Materie wären, erwartete man ihre Masse in diesem Bereich; sollten sie nur einer von vielen Bestandteilen sein, dann könnte der Bereich möglicher Massen auch bis zu eine Milliarde Mal größer sein.
Andere Experimente versuchen starkes Laserlicht in Axionen umzuwandeln, die eine Stahlwand durchdringen können und dahinter wieder zu Licht werden. Oder horchen nach Radiostrahlung von Axionen aus der nächsten Umgebung von Neutronensternen, den stärksten Magneten, die die Natur kennt. Gefunden hat bisher keines der Experimente irgendetwas.
Stattdessen vermeldet nun ein anderes Experiment, das von 2016-2018 lief, einen möglichen Fund.
Der WIMP-Zerstörer
Eigentlich wurde das XENON1T-Experiment, tief unter dem fast 3000 m hohen Gran-Sasso-Massiv im Herzen Italiens gelegen, gebaut um nach WIMPs zu suchen. Es enthält 3,5 Tonnen ultrareines Xenon, ein Edelgas, das zwischen -111,75°C und -108,1°C flüssig ist. Der größte Teil des Xenons im Detektor ist flüssig mit einem kleinen Bereich gasförmigen Xenons darüber. Energiereiche Teilchen oder Gammastrahlen, die mit den Xenon-Atomen kollidieren, stoßen entweder deren Elektronen oder Kerne an, die dann in der umgebenden Flüssigkeit kleine Lichtblitze (Szintillationsblitze) verursachen. Diese werden von einer Matrix von Restlichtverstärkern im Deckel des zylindrischen Detektors registriert und so in der Querschnittsfläche verortet, das sogenannte S1-Signal des Detektors.
Eine Kollision reißt Elektronen und Kerne des Xenon-Atoms auseinander (Ionisation). Im Detektor werden die freigesetzten Elektronen von einem starken elektrischen Feld nach oben hin beschleunigt, wo sie im Xenon-Gas ihrerseits einen Szintillationsblitz auslösen, der von den Restlichtverstärkern zeitversetzt zu S1 registriert wird, das S2-Signal. Aus der Zeitdifferenz zwischen S1 und S2 lässt sich errechnen, wie lang der Weg der Elektronen von der Erzeugung bis zum Erreichen der Oberfläche des flüssigen Xenons war, und somit hat man auch die Tiefeninformation der ursprünglichen Teilchenreaktion, womit die dreidimensionale Verortung des Teilchens komplett ist (das Konstrukt nennt sich deswegen “Zweiphasen-Zeitprojektionskammer”). Die räumliche Ortung ist wichtig um zu unterscheiden, ob die Signale aus dem Inneren des Detektors stammen, wo störende Hintergrundereignisse wesentlich seltener sind als an den Rändern. Der innere Bereich bildet das eigentliche Target oder Referenzvolumen des Detektors. Aus dem Verhältnis der Signalpegel von S1 und S2 lässt sich zudem ableiten, ob es sich um den Zusammenstoß eines Elektrons mit einem eher leichten Teilchen (wie etwa einem Gamma-Photon oder einem Axion) oder eines Kernteilchens mit einem eher schweren Teilchen (z.B. mit einem Neutron oder einem WIMP) handelt.
Das Experiment befindet sich 1400 m tief im Gran Sasso, um von möglichst wenig Strahlung aus dem Kosmos gestört zu werden. Das umgebende Gestein isoliert so gut wie 3200 m Wassertiefe. WIMPs sollten, ähnlich wie Neutrinos, indessen so gut wie gar nicht vom Gestein absorbiert werden, und die geisterhaften Axionen ebenso wenig, weil sie nur äußerst selten mit Materie interagieren. Störsignale kommen im Wesentlichen nur in Form radioaktiver Strahlung aus dem umgebenden Fels, gegen die die Detektorröhre noch einmal separat durch einen Wassertank abgeschirmt ist, sowie aus dem Xenon selbst, das nicht vollkommen frei von Verunreinigungen durch radioaktive Xenon-Isotope sein kann.
Der Vorgänger XENON100 mit 165 kg Xenon und 65 kg davon im Referenzvolumen fand während seines Betriebs von 2008 bis 2012 kein WIMP und kein Axion, sondern wurde vor allem dadurch bekannt, dass es einen großen Teil mutmaßlicher Dunkle-Materie-Kandidaten ausschließen konnte, gemessen als “Streuquerschnitt” von 2·10-45 cm² für WIMP-Teilchen von bis zu 55 GeV/c² Teilchenmasse. Das entspricht der gedachten Fläche, innerhalb derer sich ein WIMP-Teilchen und ein Xenon-Kern nahe kommen müssen, damit eine Kollision bzw. Streuung stattfindet. Letztlich eine statistische Frage – je kleiner der Streuquerschnitt, desto seltener das Ereignis. Oder umgekehrt: wenn man keine Ereignisse sieht, aber annimmt, dass WIMPs solche Ereignisse produzieren sollten, dann muss der Streuquerschnitt klein genug sein, dass während der Laufzeit des Experiments keine Ereignisse häufig genug vorkommen, um sich vom Hintergrundrauschen abzuheben. XENON1T mit 3500 kg Xenon und 2000 kg Referenzvolumen legte den Streuquerschnitt noch einmal um einen Faktor 100 tiefer: 2·10-47 cm² für WIMP-Teilchen von bis zu 100 GeV/c².
Merkwürdigkeiten beim Elektronengeschubse
Umso überraschender erschien nun eine Arbeit der XENON-Kollaboration, die einen 23-prozentigen Signalexzess über dem Hintergrundrauschen für Elektronenstoßprozesse mit Teilchenenergien von 1-7 keV/c² gemessen hat. Für Axionen der dunklen Materie viel zu hohe Energien – aber exakt das, was man für die schnellen Axionen erwartet, die aus der Sonne stammen. Solche könnten auf dreierlei Weisen entstehen:
- Durch ABC bezeichnete Prozesse Atomarer Rekombination, Bremsstrahlung und Compton-Streuung – gemeint ist A der Einfang von Elektronen durch Kernteilchen im Plasma der Sonne (atomare Rekombination), B das Abbremsen von Elektronen durch Magnetfelder und C die Kollision von energiereichen Photonen mit Elektronen. Bei allen diesen Reaktionen könnten Axionen entstehen.
- Durch einen “M1” genannten Zustandsübergang von Eisen-57-Atomkernen (genauso wie die Elektronen in der Hülle eines Atoms Übergänge zwischen verschiedenen Energieniveaus durchführen können, können das auch Kernteilchen). Hierbei entsteht eine scharf bestimmte Axionen-Energie von 14,4 keV/c².
- Durch den oben erwähnten Primakoff-Prozess, bei dem aus Photonen im Magnetfeld der Sonne Axionen entstehen.
Die Autoren errechneten die erwarteten Spektren für diese Prozesse, d.h. die Häufigkeit von Elektronenstoßprozessen über die verschiedenen Energien, die im folgenden Bild dargestellt sind. Die dünnen Linien zeigen die erwarteten tatsächlich stattfindenden Ereignisse im Xenon, die schattierten Flächen die erwarteten Beobachtungen, wenn man die Auflösung und Effizienz des Detektors mit einrechnet. Die ABC-Prozesse liefern den Großteil der Ereignisse, welche die Primakoff-Axionen überlagern, und die Eisen-57-Übergänge einen gut separierten Anteil bei ca. 14 keV.
Axionen gefunden?
Im folgenden Bild sind die im XENON1T gezählten Ereignisse verschiedener Energien bis 30 keV (schwarze Fehlerbalken) einer errechneten Kurve (rot durchgezogene Linie) gegenüber gestellt, die sich aus der Summe der drei zuvor beschriebenen Axion-Entstehungsprozesse (unten gestrichelt) und dem Hintergrund B0 (grau durchgezogen) aus Störereignissen aufgrund radioaktiver Strahlung in der Umgebung und im Xenon-Füllstoff ergibt. Vor allem im unteren Bereich bis 10 keV reproduzieren die Messdaten im Rahmen der Fehlerbalken sehr schön den erwarteten Verlauf und auch die 14-keV-Delle beim Eisen-57 wird reproduziert, was die Korrektheit der Axion-Theorie sehr plausibel macht. Die Signifikanz der Übereinstimmung beträgt allerdings nur 3,5 σ, das heißt die Messungen unterstützen mit 0,05 % Irrtumswahrscheinlichkeit die These, dass die solaren Axionen die korrekte Erklärung der Daten sind – in Kreisen theoretischer Physiker ist das zu wenig für ein nachgewiesenes neues Teilchen, dazu bräuchte es 5 σ (0,000057 % Irrtumswahrscheinlichkeit).
Neutrinos mit mehr Schwung als gedacht?
Außergewöhnliche Behauptungen wie die eines neuen Teilchens außerhalb des Standardmodells bedürfen allerdings außergewöhnlicher Belege, und das schließt ein, dass auch alternative Erklärungen untersucht werden. Eine Alternative wäre, dass Neutrinos ein Milliarden Mal größeres magnetisches Dipolmoment hätten als das Standardmodell vorhersagt – sie wären dann wie kleine Magnete und würden öfter mit den Elektronen interagieren, als das Standardmodell annimmt. Dies wäre immer noch eine Sensation, neue Physik jenseits des Standardmodells, das vorhersagt, dass die ungeladenen Neutrinos ein verschwindend kleines magnetisches Dipolmoment haben sollten, 20 Größenordnungen kleiner als dasjenige des Elektrons. Die Vergleichskurve ist im folgenden Diagramm wieder in Rot dargestellt. Die Übereinstimmung ist etwas schlechter als beim Modell der solaren Axionen – der rote Graph macht die wellenförmigen Aufs und Abs der Messdaten nicht in gleicher Weise mit wie diejenigen der solaren Axionen im Bild zuvor. In Zahlen ausgedrückt beträgt die Signifikanz hier 3,2 σ entsprechend 0,14% Irrtumswahrscheinlichkeit.
Allerdings müsste das magnetische Dipolmoment in diesem Fall zwischen 1,4 und 2,9·10-11 µB betragen; 1 µB ist in etwa das magnetische Dipolmoment des Elektrons. Dies ist nicht nur eine Milliarde mal mehr als das Standardmodell vorhersagt, sondern auch zehnmal mehr als die obere Grenze, die durch astrophysikalische Messungen ausgeschlossen wird. Denn das magnetische Dipolmoment des Neutrinos beeinflusst gemäß anderer Arbeiten, wie schnell die Wärme aus Sternen und Weißen Zwergen durch Neutrinos abgeführt wird und damit wie schnell Kugelsternhaufen und weiße Zwerge abkühlen. Messungen dieser Abkühlraten schließen Werte von mehr als 4·10-12 µB mit 90% Konfidenz aus.
Geht es auch weniger exotisch?
Und es gibt noch eine dritte Möglichkeit, die wesentlich banaler ist: eine Verunreinigung des Xenons mit Tritium. Tritium oder 3H ist ein radioaktives Isotop des Wasserstoffs mit einer Halbwertszeit von 12,3 Jahren und kommt in Wasser mit einem Anteil von einem Tritiumatom auf 1017 Wasserstoffatome vor. Der radioaktive Zerfall von Tritium könnte ein ähnliches Signal wie das beobachtete liefern. Dazu reichte bereits ein Anteil von (6,2±2)·10-25 Tritiumatomen im Verhältnis zur Zahl der Xenon-Atome:
Dieser Mengenanteil von Tritium lieferte die größte Übereinstimmung mit den Messdaten mit einer Konfidenz von 3,2 σ und die Hypothese hat den Vorteil (je nachdem wie man es betrachtet…) dass sie keine neue Physik benötigt.Die Autoren haben analysiert, welche Quellen des Tritiums in Frage kommen könnten. So könnte Tritium bei der oberirdischen Lagerung des Xenons durch Einschläge von Partikeln der kosmischen Strahlung entstehen – was allerdings eine eher unwahrscheinliche Quelle wäre, da das Xenon im Experiment fortlaufend von Verunreinigungen durch Fremdgase wie Wasserstoff gereinigt wird. Vielmehr müsste die Tritiumquelle so viel 3H im Betrieb nachliefern, dass trotz Reinigung der gemessene Anteil noch verbliebe, und tief unter dem Berg gibt es so gut wie keine kosmische Strahlung mehr. Wasser und Wasserstoffgas könnten in geringer Menge aus den Materialien im Inneren des Detektors heraus diffundieren, in die sie vor dem Experiment beim Kontakt mit Luft eingedrungen sind. Wasser als Verunreinigung können die Autoren indes ausschließen – kleinste Mengen mit nur 1/10 des für die Hypothese nötigen Tritiumanteils würden die Transparenz des Xenons bereits messbar verringern und wären aufgefallen. Wasserstoffgas können die Autoren hingegen nicht direkt messen, argumentieren in der Arbeit jedoch, warum sie es für unwahrscheinlich halten, dass durch Ausgasung von Wasserstoffgas aus den Detektorbestandteilen so viel Tritium zusammenkäme, um die für die Tritiumhypothese erforderliche Menge zusammen zu bekommen. Zerfälle von Xenon- und Kryptonisotopen haben sie bereits im Hintergrundanteil B0 mit berücksichtigt. So verbleibt als wahrscheinlichste Erklärung das Axion.
Dunkle Materie abgehakt?
Ich persönlich neige beim Betrachten der Diagramme oben auch zu dieser Interpretation, da die Messwerte einzig den Verlauf der theoretischen Axion-Kurve gut nachvollziehen, ein Aspekt, der über die rein mathematische Signifikanz in Standardabweichungen σ hinaus geht – bei der Fehlerrechnung geht nämlich nur die jeweilige Abweichung jedes einzelnen Messwerts von der angenäherten Kurve mit ein, aber nicht deren Anordnung. Z.B. schneidet die Kurve das Fehlerintervall für den Wert bei 3 keV (der schwarze Balken der links am höchsten liegt) im obersten Solar-Axion-Diagramm sehr tief und den bei 10 keV sehr hoch. Wäre es umgekehrt, so wäre der Messfehler und damit die Konfidenz rechnerisch exakt dieselbe, aber die Delle nach oben bei 3 keV wäre dann nicht nachvollzogen und stattdessen ergäbe sich eine neue Delle bei 10 keV, wo der rote Graph gar keine hat. Rein optisch spricht der Verlauf der Messwerte jenseits der mathematischen Signifikanz also zusätzlich für das Axion-Modell.
Ob die Ergebnisse tatsächlich Bestand haben, wird sich bald zeigen. Das XENON1T-Experiment wurde 2018 abgeschlossen, um den Nachfolger XENONnT zu bauen, der 8,3 Tonnen Xenon verwenden wird, dessen Herstellung im Oktober 2019 abgeschlossen wurde. Noch Ende dieses Jahres soll XENONnT an den Start gehen und dann wird sich mit erhöhter Messgenauigkeit sehr bald zeigen, ob die Axionen-Hypothese die erforderlichen 5 σ schafft, um als sichere Detektion verbucht werden zu können.
Wäre dann bewiesen, dass die Dunkle Materie aus Axionen besteht? Nein, und darauf weisen die Autoren in ihrer Arbeit extra hin, sie können ja keine Axionen mit der geringen Energie messen, aus der die Dunkle Materie bestehen soll. Aber dass es das Kandidatenteilchen jenseits des Standardmodells überhaupt gibt, wäre ein Durchbruch – die Theorie von Peccei und Quinn wäre bewiesen und damit bestünde Grund zur Annahme, dass auch Sikivies Berechnungen auf stabilem Grund stehen. Dem gegenüber haben die von XENON1T nicht gefundenen WIMPs diese Trägerteilchen der Dunklen Materie noch unwahrscheinlicher gemacht. Vielleicht gelingt es bis vor XENONnT auch schon dem ADMX-Experiment, die Radiowellen der geisterhaften Dunkle-Materie-Axionen nachzuweisen und endlich einen Haken hinter das Kapitel der Dunklen Materie zu machen. Die nächsten Jahre versprechen interessant zu werden.
Referenzen
[1] The XENON Collaboration, “Observation of Excess Electronic Recoil Events in XENON1T“, 17. Juni 2020 ; arXiv:2006.09721.
[2] Ethan Siegel, “Is It Dark Matter? Mystery Signal Goes ‘Bump’ In World’s Most Sensitive Detector“, Forbes, 17. Juni 2020.
[3] Natalie Wolchover, “Dark Matter Experiment Finds Unexplained Signal“, Quanta Magazine, 17. Juni 2020.
[4] Charlie Wood, “Top Dark Matter Candidate Loses Ground to Tiniest Competitor“, Quanta Magazine, 27. November 2019.
[5] Anson Hook, “TASI Lectures on the Strong CP Problem and Axions”, 6. Dezember 2018, arXiv:1812.02669.
[6] en.wikipedia.org, “Axion“.
[7] en.wikipedia.org, “Neutron electric dipole moment“.
[8] en.wikipedia.org, “Strong CP problem“.
[9] en.wikipedia.org, “Axion Dark Matter Experiment“.
[10] en.wikipedia.org, “XENON“.
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