Jürgen Stock war ein Astronom aus Deutschland. Er ist erst vor wenigen Jahren gestorben, im Jahr 2004. Vermutlich wird ihn kaum jemand kennen. Ich habe auch erst vor kurzem von ihm gehört. Er hat keine neuen Naturgesetze entdeckt, keine neuen Planeten beobachtet oder große Fragen der Wissenschaft beantwortet. Aber trotzdem hat er die moderne Astronomie beeinflusst wie kaum ein anderer und die astronomische Landschaft maßgeblich umgestaltet. Und das ist durchaus wörtlich zu verstehen.
Im Jahr 1960 gab es auf der Nordhalbkugel der Erde 88 professionelle astronomische Sternwarten. Auf der Südhalbkugel waren es 10 und die waren wesentlich schlechter als die im Norden. Das war schlecht für die Astronomie denn vom Süden aus lassen sich Dinge beobachten, die man von der Nordhalbkugel nicht sehen kann. Die beiden Magellanschen Wolken zum Beispiel: die nächsten Nachbargalaxien der Milchstrasse. Wer Details einer anderen Galaxie mit einem großen Teleskop beobachten wollte, der musste mit der Andromeda-Galaxie vorliebnehmen. Aber die ist viel weiter weg und viel schlechter aufzulösen. Die nahen Magellanschen Wolken kann man nur von der Südhalbkugel aus sehen und da fehlten die großen Teleskope. Und am Südhimmel lagen noch jede Menge andere interessante Objekte: die hellsten Kugelsternhaufen; die Carina-Centaurus Region der Milchstrasse,… Man brauchte also endlich vernünftige Sternwarte im Süden.
Das dachte sich auch Gerard Kuiper der in den 1950ern Direktor der Yerkes-Sternwarte in Chicago war. Er wollte ein größeres Teleskop in Chile aufstellen um so den Südhimmel beobachten zu können. Aber man kann eine Sternwarte nicht einfach so in die Gegend stellen. Hier den richtigen Platz auszuwählen ist knifflig und braucht viel Vorarbeit. Man muss an verschiedenen potentiellen Stellen lange Testreihen durchführen, das Wetter beobachten und Messungen an Sternen vornehmen. Diese Aufgabe sollte ein deutscher Astronom übernehmen der am Case Institute of Technology in Cleveland arbeitet: Jürgen Stock.
Stock wurde am 8. Juli 1923 in Hamburg geboren; verbrachte den Beginn seiner Kindheit in Mexiko weil seine Eltern dort geschäftlich zu tun hatten, besuchte aber die Schule in Hamburg wo er bei seinem Großvater lebte. Er machte sein Abitur, musste aber zur Wehrmacht und verbrachte das letzte Jahr des zweiten Weltkriegs an der Ostfront. Nach Kriegsende kehrte er von dort alleine und zu Fuß nach Hamburg zurück, inskripierte sich an der Universität und arbeitete nebenbei als Hafenarbeiter. 1951 beendete er seine Doktorarbeit unter Professor Otto Heckmann. Danach erhielt er für zwei Jahre lang eine Stelle am Case Institute of Technology in Cleveland. Dort entwickelte er sich zum Experten für photometrische Messungen – aber als sein Vertrag endete kehrte er wieder zurück nach Hamburg. 1956 folgte ein kurzer Aufenthalt in Südafrika wo er als Hausmeister/Direktor des Boyden-Observatoriums arbeitete und auch in Kontakt mit einigen anderen europäischen Astronomen kam die in Südafrika gerade auf der Suche nach einer passenden Stelle für eine europäische Südsternwarte waren und Stock unterstützte sie dabei.
1958 erhielt er dann wieder eine Stelle in Cleveland und ein Jahr später erreichte ihn Kuipers Auftrag: Stock sollte in Chile nach einer geeigneten Stelle für ein Observatorium suchen. Man hatte schon drei Plätze in der Nähe der Hauptstadt Santiago ausgewählt und Stock sollte sie überprüfen. Er war aber von keinem so richtig begeistert und der Aufenthalt der eigentlich nur kurz dauern sollte wurde immer länger. Im April 1960 sah Stock das erste Mal den Cerro Tololo. Damals war es ein unbekannter Hügel in der chilenischen Wüste – heute kennt jeder Astronom diesen Namen. Stock sah sofort, dass der Berg ideal war. Er stand alleine in der Landschaft, hatte einen flachen Gipfel auf dem sich gut bauen lies und war einerseits von den Anden, andererseits vom Humboldstrom im Pazifik vom schlechten Wetter abgeschirmt. Mit Mauleseln machte sich Stock auf um am Gipfel des Cerro Tololo die notwendingen Messungen anzustellen. Die Bedingungen die er dort vorfand waren so außerordentlich gut, dass man sich entschloss, nicht nur ein einfaches Teleskop der Uni Chicago dort aufzustellen, sondern größer zu planen. Das Projekt wurde nun von der Association of Universities for Research in Astronomy (AURA) übernommen und man plante den Bau einer großen amerikanischen Sternwarte am Cerro Tololo.
Während seiner Arbeit in Chile stand Stock auch immer noch in Kontakt mit seinem Doktorvater. Otto Heckmann war mittlerweile der Direktor der Europäischen Südsternwarte (ESO) geworden und man stand kurz davor, mit dem Bau des Observatoriums in Südafrika zu beginnen. Stocks Beschreibung der Bedingungen in Chile waren aber so beeindruckend das man sich im letzten Moment anders entschloss und ebenfalls nach Chile ging. Dort hatte Stock schon einen anderen Berg gefunden der passend war: La Silla.
Heute stehen in Chile mehr große Teleskope als irgendwo anders auf der Welt. Auf dem Cerro Tololo befindet sich das Cerro Tololo Inter-American Observatory (CTIO) mit einem großen 4-Meter Teleskop und vielen kleineren. Die Europäische Südsternwarte hat seit den 1960ern nicht nur 18 Teleskope auf La Silla betrieben sondern in den 1990ern auch auf dem Cerro Paranal das gewaltige Very Large Telescope gebaut und ist gerade dabei auf dem Llano de Chajnantor die große ALMA-Teleskopanlage in Betrieb zu nehmen. Daneben gibt es noch einige andere Teleskop in Chile – z.B. das Gemini-Teleskop am Cerro Pachón oder das Las-Campanas-Observatorium bei La Serena.
Ohne Jürgen Stock wäre die astronomische Landschaft eine völlig andere. Fast jeder Astronom auf dieser Welt der mit Beobachtung zu tun hat, landet irgendwann einmal in Chile. Stock hat Chile zum wichtigsten Land gemacht, was optische Beobachtungen angeht.
Bis 1965 war Stock selbst er erste Direktor des CTIA bis es zum Streit mit dem Vorstand von AURA kam. Stock wechselte an die Universität von Santiago wo er bis 1971 lehrte und forschte. Nachdem Salvador Allende als chilenischer Präsident gewählt worden war, bekam er allerdings Schwierigkeiten weil alle Ausländer die an Universitäten arbeiten erstmal überprüft werden sollten und in der Zwischenzeit nicht bezahlt wurden. Stock ging nach Mexiko und hlaf dort einige Zeit lang den mexikanischen Kollegen bei der Suche nach geeigneten Standorten für Teleskope. Schließlich bekam er von der venezuelanischen Regierung den Auftrag, das Centro de Investigaciones de Astronomia zu gründen, eine Sternwarte auf einem 3600 Meter hohen Andengipfel. Stock erledigte das, wurde 1973 ihr erster Direktor und blieb bis zu seinem Tod in Venezuela.
Jürgen Stock hatte offensichtlich ein aufregendes Leben und vermutlich mehr Abenteuer erlebt als der durchschnittliche Astronom der eher selten mit Mauleseln durch die südamerikanische Wüste trekkt. Leider gibt es wenig biografisches Material zu Jürgen Stock (zumindest hätte ich wenig gefunden). Die Informationen auf denen mein Artikel hier basiert stammen aus den kurzen Arbeiten die 2006 in der Zeitschrift Revista Mexicana de Astronomía y Astrofísica erschienen sind: “Jürgen Stock and his impact on modern astronomy in south america” von D. Lorenzen und “Homage to Jürgen Stock” von D.J. MacConnell. Ein wenig über Jürgen Stock wird auch in Teil 11 der hörenswerte Serie “Geschichte der Astronomie” vom WDR erzählt (so habe ich überhaupt erst von ihm erfahren).
Ich selbst bin ja theoretischer Astronom und habe es noch nicht nach Chile geschafft. Aber wer weiß – vielleicht komme ich ja auch noch einmal in den Genuß der Sternennächte die Jürgen Stock damals so sehr beeindruckt haben und dank derer nun Astronomen aus aller Welt seinen Spuren gefolgt sind.
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