Wenn die Bahn der Erde um die Sonne ein perfekter Kreis wäre, wären wir mit der Beschreibung der Gezeiten schon fast am Ende. Das ist aber nicht der Fall – die Bahn der Erde ist eine Ellipse und deswegen befindet sich die Erde mal näher an der Sonne und mal weiter weg. Deswegen ändert sich auch der Abstand zwischen Erde und Sonne im Laufe des Jahres. Wenn nun die größte Annäherung der Erde an die Sonne gerade zu Voll- bzw. Neumond stattfindet, dann bekommen wir auf der Erde die größtmöglichen Gezeiten (allerdings macht der Unterschied nur ein paar Prozent aus).
Aber das war jetzt alles?
Nein, eigentlich immer noch nicht 😉 Es gibt noch einen weiteren sehr wichtigen Effekt. Die Erde dreht sich! Und die Gezeitenkräfte wirken natürlich nicht nur auf das Wasser der Ozeane sondern auch auf die “feste” Oberfläche der Erde; das Wasser reagiert aber natürlich sehr viel schneller! Direkt unter dem Mond und auf der gegenüberliegenden Seite der Erde befinden sich also – wie oben beschrieben – zwei Flutberge aus Wasser. Diese Flutberge folgen im Prinzip der Bewegung des Mondes. Würde die Erde sich nicht drehen, dann würden sich die Flutberge während eines Mondumlaufs (also etwa einmal im Monat) einmal um die Erde bewegen (wenn es keine Kontinente gäbe, die das Wasser aufhalten, natürlich 😉 ). Die Erde dreht sich aber – und das Wasser der Flutberge wird durch die Reibung quasi “mitgerissen”. Der Flutberg unter dem Mond befindet sich also genaugenommen ein bisschen “vor” dem Mond; der Flutberg auf der gegenüberlegenden Seite der Erde ein bisschen “hinter” dem Mond. Nun passiert folgendes: die Wasserberge haben natürlich auch eine Masse. Und die Masse die in dem Flutberg auf der dem Mond zugewandten Seite konzentriert ist, übt natürlich auch auch eine – wenn auch nur sehr kleine – Anziehungskraft auf dem Mond aus. Da sie dem Mond vorausläuft, zieht sie ein klein wenig am Mond und beschleunigt dadurch seine Bewegung. Wenn ein Objekt nun eine schnellere Umlaufgeschwindigkeit bekommt, dann bekommt es auch einen höheren Orbit (drittes Keplersches Gesetz). Der Mond entfernt sich also von Erde! Zwar nur sehr langsam, aber er tut es! Das kann man sogar sehr genau messen – jedes Jahr bewegt sich der Mond um etwa 4 Zentimeter von der Erde weg.
Das war aber noch nicht alles. Gravitation wirkt immer in beide Richtungen: auch der Mond übt einen gravitativen Einfluss auf den Flutberg aus. Dieser läuft, wie oben beschrieben, dem Mond voraus: aus Sicht des Mondes zieht er den Wasserberg ein klein wenig zurück und bremst so seine Bewegung. Und durch die Reibung des Wassers an der festen Oberfläche der Erde führt das im Endeffekt dazu, das die Rotation der Erde ein winziges bisschen abgebremst wird! Die Erde dreht sich also immer langsamer und langsamer – unsere Tage dauern also immer länger! Auch das kann man messen – pro Jahr wird der Tag um etwa 17 Mikrosekunden länger. Man konnte sogar aus den Ablagerungen von prähistorischen Meeresorganismen (die “Tagesringe” bilden, ähnliche der Jahresringe bei Bäumen) bestimmen, dass das Jahr vor 400 Millionen Jahre etwa 400 Tage hatte bzw. der Tag nur knapp 22 Stunden lang war. Das geht auch in Zukunft so weiter – die Rotationsdauer der Erde wird immer länger und länger werden; der Mond wird sich immer weiter von der Erde entfernen – man nennt diesen Effekt Gezeitenreibung.
Allerdings endet auch diese Entwicklung irgendwann in ferner Zukunft. Wenn wir den Mond betrachten, sehen wir auch warum. Was bei einer Beobachtung des Mondes auffällt, ist, dass wir immer von der Erde aus immer die selbe Seite sehen. Das liegt daran, das der Mond sich in der Zeit, in der er sich einmal um die Erde bewegt auch genau einmal um sich selbst dreht. Und das ist kein Zufall: Grund dafür ist die Gezeitenreibung. Alles, was ich oben über Erde und Mond geschrieben haben gilt natürlich auch umgekehrt! Nicht nur der Mond verursacht Gezeiten auf der Erde; auch die Erde verursacht Gezeiten auf dem Mond. Und diese Gezeitenkräfte sind viel stärker; immerhin ist die Erde knapp 80 mal schwerer als der Mond. Die Gezeitenreibung (ausgeübt von der Erde auf den Mond) hat auf dem Mond dazu geführt, das er sich immer langsamer um sich selbst dreht. Die Rotation des Mondes wurde im Laufe der Zeit immer langsamer und langsamer – solange bis eine Rotation genauso lange gedauert hat wie ein Umlauf des Mondes um die Erde. An diesem Punkt stoppt die Verlangsamung der Rotation – denn nun liegen Erde und Flutberg auf dem Mond immer auf einer Linie und es tritt keine Gezeitenreibung mehr auf. Irgendwann wird das auch mit der Erde passieren. Sie wird immer langsamer und langsamer rotieren bis ein Tag genau einen Monat lag dauert. Ein Monat wird dann auch länger dauern als heute, da der Mond sich ja dann weiter von der Erde entfernt hat – etwa 40 heutige Tage. Wenn man dann vom Mond auf die Erde blickt, wird man auch immer nur eine Seite sehen. Der Fachausdruck für diese Situation heisst “tidally locked” (ich weiß gar nicht, ob es dafür auch ein gebräuchliches deutsches Wort gibt).
Kommentare (60)