Bisher habe ich in meiner Serie über chaotische Systeme über den Phasenraum gesprochen, erklärt, welche Arten von Bahnen im Phasenraum es gibt und gezeigt, wie man diese Bahnen durch eine Surface of Section visualisieren kann.
Jetzt kommen wir zur eigentlichen Fragen der Chaostheorie: Was passiert, wenn die Störungen in einem nichtlinearen System immer größer werden? Wie wirken sich Störungen auf die regulären Bereiche aus? Wie groß kann das Chaos werden, bevor alles zusammenbricht? Kann man das Chaos mathematisch überhaupt fassen?
Man kann! 1954 hat Andrei Nikolajewitsch Kolmogorow einen mathematischen Satz aufgestellt, der 1963 und 1964 von Jürgen Moser und Wladimir Igorewitsch Arnold bewiesen wurde. Nach den Anfangsbuchstaben ihrer Nachnahmen wird dieser Satz heute KAM-Theorem genannt.
Das KAM-Theorem ist quasi das Herzstück der Chaostheorie. Es beschreibt quantitativ, wie sich Störungen in (bestimmten) dynamischen Systemen auswirken. Allerdings ist es mathematisch ziemlich heftig – ich werde daher nur einen groben Überblick bieten können und bitte die mitlesenden Mathematiker bzw. Experten um Nachsicht gegenüber meinen Vereinfachungen (hier gibt es eine vollständigere Einleitung zum KAM-Theorem).
Im letzten Teil der Serie habe ich erklärt, wie eine Surface of Section aussieht, und wie man darin die verschiedenen Arten von Phasenraumbahnen unterscheiden kann. Hier ist nochmal ein typisches Beispiel für eine Surface of Section:
Diesmal stammt dieses Bild vom sg. “Standardmap“, das (wie der Name schon sagt) recht häufig zur Untersuchung der Eigenschaften chaotischer Systeme eingesetzt wird.
Man erkennt wieder deutlich die (quasi)periodischen Bahnen (die geschlossenen Kurven) die die Stabilitätsinseln im chaotischen Meer bilden. Was passiert nun, wenn man die Störung in diesem System erhöht? Die quasiperiodischen Bahnen beginnen sich zu verformen und irgendwann “brechen” sie auf. Aus einer geschlossenen Kurve entsteht eine “Inselkette” (im Bild oben sieht man so eine Kette aus stabilen Inseln z.B. außerhalb der achten geschlossenen Kurve, gezählt vom Zentrum aus).
Im Bild oben gibt es im Zentrum einen ausgedehnten regulären Bereich, der von einem chaotischen Meer umgeben ist. Die äußerste hier gezeichnete Kurve, die den regulären vom chaotischen Bereich trennt, ist die braune Kurve. So eine äußerste Trennkurve wird auch KAM-Torus genannt. Wird die Störung zu groß, bricht der KAM-Torus irgendwann auf und bildet keine geschlossene Kurve mehr, sondern eine Kette von kleinen Inselchen. Diese zerstörte Barriere ist etwas, was man eine Cantor-Menge nennt. Im Prinzip handelt es sich dabei um eine fraktale (d.h. selbstähnliche) Menge von Punkte. Man nennt den zerstörten KAM-Torus deswegen auch Cantorus. So ein Cantorus kann immer noch eine Grenze zwischen Chaos und Ordnung darstellen – allerdings keine perfekte mehr.
Chaotische Bahnen können nun durch die Lücken des Cantorus hindurch gehen und den chaotischen Bereich vergrößern. Im nächsten Bild wurde eine Trajektorie gerade in flagranti erwischt, als sie den Cantorus durchquert (ernsthaft, es ist verdammt schwer, so ein Bild zu produzieren. Hier die richtigen Anfangsbedingungen zu finden ist absolut nicht trivial!):
Der Cantorus wird hier durch die dicken schwarzen Punkte markiert. Die instabileTrajektorie ist die durchgezogenen Linie. Oben rechts ist sie noch deutlich außerhalb des Cantorus, im chaotischen Meer; unten links hat sie den Cantorus durchquert.
Die Zerstörung der KAM-Tori geht immer weiter: erhöht man die Störung, dann ein neuer KAM-Torus zu einem Cantorus – usw – und der chaotische Bereich wird immer größer. Wie das im Detail abläuft und wie groß die Störungen unter gewissen Bedingungen werden dürfen, damit immer noch quasiperiodische Bereiche vorhanden sind, erklärt das KAM-Theorem.
Diese Vorgänge sind übrigens noch viel komplexer 😉 Erstens einmal sind sie fraktal. Ich könnte z.B. eine der kleinen Inseln oben im Bild vergößeren (z.B. die kleine gelbe Insel rechts in der Mitte) und würde dann wieder das gleiche Bild erhalten: ein zentraler stabiler Bereich, umgeben von einem chaotischen Meer. Und auch bei all diesen kleinen Inseln findet das gleiche Spiel der Transformation von KAM-Tori zu Cantori statt. D.h. auch bei ihnen bricht der KAM-Torus irgendwann auf und bildet Inseln – die ich wieder vergrößern kann – usw: bis in alle Ewigkeit. Wie die komplexe Übergangszone zwischen Ordnung und Chaos aussieht, kann man hier erkennen (die Nummern in den Inseln sind übrigens die Rotationszahlen der entsprechenden periodischen Bahnen):
Hier habe ich noch eine nette Animation, in der man sieht, was mit dem
Phasenraum des Henon-Maps passiert, wenn die Störung immer größer wird.
Da erkennt man das oben beschriebene Verhalten recht gut:
(Hmm – haargenauso eine Animation habe ich vor 11 Jahren auch mal gemacht und ins Netz gestellt. Keine Ahnung wo die abgeblieben ist…)
Man kann noch weitere interessante Eigenschaften chaotischer Systeme feststellen. Bei einer Untersuchung des Standardmaps haben wir z.B. vor einigen Jahren gemerkt, dass es egal ist, wie stark das Chaos wird: es wird immer irgendwo im Phasenraum zumindest einen winzigen Bereich geben, in dem sich noch eine Stabilitätsinsel befindet. Egal wie groß das Chaos wird – ein bisschen Ordnung bleibt also. Ein tröstlicher Gedanke 😉
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