Im August 1883 hat der mexikanische Astronom José Bonilla eine seltsame Beobachtung gemacht. Von der Sternwarte in Zacatecas aus hat er die Sonne betrachtet. Dabei sah er viele kleine Objekte vor der Sonnenscheibe vorüber ziehen. Was das für Dinger waren, wusste keiner. Hector Javier Durand Manterola, Maria de la Paz Ramos Lara und Guadalupe Cordero von der Nationaluniversität in Mexiko haben sich heute diese historischen Beobachtungen nochmal genau angesehen und sind zu einem erstaunlichen Schluß gekommen: Vor 128 Jahren sind wir haarscharf einer gewaltigen Katastrophe entgangen.
Bonilla hat seine Beobachtungen in einem 1885 erschienenen Artikel (“Passage sur le Disque Solaire d’un Essaim de Corpuscules, vu a l’Observatoire de Zacatecas (Mexique)”) beschrieben. Er sah einige hundert kleine Objekte, die von einer Art Nebel umgeben waren. Sie waren am 12 und 13. August zu sehen und Bonilla hat Zeichungen und sogar ein Foto davon gemacht – kein sehr gutes, immerhin war die Fotografie zu dieser Zeit noch nicht lange erfunden.
Der Herausgeber der Zeitschrift “L’Astronomie” in der Bonillas Beobachtung veröffentlicht wurde, hat am Ende des Artikels noch eine Anmerkung eingefügt. Darin stellt er fest, dass die Beobachtungen interessant sind, aber schwer zu erklären. Vielleicht hat es sich um Vögel gehandelt, Insekten oder Staub im Teleskop? Denn das was Bonilla gesehen hat, hat sonst kein anderer Astronom beobachten können. Hector Manterola und seine Kolleginnen haben Bonillas Beobachtung allerdings ernst genommen und eine interessante Hypothese aufgestellt: die kleinen Objekte, die er vor der Sonne vorüberziehen sah, waren die Bruchstücke eines Kometen. Wenn Bonilla den Kometen von Zacatecas aus sehen konnte, seine Kollegen on Puebla (728 km entfernt) und Mexico City (603 km entfernt) aber nicht, dann bedeutet das, dass der Komet der Erde sehr nahe gewesen sein muss. Das lässt sich leicht verstehen. Würden sich die dunklen Flecken direkt auf der Sonnenoberfläche befinden, dann könnte man sie von jedem Punkt der Erde aussehen von dem man auch die Sonne sehen kann. Wenn es sich also nur um simple Sonnenflecken gehandelt hätte, dann hätten die Beobachter in den anderen Sternwarten sie ebenfalls sehen müssen. Es muss sich also um Objekte gehandelt haben, die sich zwischen Erde und Sonne befinden. Hier kommt es jetzt darauf an, wie nahe sie der Erde sind und wo auf der Erde man selbst sich befindet. Man muss unter dem richtigen Winkel auf die Objekte blicken, damit sie genau vor der Sonnenscheibe zu sehen sind. Das klappt nicht von jedem Ort der Erde aus und je näher Erde und Objekte einander sind, desto kleiner ist der Bereich, von dem aus man sie vor der Sonne vorüber ziehen sehen kann.
Manterola und seine Kolleginnen haben nun berechnet, dass der Komet höchstens 64804 Kilometer von der Erde entfernt gewesen sein kann. Damit war er ihr deutlich näher als der Mond! Die Entfernung lässt sich aber weiter einschränken. Bonilla schätzte, dass die Objekte zwischen einer drittel und einer ganzen Sekunde brauchten, um die Sonnenscheibe zu durchqueren. Berücksichtigt man die typischen Geschwindigkeiten, die ein Komet in Erdnähe hat (zwischen 15 und 75 Kilometer pro Sekunde), dann folgt daraus, dass der Komet nur zwischen 538 und 8062 Kilometer entfernt war! Und es war kein kleiner Komet… Eine weitere Analyse von Bonillas Beobachtungen zeigte, dass die Objekte zwischen 46 und 795 Meter groß waren und zwischen einer halben Million und 2,5 Milliarden Tonnen wogen. Bevor der Komet auseinanderbrach, muss er etwa achtmal so schwer gewesen sein, wie der berühmte Hallysche Komet!
Eine faszinierden Geschichte. Wäre der zerbrochene Komet mit der Erde kollidiert, dann wären die Folgen katastrophal gewesen. Die kleineren Bruchstücke hätten die gleiche Zerstörungskraft gehabt, wie damals das Objekt, dass 1908 in Tunguska eingeschlagen ist und eine Fläche von über 2000 km² verwüstet hat. Und die größeren Fragmente hätten noch viel schlimmere Folgen gehabt… Wie die Menschheit 1883 mit einem gewaltigen Bombardement dieser Art zurecht gekommen wäre, lässt sich kaum sagen und ob sie überhaupt damit zurecht gekommen wäre ist zweifelhaft. Die Geschichte der hätte aber mit Sicherheit einen ganz anderen Verlauf genommen.
Allerdings denke ich, dass es diesen Komet nie gegeben hat. Auf seine Existenz weist nur diese eine Beobachtung von Bonilla hin und das ist doch sehr merkwürdig. Wenn eine so große Wolke aus Kometenfragmenten so knapp an der Erde vorbei fliegt, dann sollte das eigentlich auffallen. Da sollte nicht nur ein einzelner Astronom in Mexiko ein paar dunkle Punkte im Teleskop sehen. Was passiert, wenn die Erde die Bahn eines auseinanderbrechenden Kometen kreuzt, habe ich erst letztens wieder erklärt: Es gibt jede Menge Sternschnuppen!. Denn wenn es sich tatsächlich um einen Kometen gehandelt hat, dann waren da ja sicherlich nicht nur die großen Bruchstücke die Bonilla sehen konnte, sondern auch noch sehr viel mehr kleinere Fragmente und eine gewaltige Staubspur. Wenn also ein zerbrochener Komet in unmittelbarer Nähe der Erde vorüberfliegt, dann muss es Sternschnuppenschauer geben, an die sich die Menschen noch Jahrzehnte später erinnern! Davon war aber 1883 nichts zu sehen. Ich bin auch skeptisch, ob man aus Bonillas Beobachtungen wirklich solch weitreichende Schlüsse ziehen kann. Die Grundlage für die Berechung des extrem kleinen Abstands waren ja Bonillas Zeitmessungen und niemand weiß, wie er die durchgeführt hat (oder ob die Werte nur geschätzt waren). Niemand hat das Teleskop untersucht und nachgesehen, ob mit der Optik alles in Ordnung war. Was mich persönlich am meisten irritiert, ist die Tatsache, dass Bonilla die Objekte an zwei aufeinanderfolgenden Tagen gesehen hat. Wie ich oben schon erklärt habe: Die Orte auf der Erde, von denen man einen Kometen vor der Sonnenscheibe vorüber ziehen sehen kann, hängen von der jeweiligen Konfiguration an. Eine Sonnenfinsternis -bei der der Mond (ebenfalls ein der Erde sehr nahes Objekt) vor der Sonnenscheibe vorüber zieht – kann man auch nur für kurze Zeit und an wenigen Orten der Erde beobachten. Danach haben sich Erde und Mond schon wieder so weit bewegt, dass die Sichtlinien nicht mehr passen und der Mond nicht mehr vor der Sonne zu sehen ist. Dass nun Bonilla zwei ganze Tage lang – zwei Tage, in denen sich Erde und Kometenfragmente ja auch bewegt haben – in Zacatecas der einzige auf der Welt war, der zufällig genau richtig auf den Kometen blickte, halte ich für extrem unwahrscheinlich.
Die Geschichte des großen Kometen, der 1883 fast die Menschheit ausgelöscht hat, ist spannend. Aber ich bin mir eigentlich ziemlich sicher, dass sie nicht stimmt.
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