Die sogenannte “Pioneer-Anomalie” hat die Wissenschaftler seit Jahrzehnten beschäftigt. Dabei geht es um die Bahnen der Raumsonden Pioneer 10 und 11 die 1972 bzw 1973 ins All gestartet sind. Die Sonden fliegen nicht so, wie sie es eigentlich sollten sondern werden ganz leicht abgebremst. Man hat lange probiert die Gründe herauszufinden und von simplen technischen Problemen der Sonde bis hin zu einer neuen Physik war eigentlich alles dabei. Jetzt hat man das Problem endlich gelöst. Judith Selig, Michael F. Schönitzer und Florian Schlagintweit studieren Physik an der LMU München und haben letztes Semester eine Arbeit über die Pioneer-Anomalie (sie steht unter CC-BY-SA 3.0 Lizenz) verfasst. Für einen Gastbeitrag* haben sie ihre lange Arbeit nochmal zusammengefasst. Viel Spaß damit!
Im Februar 1969 genehmigte die NASA zwei Sonden mit dem Ziel den Asteroidengürtel, das
interplanetare Medium zwischen Mars und Jupiter, die äußeren
Planeten sowie die für die heutige Raumfahrt wichtigen Flyby-Manöver zu erforschen: Pioneer 10 (Start am 2. März 1972) und Pioneer 11 (Start am 6. April 1973).
Die Navigation der Sonden erfolgte durch 2-Wege Radio-Dopplermessung durch Messstationen des DSN. Diese Messungen lieferten eine Frequenzverschiebung, welche nach Berücksichtigung zahlreicher beeinflussender Faktoren in die Geschwindigkeit der Sonden umgerechnet werden kann. Da die Messungen äußerst präzise waren und man alle nennenswert beeinflussenden Faktoren genau berücksichtigte (bishin zu der Auswirkung der Plattentektonik auf die Relativgeschwindigkeit) ist die Messung der Geschwindigkeit äußerst präzise.
Auf der anderen Seite, konnte man aus den genau bekannten Massen von Sonne, Planeten, Mond und größeren Asteroiden, sowie einem Modell des Sonnenwindes die Bahn theoretisch berechnen.
Wie bei solchen Missionen üblich, hat man nun die Messwerte laufend an die Berechnungen gefittet (es gibt einige freie Parameter wie die Manöver der Sonden) und Abweichungen, wenn sie zu groß waren durch zusätzliche frei bestimmte Parameter korrigiert. So konnte man mit Hilfe der so bestimmten Parameter die zukünftige Bahn berechnen und ggf. navigierend eingreifen.
Im “Nachhinein” überlegte man sich dann worauf diese Parameter zurückzuführen sein könnten. Nun stellt man seit Anfang der 80-er Jahre fest, dass es eine bis dato unerklärliche konstante Beschleunigung von (8,74 ± 1,33) * 10-8 cm/s2 in Richtung Sonne gab.
Zunächst dachte man, man hätte es nur mit einem Rechen- oder Computerfehler oder einem nicht berücksichtigten Einfluss zu tun, doch die Analysen wurden verfeinert, und vielfach – auch von unterschiedlichen Personen und unterschiedlichen Programmpaketen – überprüft. Die Anomalie und ihr Wert wurden immer wieder bestätigt. Sie wurde zur „Pioneer-Anomalie” und zählt(e) bis heute zu einem der wichtigsten ungelösten Probleme der Astrophysik.
Später erkannte man, dass es auch zeitlich periodische Unstimmigkeiten gibt, die ebenfalls bis heute nicht erklärt wurden.
Als die Anomalie als real existierendes physikalisches Problem anerkannt wurde, bekamen auch die Überlegungen, was wohl die Ursache der Anomalie seien könnte, neuen Antrieb.
Als erstes stellt sich hier natürlich die Frage, ob es sich um einen sondeninternen oder einen externen Effekt handelt. Nach einigen Berechnungen konnten interne Gründe, wie z.B. ein Rückstoß durch Radiowellen, thermische Emission der RTGs (radioisotope thermoelectric generator, zu deutsch Radionuklidbatterie) und Ausstoß von Helium in der RTGs ausgeschlossen werden. Auch die sondenexternen Effekte wurden gründlich untersucht. Man stellte jedoch auch hier fest, dass die Größe, oder das Vorzeichen nicht stimmten. So waren der Strahlungsdruck, der Sonnenwind, die Sonnencorona, Lorentzkräfte durch eine elektrische Ladung der Sonde und die Gravitation des Kuipergürtels nicht in der Lage, die anormale Beschleunigung zu erklären.
Da die Anomalie eine Kraft in Richtung Sonne darstellt, ist die erste Idee natürlich ein gravitativer Effekt. Wie oben erwähnt, sind jedoch die Massen der Objekte im Sonnensystem, die hier eine Rolle spielen, gut bekannt. So konnte schnell gezeigt werden, dass das newtonsche Gravitationsgesetz, sowie die relativistischen Korrekturen, nicht die Ursache sein kann. Für sehr große Entfernungen und sehr kleine Beschleunigungen sind diese Gesetze allerdings nur schlecht bis gar nicht überprüft bzw. überprüfbar. Deshalb kam die Idee auf das Graviationsgesetz bzw. das 2. newtonsche Gesetz zu modifizieren. Aus F=m·a wird dann in der modifizierten Newtoschen Dynamik (MOND) F=m·a·y, y ist ein unspezifizierter Faktor, der bei großen Beschleunigungen 1 und bei kleinen Beschleunigungen a/a0 ist, wobei a0 die Grenzbeschleunigung ist, ab welcher MOND greift. Bei der Pioneer-Anomalie handelt es sich um eine Beschleunigung, die klein genug ist, dass man mit MOND rechnen müsste und es lässt sich ein y konstruieren, so dass man sogar auf den richtigen Wert käme. MOND ist als Ursache für die Pioneer-Anomalie allerdings leicht zu widerlegen, denn wenn die Anomalie tatsächlich gravitativen Ursprungs wäre, hätte man schon seit längerem unerklärliche Abweichungen in den Bahnen der äußeren Planeten beobachten müssen.
Schnell fiel auf, dass der Wert der Anomalie ungefähr gleich H0*c ist (H0 ist die Hubblekonstante und c ist die Lichtgeschwindigkeit). So kamen Spekulationen auf, dass die Ausdehnung des Universums und damit die Dunkle Energie die Ursache für die Pioneer-Anomalie sein könnte. Die Idee dahinter ist, dass die Anomalie keine wirkliche Beschleunigung ist, sondern nur eine Veränderung des Dopplersignals, welche durch die Ausdehnung des Universums hervorgerufen wird. Diese Theorie lässt sich aber leicht entkräften: Die Anomalie zeigt in Richtung der Sonne und nicht, wie es diese Theorie fordert, von der Sonne weg. Hätte die Dunkle Energie tatsächlich einen Effekt auf das Signal, so würde sich das in einer Rotverschiebung und nicht in der gemessenen Blauverschiebung der Frequenz äußern.
Nicht nur die Theorie der Dunklen Energie und MOND wurden als Erklärungsversuche in Betracht gezogen, auch die Dunkle Materie kam für kurze Zeit in Betracht, die Anomalie zu lösen. Dies scheiterte jedoch an zwei Gründen:
- Wenn es in unserem Sonnensystem eine derart große Menge an Dunkler Materie (in 50 AU müssten sich 5,9·1026 kg befinden) angesammelt hätte, dann wären auch die Planetenbahnen davon betroffen. Dies ist jedoch laut den genauen Vermessungen der Planetenbahnen nicht der Fall.
- Das Sonnensystem hat, nach unserem Verständnis, in seiner Lebensdauer von 4,5·109 Jahren nur etwa 1020 kg an Dunkler Materie ansammeln können. Diese Masse kann in keiner Weise den Betrag der Pioneer-Anomalie erklären.
Da es nicht nur um die Ursache, sondern auch um das Wesen der Anomalie zahlreiche offene Fragen gibt, wurde mehrfach vorgeschlagen eine eigene Mission zu starten um die Anomalie genauer zuvermesen. Erstes Ziel der Mission sollte sein die Anomalie zubestätigen. Desweiteren sollte die Größe der Beschleunigung genau bestimmt werden, sowie ihre genaue Richtung (in Richtung Sonne, Erde, Geschwindigkeitsvektor oder Spinachse). Außerdem sollte das Verhalten der Anomalie über lange Zeiträume hinweg überprüft werden und ob der Effekt auch außerhalb der Ekliptik auftritt.
Als vielversprechende Erklärung hat sich die unterschätzte thermische Emission und Reflexion der Sonden herauskristallisiert. Der Hintergrund ist der, dass die Photonen der Wärmestrahlung bekannterweiße auch einen Impuls haben. Strahlt die Sonde nun in eine Richtung mehr Wärme als in die entgegengesetzte ab, so wirkt auf die Sonde dadurch eine Beschleunigung.
Da alle anderen internen Fehlerquellen relativ genau modelliert wurden und externe Fehlerquellen als Ursache ausgeschlossen wurden, nehmen wir an, dass die Beschleunigung durch die thermische Abstrahlung zustande kommt. Dies würde allerdings zur Folge haben, dass die Anomalie nicht konstant ist, sondern, wie die Halbwertszeit von Pu-238 in den RTGs, abnimmt. Da im Jahr 2002, als die erste umfangreiche Arbeit über die Pioneer-Anomalie veröffentlicht wurde, noch kein vollständiger Telemetrie Datensatz vorlag, konnte dies damals noch nicht überprüft werden. Die momentan laufenden Analysen der gesamten Daten könnten darüber Aufschluss geben.
Die Untersuchung der thermischen Emission ist zur Zeit Bestandteil einiger Studien. Ende März 2011 wurde auf dem Preprint-Server ArXiv.org eine Arbeit von portugisischen Wissenschaftlern veröffentlicht, die eine Erklärung für die Anomalie aufgrund der thermischen Abstrahlung gefunden haben wollen – eine Veröffentlichung in in Physical Review D wird angestrebt. Die zentrale Annahme in dieser Arbeit ist die, dass nicht nur die RTGs als Lambertstrahler1 angenommen werden, sondern auch das Fach für die technischen Geräte als Lambertstrahler modelliert werden muss. Außerdem wird die Reflexion von thermischer Emission an der Sonde mit in die Berechnungen mit einbezogen. Am 20. April 2011 veröffentlichen Benny Rievers und Claus Lämmerzahl vom ZARM in Bremen ebenfalls auf ArXiv.org eine Arbeit welche die Anomalie ebenfalls durch thermische Abstrahlung erklärt. Sie simulieren die thermische Abstrahlung jedoch mit der Methode der finiten Elemente. Somit gibt es eine unabhängige Überprüfung. Die enge zeitliche Abfolge der beiden Veröffentlichungen lässt uns vermuten, dass es hier offensichtlich ein Wettrennen zwischen den beiden Gruppe gab.
Diese Erklärungsmodelle werden zur Zeit vom JPL, namentlich von J.D. Anderson, M.M. Nieto und S.G. Turyshev2 überprüft. Es ist sehr wahrscheinlich, dass damit die Pioneer-Anomalie gelöst ist.
Mit der Lösung der Pioneer-Anomalie, 40 Jahre nach dem Start der Sonden und 30 Jahre nach Entdeckung der Anomalie, geht ein wichtiges Kapitel der Astrophysik zu Ende. Die Ergebnisse werden für zukünftige Deep Space Raumfahrtmissionen wichtige Erkenntnisse sein.
Auch die wissenschaftliche Bedeutung ist groß:
Die Pioneer-Sonden stellten einen der größten Tests unserer Gravitationsgesetze dar, und während es anfangs so aussah, als ob die Daten unserem Weltbild widersprechen würden, so scheinen die Daten nun unsere Gesetze zu bestätigen. Die bereits seit längerer Zeit laufende Neuanalyse der kompletten Daten der Sonden, könnte dies abschließend klären.
Auch wenn die gefundene Erklärung eine im Vergleich zu andern Vorschlägen (Dunkle Energie, Dunkle Materie, MOND) vergleichsweise konservativ und fast schon “langweilig” ist, so ist die wissenschaftliche Bedeutung der Anomalie dadurch nicht geschmälert, sind es doch gerade auch Negativ-Resultate und Überprüfungen existierender Theorien, die die Wissenschaft zu dem macht was sie ist.
1: Ein Lambertstrahler ist ein Objekt, welches in alle Raumrichtungen gleichmäßig Strahlung abgibt
2: Diese drei können auch als die Entdecker und führenden Experten der Anomalie angesehen werden.
Dieser Beitrag ist eine Zusammenfassung der Arbeit “Die Pioneer-Anomalie” von Judith Selig; Michael F. Schönitzer und Florian Schlagintweit. Diese Arbeit ist trotz ihrer Ausführlichkeit explizit auch für Nicht-Physiker/Astronomen verständlich geschrieben. Sie kann unter https://pioneer.99k.org/ frei heruntergeladen werden. Dort findet man auch eine Auseinandersetzung von Michael F. Schönitzer mit der Bedeutung der Lösung der Pioneer-Anomalie.
*: Wer auch das physikBlog regelmäßig liest, hat vielleicht gemerkt, dass dieser Gastbeitrag auch dort erschienen ist. Anscheinend haben sowohl die physikBlogger als auch ich die Münchner Studenten um einen Gastbeitrag gebeten 😉
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