In der Teilchenphysik tut sich gerade etwas. Große Entdeckungen stehen bevor; eine neue Physik vielleicht sogar. Neue Teilchen oder eine neue Grundkraft wurden entdeckt, liest man in manchen Medien. In anderen kann man schlecht übersetzte Interviews lesen in denen behauptet wird,die Wissenschaftler hätten nun Angst vor dem was sie da entdeckt haben (wo sie dich im Original einfach nur “thrilled” waren, also begeistert). Bei Spiegel Online schreibt man über eine neue Grundkraft in der Natur die man entdeckt hat1. In Wahrheit ist alles halb so wild. Es ist noch nicht einmal klar, ob überhaupt etwas entdeckt wurde.
Entdeckungen in der Teilchenphysik sind schwierig. Ein Archäologe, der eine Mumie ausbuddelt oder ein Zoologe, der eine neue Elefantenart findet: da klappt das mit dem Entdecken gut. Die Ergebnisse sind so offensichtlich, dass wenig Raum für Zweifel ist. Aber die subatomaren Teilchen lassen sich schwerlich direkt beobachten. Sie sind viel zu klein und die meisten davon in unserer Alltagswelt viel zu kurzlebig. Kaum hat man so ein Teilchen erzeugt, zerfällt es auch schon wieder in einen Haufen anderer Teilchen. Aber immerhin kann man diese Zerfallsprodukte benutzen, um so auf deren Existenz zu schließen! Allerdings läuft das nicht immer eindeutig – es gibt normalerweise verschiedene Wege wie ein Teilchen zerfallen kann die verschieden häufig auftreten. Sagen wir, wie haben unserern Teilchenbeschleuniger so eingestellt, dass dort das Teilchen X erzeugt werden kann. Dieses Teilchen zerfällt in 30% der Fälle in Teilchen A, in 10 % der Fälle in Teilchen B und in 60% der Fälle in Teilchen C (Teilchenphysiker mögen mir diese Vereinfachungen verzeihen, es geht nur darum das Prinzip zu demonstrieren). Wird bei unserem Experiment nun also tatsächlich ein X-Teilchen erzeugt, dann erwarten wir, genau dieses Zerfallsmuster mit den relativen Häufigkeiten von 30, 10 und 60 Prozent zu sehen. Wenn man das nicht beobachtet, dann ist das ein Hinweis darauf, dass hier vielleicht irgendwas Neues zu finden ist. Vielleicht hat man ein neues Teilchen erzeugt, das auf andere Art und Weise zerfällt.
Nehmen wir also mal an, wir machen unser Experiment 10 Mal. Und wir erhalten am Ende 3 Mal ein A-Teilchen, 4 Mal ein B-Teilchen und 3 Mal ein C-Teilchen. Das ist nicht wirklich das was wir erwartet haben! Wir hätten mit 3 A-Teilchen, einem B-Teilchen und 6 C-Teilchen gerechnet. Bedeutet das nun, dass wir etwas neues entdeckt haben? Nicht wirklich. Denn hier geht es um Statistik. Die Wahrscheinlichkeit, dass man beim Wurf mit einer Münze Kopf bekommt (oder Zahl) ist 50%. Das heisst aber nicht, dass von zwei Würfen immer einer Kopf und einer Zahl ist. Oder das bei 10 Würfen immer abwechselnd Kopf und Zahl auftreten bzw. am Ende fünfmal Kopf und fünfmal Zahl geworfen wurde. Die Statistik gilt immer für große Zahlen. Wenn ich eine Million Münzen werfe, dann wird ziemlich genau die Hälfte auf Kopf landen und die Hälfte auf Zahl. Aber je weniger Münzen ich werfe, desto größer können die zufälligen Abweichungen sein. Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass bei zehn Würfen zehnmal Kopf kommt. Aber es ist nicht unmöglich. Und wenn ich tausend Mal zehn Würfe mache, dann ist die Chance das mindestens einmal davon eine Zehnerserie auftaucht nicht mehr ganz so gering…
Wollen wir also wissen, ob unsere Teilchenexperiment tatsächlich ein neues Teilchen entdeckt hat, dann müssen wir erstmal die Wahrscheinlichkeit ausrechnen, dass unser von der Vorhersage abweichendes Ergebnis nicht einfach nur eine zufällige Fluktuation ist die auf die geringe Anzahl an Experimenten zurückzuführen ist. Hier kommen dann die berühmten “Sigmas” ins Spiel, von denen man bei den Teilchenexperimenten immer spricht. Je höher das Sigma, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass man es tatsächlich mit etwas Neuem zu tun hat und nicht mit Zufall.
Die Entdeckung am Tevatron ist eine Detektion am 3-Sigma-Level. Das ist der Bereich, bei dem man in der Teilchenphysik anfängt, aufzuhorchen. Hier besteht tatsächlich die Möglichkeit, dass man was Neues gefunden hat. Eine echte Entdeckung ist das aber noch lange nicht. Da braucht man viel mehr Experimente damit man sich sicher kein, dass die Abweichungen die man gesehen hat wirklich Abweichungen sind und keine statistischen Fluktuationen (Entdeckungen verkündet man in der Teilchenphysik bei 5-Sigma-Detektionen). Es ist also noch lange nichts entdeckt. Viele 3-Sigma-Resultate verschwinden, wenn man mehr Daten sammelt. Vielleicht verschwindet auch dieses Resultat. Aber vielleicht auch nicht! Und was hätte man dann am Tevatron entdeckt?
Bei den Experimenten am Tevatron hat man Strahlen aus Protonen und Antiprotonen aufeinander geschossen. Dabei entsteht Energie und aus dieser Energie können neue Teilchen entstehen. Man war hier an der “Diboson”-Produktion interessiert. Das ist ein Prozess, bei dem zwei – schon bekannte – Teilchen entstehen, zwei W-Bosonen (WW) bzw. ein W- und ein Z-Boson (WZ). WW und WZ können nun auf verschiedene Art und Weise in andere Teilchen zerfallen und die Wissenschaftler probierten, genau eine bestimmte Zerfallsart nachzuweisen (semileptonischer Zerfall). Es gibt aber auch jede Menge andere Zerfallsereignisse und es ist nicht einfach, eine bestimmte Art des Zerfalls vor diesem Hintergrund zu isolieren. Ich will jetzt nicht in die Details gehen; dafür habe ich auch zuwenig Ahnung von der Teilchenphysik. Hier werden die ganzen Details der Datenauswertung von einem der am Experiments beteiligten Wissenschaftler detailliert erklärt; in deutsch gibts beim physikBlog mehr Infos und wer wirklich Ahnung hat, kann sich auch das offizielle Paper ansehen. Um zu sehen, was man da eventuell gefunden hat, braucht man sich aber nur dieses Bild hier ansehen:
Im Prinzip zeigt es einfach die Anzahl an Zerfallsereignissen (y-Achse) die man misst, wenn man verschieden hohe Energien (x-Achse) in die Teilchenstrahlen steckt. Die bunten Balken und Linien zeigen nun die verschiedenen Hintergrundereignisse die man erwarten würde und wenn alles so läuft wie man es vermutet, dann sollten die Messpunkte genau dieses bunte Diagramm reproduzieren. Die gemessenen Daten werden durch die schwarzen Punkte angezeigt und wenn man genau hinsieht, dann erkennt man, dass sie von der Erwartung abweichen. Bei Energien im Bereich von 150 GeV liegen sie höher als die zu erwartenden Werte.
Das kann erstmal viele Gründe haben. Vielleicht hat man bei der Datenauswertung Fehler gemacht; vielleicht waren die Experimente fehlerhaft; vielleicht hat man die Hintergrundereignisse falsch eingeschätzt und berechnet – alles mögliche kann bei solchen Experimenten solche Abweichungen verursachen. In diesem Fall hat man all das gecheckt und kam zu dem Schluss, dass dies hier nicht passiert ist. Die Abweichung hat nichts mit Fehlern beim Experiment o.Ä. zu tun sondern steckt tatsächlich in den Daten. Hier sieht man das nochmal besser:
In diesem Diagramm hat man die ganzen bekannten Hintergründe abgezogen. Die rote Linie ist das, was man erklären kann. Die blaue Beule kann mit dem Standardmodell der Teilchenphysik allerdings nicht erklärt werden; er ist das, was neu ist. Ein Grund für die Existenz dieser Abweichung ist die oben beschriebene statistische Fluktuation. Wenn man mehr Experimente macht, dann verschwindet sie vielleicht wieder. Vielleicht findet man doch noch irgendwelche Fehler bei der Durchführung oder der Datenauswertung. Oder aber es gibt wirklich ein neues Teilchen (bzw. eine neue davon übertragene Kraft) das genau diese blaue Beule verursacht.
Das ist dann allerdings NICHT das lang gesuchte Higgs-Boson. Wenn das wirklich eine Masse von etwa 150 GeV hat so wie das Teilchen das hier dahinter stecken könnte, dann hätte man das Higgs-Boson schon längst an anderen Teilchenbeschleunigern gefunden. Aber die Teilchenphysiker sind kreative Leute und haben sich jede Menge Theorien ausgedacht die über das Standardmodell hinausgehen und diverse neue Teilchen vorhersagen. Es gibt also viele Kandidaten um das Experiment am Tevatron zu erklären. Es könnte zum Beispiel ein “leichtes Z’ Boson” sein. In kürzlich veröffentlichten Arbeit wurde gezeigt, wie dieses neue Teilchen nicht nur genau das erklären könnte, was am Tevatron gemessen wurde sondern auch noch ein paar andere bekannte Anomalien löst. Aber es muss sich jetzt auch nicht zwingend um dieses “Z’ Boson” handeln (Ich muss zugeben, ich hab keine Ahnung worum es sich hier handelt. Ich bin froh genug dass ich mich mit dem Standardmodell halbwegs auskenne – von den diversen Erweiterungen und Modifikationen und all ihren Teilchen und Kräften weiß ich fast nichts). Die Theoretiker werden sich jetzt sicher auch jede Menge neue Theorien ausdenken. An potentiellen Erklärungen wird es nicht mangeln; zu entscheiden, welche davon richtig ist bzw. ob es überhaupt etwas zu erklären gibt, ist eine andere Geschichte.
Denn wie gesagt: entdeckt ist noch lange nichts! Es braucht mehr Experimente, mehr Daten und unabhängige Bestätigung. Das Tevatron steht ja kurz vor seiner Schliessung (und der Autor Charles Seife scherzte deswegen auch dass es sich bei dem neuen Teilchen wahrscheinlich um ein “Budgeton” handeln muss; eines der Teilchen die man immer dann fast entdeckt, wenn Budgetkürzungen bevorstehen). Aber der LHC läuft noch lange und wenn man dort auch diese Anomalie entdeckt, dann kann man sich langsam wirklich Gedanken darüber machen, welches der erweiterten Standardmodelle der Teilchenphysik man in Zukunft verwenden und wer die Nobelpreise einsacken wird 😉
Nachtraf (11.Juni 2011): Tja, es scheint sich doch um “Viel Lärm um Nichts” gehandelt zu haben. Die Ergebnisse konnte nicht reproduziert werden; eine andere Forschungsgruppe am Fermilab findet in ihren Messungen nichts.
Fussnoten 1: Und listet auch gleich die vier bisher bekannten auf. Zu denen gehören auch die starke und die schwache Kernkraft was einige Kommentatoren gleich zum Anlass nehmen, einen Stopp für Teilchenbeschleuniger zu fordern weil ja Kernkraft böse sein muss. Ich hoffe ja auf einen Scherz. Im physikBlog gibts mehr dumme Spiegel-Kommentare.
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