In den vorherigen Teilen dieser Serie habe ich schon Trojanerplaneten und Wechselplaneten vorgestellt. Im letzen Teil möchte ich nun über eine extrem außergewöhnliche Planetenkonfiguration schreiben: das Sitnikov-Problem.
Das unlösbare Dreikörperproblem
Seit Newtons Gravitationstheorie kannte man die mathematischen Gleichungen, mit denen sich die Bewegung der Himmelskörper beschreiben lassen. Man konnte sie nur nicht lösen. Sobald man die gravitative Interaktion von mehr als 2 Körpern betrachtete, wurden die Gleichungen so komplex, dass man sie nur noch näherungsweise lösen konnte. 1889 zeigte Henri Poincaré, dass diese nicht am Unvermögen der Wissenschaftler lag, sondern ein prinzipielles Problem ist: er konnte beweisen, dass sich diese Gleichungen niemals lösen lassen, wenn mehr als 2 Körper beteiligt sind. Das bedeutet auch, dass wir die Vorstellung vom "Sonnensystem als Uhrwerk" fallen lassen müssen. Man kann also die Bewegung der Planeten nicht für jeden beliebigen Zeitpunkt in der Zukunft exakt vorhersagen. Der Grund dafür ist, dass solche komplexen Systeme immer auch chaotische Eigenschaften aufweisen. Das gilt auch für unser Sonnensystem.
In erster Näherung kann man den gravitativen Einfluss, den die Planeten untereinander ausüben, vernachlässigen. Der Einfluß der Sonne auf die Planeten ist viel größer - die Bewegung eines Planeten um die Sonne kann also näherungsweise als Zweikörperproblem beschrieben werden. Das ist glücklicherweise exakt lösbar - und die Lösung entspricht den bekannten Keplerschen Gesetzen.
Aber was passiert, wenn sich der Einfluss eines dritten Körpers nicht mehr vernachlässigen lässt? Wenn man z.B. die Bewegung des Mondes beschreiben will und hier Sonne und Erde berücksichtigen muss. Oder wenn man die Bewegung eines Planeten in einem Doppelsternsystem betrachtet? Dann hat man ein Dreikörperproblem - und das lässt sich nicht mehr analytisch lösen.
Es gibt allerdings Spezialfälle, die einfacher zu behandeln sind. W.D. MacMillan fand 1911 tatsächlich so einen Fall, für den eine allgemeine Lösung existiert.
Zwei Sterne und ein Planet
Dieser Fall sieht so aus: zwei Sterne mit gleicher Masse kreisen um ihren gemeinsamen Massenschwerpunkt. Die Bahnen sind dabei kreisförmig. Ein dritter Körper, der Planet, hat eine Masse, die gegenüber der Masse der Sterne vernachlässigbar klein ist. Dieser Planet befindet sich anfänglich genau im Massenschwerpunkt. Unter der gravitativen Wirkung der beiden Sterne bewegt er sich nun senkrecht zur Bewegungsebene der beiden Sterne!
Hier existiert eine allgemeine Lösung: während die beiden Sterne immer ihre Kreise umeinander ziehen, bewegt sich der Planet zwischen ihnen auf und ab!
"Berühmt" wurde dieses Problem durch eine 1960 erschienene Arbeit des Russen Kirill Aleksandrovich Sitnikov. Sitnikov betrachtete nun den allgemeinen Fall von MacMillans Konfiguration. Die Sterne müssen sich nicht mehr nur auf kreisförmigen Bahnen bewegen, sondern können auch elliptischen Orbits folgen. Diese Erweiterung führt dazu, dass das Problem wieder unlösbar wird - man kann keine allgemeine Lösung mehr angeben.
Sitnikov fand aber, dass trotzdem immer noch Lösungen existieren, in denen der Planet für unbeschränkte Zeit stabil auf und ab oszilliert. Ob dies passiert, oder ob der Planet sich chaotisch bewegt oder gar aus dem System herausgeworfen wird, hängt von den Anfangsbedingungen ab: wie stark weicht die Bahn der Sterne von der Kreisform ab; wie groß ist die Anfangsgeschwindigkeit des Planeten - usw.
Obwohl die Ausgangslage sehr simpel ist, zeigt dieses Sitnikov-Problem alle Charakteristiken eines komplexen dynamischen Systems mit all seinen chaotischen Eigenschaften. Das sieht man sehr gut an diesem Bild:
Bild: ADG Wien
Auf der x-Achse wird die Zeit angezeigt; die y-Achse zeigt an, wie weit sich der Planet über bzw. unter dem Schwerpunkt befindet. Die 3 Kurven zeigen 3 sehr eng benachbarte Anfangspositionen: der Unterschied in der anfänglichen Position des Planeten beträgt nur ein Millionstel! Trotzdem sieht man ein völlig unterschiedliches Verhalten: 2 Kurven (rot und grün) zeigen chaotisches Verhalten: nach 12,5 Zeiteinheiten fliegt der Planet aus dem System (einmal nach unten, einmal nach oben). Die dritte Kurve hingegen zeigt stabile Bewegung.
J. Moser (der an der Entwicklung des Kolmogorov-Arnold-Moser-Theorems (KAM-Theorem) beteiligt war: das grundlegende Theorem der Chaostheorie) hat eine sehr interessante Eigenschaft des Sitnikov-Problems aufgezeigt, das dessen chaotisches Verhalten schön demonstriert. Man kann jede Lösung des Sitnikov-Problems als Zahlenreihe darstellen, wobei jede Zahl die Abfolge der verschiedenen Perioden der Lösung darstellt. Man bestimmt dazu die Zeit, die zwischen zwei Passagen des Planeten durch den Schwerpunkt vergeht und wandelt sie in eine Zahlenreihe um. Diese Zeiträume können im Falle einer regulären Bewegung immer gleich lang sein - dann wäre z.B. [2,2,2,2,2,...] eine Zahlenreihe, die so eine Lösung beschreibt. Aber wie man oben im Bild im Falle der blauen Kurve sieht, können die Zeiträume auch unterschiedlich lang sein ( [2,5,3,1,1,...] könnte z.B. eine Zahlenreihe sein, die die blaue Kurve beschreibt). Moser zeigte nun, dass man sich eine beliebige Zahlenreihe ausdenken kann und egal, wie kompliziert sie aufgebaut ist: es wird immer einen passenden Anfangszustand des Sitnikovproblems geben, der zu einer entsprechenden Lösung führt!
Die AstroDynamik-Gruppe der Universitätssternwarte stellt übrigens auf ihrer Homepage ein nettes Java-Applet zur Verfügung, mit dem jeder selbst ein bisschen experimentieren und zusehen kann, wie sich Planet und Sterne bewegen.
Kann es Sitnikov-Planeten wirklich geben?
Im Fall der Trojanerplaneten stehen die Chancen gut, dass sie wirklich existieren und bei den Wechselplaneten haben wir immerhin die Saturnmonde Janus und Epimetheus als reale Beispiele. Das Sitnikov-Problem ist allerdings wirklich nur ein rein theoretisches - es gibt keinerlei Hinweis darauf, dass sich so ein System auch in Wirklichkeit bilden könnte.
Trotzdem beschäftigen sich Wissenschaftler seit Jahrzehnten immer wieder mit diesem Problem. Auch wenn es keine reale Konfiguration darstellt, ist es doch ein hervorragendes Modell, um die Eigenschaften komplexer dynamischer Systeme zu untersuchen. Wegen seiner einfachen Ausgangslage lässt es sich leicht untersuchen; Computerprogramme, die das Problem numerisch lösen sind schnell geschrieben.
Auch wenn es mit aller Wahrscheinlichkeit nie dazu kommen wird: aber es wäre vermutlich sehr interessant, auf einem Sitnikov-Planeten zu leben. Die "Jahreszeiten" wären komplett anders als hier auf der Erde - mal würden wir uns den beiden Sternen nähern, dann wieder davon entfernen. Und das eventuell auch noch in unregelmäßigen Zeiträumen. Eventuelle Aliens, die unter solchen Bedingungen leben, würden es wohl ziemlich schwer haben, einen Kalender zu entwickeln.
Dieser Artikel war der letzte in meiner kleinen Serie "Seltsame Welten". Ich bin ziemlich gespannt, ob wir in Zukunft einige dieser Welten vielleicht wirklich finden können.
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