Es gibt hier und da die Vorstellung von einem Idealbild der Wissenschaft. Wird eine Disziplin anhand der Rationalität ihres Vorgehens, der Strenge ihrer Methode, der Logik ihres Denkens als Wissenschaft beurteilt, dann kommt man schnell zu der Ansicht, dass die Physik der idealen Wissenschaft wohl am nächsten kommt, ganz dicht gefolgt von den übrigen Naturwissenschaften und einigen Teildisziplinen der Ökonomie und der Soziologie. Die übrigen Sozial- und Geisteswissenschaften folgen in gebührendem Abstand, wobei das „Folgen” dann häufig tatsächlich im Sinne eines „Nachfolgens” oder gar „Nacheiferns” gemeint ist.
Der Maßstab, der dieser Beurteilung der Wissenschaftlichkeit einer Disziplin zugrunde liegt, ist die Rolle, die die Mathematik, die mathematische Modellbildung innerhalb der Disziplin spielt. Denn was ist logischer, was ist rationaler, was ist beweisbarer, was ist sicherer als die Mathematik?
Quasi als Unterstützung für diese Beurteilung wird ein Trend ins Feld geführt, der Trend zur Mathematisierung aller Wissenschaften. Die Physik hat ihn schon vor jahrhunderten vollzogen, die Chemie ist bald gefolgt, die Biologie eifert dem nach, und im 20. Jahrhundert haben auch Ökonomie und Soziologie begonnen, ihrem Gegenstand mit mathematischen Modellen beizukommen. Es scheint ein Sog von der Mathematik auszugehen, wie ein schwarzes Loch zieht sie alles Wissenschaftliche an, und lässt, was sie einmal in ihrer Gewalt hat, nicht wieder fort.
Das ist natürlich Unsinn. So hilfreich die Mathematik auch sein mag, selbst für die Soziologie, so wird die Soziologie niemals eine mathematische Wissenschaft – und die Literaturwissenschaft schon gar nicht, die Geschichtswissenschaft auch nicht.
Voraussetzung für mathematische Beschreibbarkeit sind Messbarkeit und Reproduzierbarkeit. Messbarkeit ist in den sozialen Wissenschaften nur begrenzt möglich, Reproduzierbarkeit ist (zum Glück) ausgeschlossen. Für die Reproduzierbarkeit einer Messung brauchen wir die kontrollierbaren Bedingungen des Labor-Experiments.
Natürlich sind auch in den Sozialwissenschaften Experimente möglich, und ihre Ergebnisse sind äußerst interessant und unterhaltsam. Thor Heyerdahl ist mit einem Papyrus-Boot über den Ozean geschippert, das war quasi ein Experiment in empirischer Geschichtswissenschaft. Aber das so gewonnene Wissen hat einen ganz anderen Status als das eines naturwissenschaftlichen Experiments. Auch wenn noch so viele hochseetaugliche Historiker sein Experiment wiederholen werden wir nie den Induktiven Schluss ziehen, dass alle Papyrusboot-Besitzer, auch die der Vergangenheit und die in der Zukunft, auf ihren Booten die Ozeane überqueren. Wir können nur sagen, dass sie es könnten (oder konnten) wenn sie es denn wollten. Da haben die Physiker und Chemiker es leichter, ihr Gegenstand hat keinen eigenen Willen.
Eine Sozial- oder Geisteswissenschaft, die vom Willen ihres Untersuchungsgegenstandes absieht, die nur das messbare, reproduzierbare und in mathematischen Modellen beschreibbare Verhalten betrachtet, wird vielleicht das eine oder andere Zutreffende feststellen, aber nie etwas über den Menschen, den sie doch zu erklären versucht, erfahren. Genau dadurch, dass sie sich der idealen Wissenschaft annähert, würde sie sich um ihren Sinn bringen. Die Mathematik wäre dann tatsächlich das schwarze Loch, dass alles festhält, auch das Licht.
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