Im Internet schlagen die Gerüchtewellen hoch! Am CERN hat man gemessen, dass sich Neutrinos schneller bewegen, als das Licht! Einstein ist widerlegt! Stimmt das?
Schwer zu sagen. Die Sache ist seriös, immerhin berichtet sogar die BBC darüber (Update: Mittlerweile ist die Nachricht überall in den Medien zu lesen, das CERN hat eine Konferenz angekündigt und die Forscher haben einen wissenschaftlichen Artikel dazu veröffentlicht – siehe die eingefügten Links im weiteren Text). Wir haben es also nicht mit den üblichen Einsteinleugner und ihren obskuren Internetforen zu tun. Aber fangen wir am besten am Anfang an…
Neutrinos sind Elementarteilchen. Wolfgang Pauli hat ihre Existenz 1930 vorhergesagt und 1956 wurden sie tatsächlich entdeckt. Ihre Masse ist enorm gering, vielleicht sind sie sogar – so wie die Photonen – ganz masselos. Neutrinos entstehen bei verschiedensten nuklearen Reaktionen, zum Beispiel denen, die in der Sonne ablaufen. Die Messung der Neutrinos, die von der Sonne ausgesandt werden, hilft uns also dabei zu verstehen, was dort im Inneren abläuft. Als man das erste Mal solche Messungen vornahm, fand man aber zu wenig Neutrinos! Die Theorie sagte dreimal so viel vorher, wie tatsächlich vorhanden waren. Man stellte fest, dass es nicht nur ein einziges Neutrino gab, sondern drei verschiedene Arten. Die damaligen Detektoren konnten allerdings nur eine davon registrieren. Heute können wir alle drei Arten messen und wir wissen auch, dass es ein seltsames Phänomen namens Neutrinooszillation gibt: Die verschiedenen Arten der Neutrinos können sich ineinander umwandeln.
Dieser Prozess wird gerade am europäischen Kernforschungszentrum CERN untersucht. Nicht am großen Teilchenbeschleuniger LHC sondern am kleineren Super Proton Synchroton. Dort werden Neutrinos erzeugt und flitzen sofort davon. Sie interagieren so gut wie überhaupt nicht mit der umliegenden Materie und verlassen den Teilchenbeschleuniger in Null komma nix. 730 Kilometer entfernt probiert man allerdings, sie zumindest teilweise wieder einzufangen. Im italienischen Gran Sasso führt man das Opera-Experiment durch. Man hat dort einen großen Detektor aufgebaut und hofft, möglichst viele der am CERN produzierten Neutrinos zu messen. Sie brauchen für den Weg etwa 3 Millisekunden und unterwegs verwandeln sich ein paar davon von der einen in eine andere Sorte. Diesen Effekt möchte man messen und sammelt seit Jahren eifrig Daten. Natürlich registriert man dabei auch genau, wie lang jedes einzelne Neutrino vom CERN bis Gran Sasso gebraucht hat.
Und genau hier steckt die – eventuell – spannende Entdeckung. BBC schreibt:
“In the course of doing the experiments, the researchers noticed that the particles showed up 60 billionths of a second sooner than light would over the same distance.”
Die Neutrinos waren also eine Winzigkeit schneller, als sie es eigentlich sein dürften. Sie müssen sich schneller als das Licht bewegt haben, um so früh in Italien einzutreffen, wie es gemessen wurde.
Ist Einsteins Relativitätstheorie also jetzt widerlegt? Nein, natürlich nicht – so schnell schmeisst man keine Theorie über den Haufen, in den vergangenen Jahrzehnten so extrem gut experimentell bestätigt wurde. Vor allem nicht, wenn es um Ergebnisse geht, die noch nicht veröffentlicht und überprüft sind. Manche Physiker zweifeln jetzt schon, ob man wirklich in der Lage ist, die Reisedauer der Neutrinos wirklich mit der angegeben Genauigkeit messen kann (immerhin wären das 10 Nanosekunden). Morgen jedenfalls sollen die Daten vorgestellt werden und dann wird diskutiert – die Präsentation wird auch live im Internet übertragen. Ich kann mir gut vorstellen, dass es bei Messungen dieser Größenordnung und Genauigkeit jede Menge potentielle Fehlerquellen gibt und die Wissenschaftler werden hier ganz genau hinschauen.
Ich bin erstmal skeptisch, ob die Daten halten werden. Aber wenn sie es tun, dann wird es wirklich spannend. Dann ist genau so ein Fall eingetreten, wegen dem man die ganze Forschung betreibt: Man hat etwas völlig neues entdeckt, etwas, was keine Theorie vorhergesagt hat und mit dem keiner gerechnet hat. Genau so etwas wünschen sich die meisten Wissenschaftler, denn hier hat man die Möglichkeit, etwas wirklich fundamental Neues über unser Universum zu lernen! Man muss sich auch keine Sorgen um Albert Einstein machen. Jede neue Theorie, die das Verhalten etwaiger überlichtschneller Neutrinos beschreibt, kann nur eine Erweiterung der Relativitätstheorie sein und keine Widerlegung. Die Relativitätstheorie ist experimentell bestens bestätigt und jede neue Theorie muss diese Experimente ebenfalls erklären. Eine “Neue Relativitätstheorie” wird die alte also als Spezialfall enthalten, genauso wie Einsteins Theorie die alte Theorie von Newton als Speziallfall (für kleine Massen und Geschwindigkeiten) enthält. Ich bin gespannt, wie sich diese Sache entwickelt und werde probieren, euch hier auf dem Laufenden zu halten…
In den Quantum Diaries ist Katharine Copic ebenfalls skeptisch. Sie arbeitet am CERN, allerdings an einem andern Experiment. Sie sagt:
“he most important part of the paper we want to see will explain how the uncertainty on the measurement was obtained. Whether or not the result is exciting will depend on how well they can measure the speed of the neutrinos.”
Das ist nämlich wirklich nicht so einfach. Man drückt ja nicht auf einen Knopf und ein paar Neutrinos ploppen ins Universum und machen sich auf den Weg nach Italien. Man beschleunigt einen Haufen Protonen, die bei Kollisionen dann die Neutrinos erzeugen. Auch den Zeitpunktzu messen, wann die Neutrinos am Detektor ankommen, ist nicht so einfach. Die OPERA-Leute meine, sie könnten das auf 10 Nanosekunden genau messen und das halten anscheinend viele Teilchenphysiker für zweifelhaft. Mehr dazu wird man aber erst morgen wissen, wenn die genauen Daten zum Experiment bekannt gegeben werden.
Update: Hier gibt es schon einen Artikel der OPERA-Forscher in dem sie ihre Ergebnisse präsentieren. Ich hab aber leider grade keine Zeit, mir das durch zu lesen; ich werde erst am Nachmittag dazu kommen. CERN hat zu dem Thema jetzt auch eine Pressemitteilung veröffentlicht. Interessante Kommentare zum Experiment gibt es auch hier.
Update 2: Martin Bäker hat in den Kommentaren darauf hingewiesen, dass schon 1985 Vermutungen darüber angestellt wurden, ob das Neutrino überlichtschnell sein könnte.
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