Früher hatten es Forscher und Entdecker noch leicht. 1669 fand der Apotheker Hennig Brand das chemische Element Phospor, James Cook stieß 1778 im Pazifik auf die den Europäern bisher unbekannte Inselgruppe von Hawaii und Howard Carter grub 1922 im ägyptischen Tal der Könige das Grab des Pharaos Tut-ench-Amun aus. Bei Entdeckungen dieser Art mag es vielleicht einige Zeit dauern, bis man genau einschätzen kann, was man da denn nun genau gefunden hat und wie wichtig der Fund tatsächlich ist. Aber das man etwas entdeckt, ist unumstritten. In der modernen Physik ist das mittlerweile nicht mehr so. Heute gehen die Wissenschaftler mit kilometerlangen Teilchenbeschleunigern auf die Suche nach neuen Bausteinen der Materie. Ihre Experimente liefern eine unvorstellbare Menge an Daten. Ob sich darin tatsächlich neue Entdeckungen verbergen, ist aber nicht so einfach zu sagen. Die Teilchen, die die Physiker zu finden suchen sind nämlich nicht nur enorm winzig, sondern auch noch extrem kurzlebig. Kaum wurden sie bei den Kollisionen im Beschleuniger erzeugt, zerfallen sie auch schon wieder. Ein neues Teilchen kann also nur in den aller seltensten Fällen direkt nachgewiesen werden. Die Wissenschaftler sind darauf angewiesen, die Zerfallsprodukte zu untersuchen. Und genau hier fangen die Probleme an.
Die ganz normale Materie, aus der wir Menschen und die Welt um uns herum besteht, ist aus Atomen zusammengesetzt. Die Atomkerne bestehen aus Protonen und Neutronen, die äußere Schale der Atome wird von Elektronen besetzt. Unserem heutigen Wissensstand nach sind Elektronen Elementarteilchen und können nicht in kleinere Bestandteile zerlegt werden. Protonen und Neutronen dagegen sind aus den fundamentalen Up- und Down-Quarks aufgebaut. Bei den Elektronen handelt es sich um stabile Teilchen. Das bedeutet, dass sie sich nie in andere Teilchen mit geringerer Masse umwandeln und immer Elektronen bleiben. Sollten sie doch irgendwann einmal zerfallen, dann – das zeigen die bisherigen Experiment – tun sie das frühestens nach einer Quadrillion Jahre. Das sind eine Billiarde Milliarden Jahre und damit viel länger als die Zeit, die seit dem Urknall vergangen ist. Auch Protonen leben lange. Sie sind aus zwei Up- und einem Down-Quark aufgebaut und die Lebensdauer dieser Kombination ist noch viel länger als die eines Elektrons. Ganz anders sieht es beim Neutron aus. Es besteht aus zwei Down- und einem Up-Quark. Ist das Neutron gemeinsam mit anderen Neutronen und Protonen in einem Atomkern gebunden, ist alles in Ordnung. Aber ein einzelnes Neutron lebt nur knapp eine Viertelstunde und zerfällt danach in ein Proton und ein Elektron (und ein Antineutrino). Elektronen und Up- bzw. Down-Quarks reichen zwar aus, um die uns bekannte Materie aufzubauen, die Physiker kennen aber noch weitere Elementarteilchen. Neben Up- und Down-Quark gibt es noch vier weitere Quarks. Sie heißen Charme, Strange, Top und Bottom und sind alle viel massereicher als die Alltagsquarks Up und Down. Auch Myonen und Tauonen, quasi die großen Brüder des Elektrons sind viel schwerer. Leichtgewichte dagegen sind die drei verschiedenen Neutrinoarten – Elektronneutrino, Myonneutrino und Tauonneutrino – die die Elementarteilchenfamilie komplett machen.
Fast zumindest, denn wir haben die Kräfte vergessen. Es reicht nicht, einfach nur ein paar Up-Quarks, Down-Quarks und Elektronen zusammen zu würfeln um Atome zu bauen; es muss auch Kräfte geben, die dafür sorgen dass die Teilchen zusammenhalten. Diese Kräfte werden selbst wieder durch spezielle Teilchen vermittelt, die man Eichbosonen nennt. Für den Zusammenhalt der Up- und Down-Quarks sorgen die Gluonen, die die sogenannte starke Kernkraft übertragen. Die elektromagnetische Kraft, die die Elektronen an die Atomkerne bindet, wird durch Photonen vermittelt. Ist das Verhältnis zwischen Protonen und Neutronen im Atomkern nicht ausgewogen genug, dann wird der Kern instabil und wandelt sich in den Kern eines anderen chemischen Elements um. Dieses Phänomen nennt man Radioaktivität und bestimmte Arten des Zerfalls werden durch die schwache Kernkraft erzeugt. Die zuständigen Vermittlerteilchen heißen W- und Z-Bosonen. So gut wie alle diese Elementarteilchen können isoliert nicht lange überleben. Mit Ausnahme der Gluonen, Photonen und Neutrinos sind alle anderen Teilchen viel massereicher als Up-Quarks, Down-Quarks und Elektronen. Mehr Masse bedeutet auch mehr Energie – seit Einstein wissen wir ja, dass Energie und Masse äquivalent sind – und ein instabiles massereiches Teilchen zerfällt schnell in mehrere Teilchen die weniger Masse haben. Auch die können wieder zerfallen, bis am Ende nur die bekannten und stabilen Teilchen übrig bleiben. Dieser Prozess läuft schnell ab. Die oben erwähnte Viertelstunde, die ein freies Neutron überleben kann, ist schon ein außergewöhnlich langer Zeitraum. Ein Top-Quark hört schon nach der unvorstellbar kurzen Zeit von 50 Quadrillionstel Sekunden nach seiner Erzeugung auf zu existieren und zerfällt in ein W-Boson und ein Bottom-Quark. Das W-Boson existiert nur für 30 Quadrillionstel einer Sekunde. Das Bottom Quark ist mit einer Lebenszeit von etwa einer Billionstel Sekunde dagegen schon wieder fast richtig langlebig. Aber wenn all diese Teilchen nur während solch absurd kurzer Zeiträume existieren, wie haben die Wissenschaftler es dann überhaupt geschafft, sie zu entdecken?
Das geht nur mit jeder Menge Statistik. Man lässt so viele Teilchen im Beschleuniger miteinander kollidieren wie es geht und probiert so viele der bei den Kollisionen entstehenden (und gleich wieder zerfallenden) neuen Teilchen zu registrieren. Bei der überwiegenden Mehrheit der Ereignisse wird es sich um Prozesse handeln, die schon lange bekannt sind. Die Wissenschaftler sind aber auf der Suche nach den unwahrscheinlichen Prozessen, denen die so selten vorkommen, dass man sie in den kleineren Teilchenbeschleunigern der Vergangenheit immer übersehen hatte. Am Tevatron, einem Beschleuniger in den USA, hatte man bis zum Jahr 1994 im dort installierten CDF-Detektor knapp eine Billiarde Kollisionen stattfinden lassen. Aus dieser gewaltigen Menge an Ereignissen konnten gerade mal zwölf isoliert werden, die auf die Existenz des Top-Quarks hinwiesen. Es war damals das letzte Elementarteilchen der Quarkfamilie das von den Wissenschaftlern noch nicht entdeckt worden war. Man wusste zwar, dass der Tevatron-Beschleuniger stark genug war, um das Top-Quark zu erzeugen. Man wusste aber auch, dass dies nur sehr selten vorkommen würde und man wusste vor allem, dass es auch noch viele andere, schon bekannte Teilchen gibt, die auf genau die gleiche Art und Weise zerfallen können wie das Top-Quark. Die 12 gemessenen Ereignisse waren vielleicht tatsächlich alle auf das Top-Quark zurückzuführen. Vielleicht aber waren es auch 12 schon längst bekannte Teilchen, die nur zufällig auf die gleiche Weise zerfallen sind? Diese Hintergrundereignisse existieren immer und die Wissenschaftler mussten herausfinden, wie wahrscheinlich es war, dass alle gemessenen Ereignisse auf den Hintergrund zurückzuführen sind.
Die Prozesse die hier ablaufen sind statistische Prozesse. Es lässt sich nicht exakt vorhersagen, welche Teilchen bei einer Kollision entstehen und auf welche Art sie wieder zerfallen werden. Man kann dafür nur Wahrscheinlichkeiten angeben und die gemessenen Werte werden zufällig um einen Mittelwert verteilt sein. Wie stark die Datenpunkte gestreut sind, beschreiben Wissenschaftler mit einer Größe, die man Standardabweichung nennt. 68,3 Prozent aller Datenpunkte liegen genau eine Standardabweichung links oder rechts vom Mittelwert. 95,4 Prozent liegen in einem Intervall von zwei Standardabweichung um den Mittelwert und 99,7 Prozent, also fast alle Punkte, findet man höchstens 3 Standardabweichung vom Mittelwert entfernt. Je weiter man vom Mittelwert entfernt ist, desto unwahrscheinlicher ist es, hier einen Datenpunkt zu finden. Am Tevatron lag der Mittelwert für die Anzahl an Zerfallsereignissen, die dem eines Top-Quarks ähneln, aber keine sind, bei 5,7. Beobachtet hat man dagegen 12. Das ist eine Zahl, die etwa drei Standardabweichungen vom Mittelwert entfernt liegt. Die Wahrscheinlichkeit rein durch Zufall einen Datenpunkt zu bekommen, der so weit entfernt vom erwarteten Wert liegt, ist äußerst klein. Sie beträgt nur 0,25 Prozent. Das war ein deutlicher Hinweis darauf, dass zumindest ein paar der zwölf Zerfallsereignisse wirklich durch ein Top-Quark verursacht wurden. Mit einer Wahrscheinlichkeit von 99,75 Prozent hatte man also im CDF-Detektor das lang gesuchte Quark beobachtet. Das klingt ziemlich gut, aber war es auch gut genug? Leider Nein. Ein Messwert der drei Standardabweichungen vom Mittelwert entfernt liegt, reicht in der Teilchenphysik noch nicht aus, um eine Entdeckung zu verkünden. Hier fordert man circa fünf Standardabweichungen. Die Wissenschaftler am Tevatron sahen zwar, dass sie auf der richtigen Spur waren, brauchten aber noch mehr Daten um wirklich sicher sein zu können, dass sie tatsächlich ein Top-Quark entdeckt hatten. Also wurden mehr Kollisionen durchgeführt, mehr Daten analysiert und auch die Messungen anderer Detektoren inkludiert. Im März 1995 war man dann endlich so weit. Die Wahrscheinlichkeit, dass alle beobachteten Top-Quark-Ereignisse allein durch den Hintergrund an bekannten Teilchen zu erklären war, betrug nur noch etwa 1 zu 500000. Das sind 0,0002 Prozent und damit lag man bei etwa 4,8 Standardabweichungen. Das reichte aus, um die Entdeckung des Top-Quarks zu verkünden. Immerhin konnte man sich nun zu 99,9998 Prozent sicher sein, dass man es tatsächlich beobachtet hatte.
Das Top-Quark war eines der letzten Puzzlestücke das den Teilchenphysikern noch gefehlt hat. Es gibt nur noch ein Teilchen das vom sogenannten Standardmodell der Elementarteilchenphysik vorhergesagt und noch nicht nachgewiesen wurde: Das Higgs-Boson. Seine Beobachtung wäre die letzte und glorreiche Bestätigung für eine der erfolgreichsten Theorien in der modernen Physik. Würde der Nachweis allerdings scheitern, dann müsste man auch das Standardmodell komplett umformulieren. Denn das Higgs-Boson spielt hier eine im wahrsten Sinne des Wortes gewichtige Rolle. Das Standardmodell sagt eigentlich vorher, dass alle Elementarteilchen masselos sind. Wir messen aber, dass verschiedenen Teilchen verschiedenen Massen haben. Grund dafür soll der Higgs-Mechanismus sein, denn sich sechs Wissenschaftler (von denen einer der Schotte Peter Higgs war, nach dem das Teilchen schließlich benannt wurde) im Jahr 1964 ausgedacht haben. In ihrem eigentlichen Zustand sind die Elementarteilchen demnach tatsächlich masselos. Allerdings gibt es – ähnlich wie Magnetfelder oder elektrische Felder – ein „Higgs-Feld”, dass das gesamte Universum durchzieht. Die verschiedenen Teilchen müssen sich nun alle durch dieses Feld bewegen und werden dabei mehr oder weniger stark durch die Higgs-Teilchen aufgehalten. Ein Photon beispielsweise kann das Feld ungehindert durchqueren und wird von den Higgs-Bosonen überhaupt nicht beeinflusst. Ein Down-Quark oder ein Z-Boson dagegen schon. Für diese Teilchen ist die Bewegung durch das Higgs-Feld vergleichbar mit dem Marsch durch einen knietiefen Sumpf, in dem man nur langsam vorankommt und ständig stecken bleibt. Die Stärke der Interaktion mit dem Higgs-Feld erscheint uns als die Masse des Teilchens, je mehr es beeinflusst wird, desto massereicher kommt es uns vor. Der Higgs-Mechanismus selbst ist zwar äußerst elegant aber, solange das Higgs-Teilchen nicht durch Beobachtungen nachgewiesen werden kann, steht das ganze Standardmodell auf der Kippe. Bis jetzt waren die Teilchenbeschleuniger nicht stark genug, um sicher sein zu können, dass das Higgs-Boson bei Kollisionenauf jeden Fall erzeugt wird. Der „Large Hadron Collider (LHC)” der 2008 am europäischen Kernforschungszentrum CERN seinen Betrieb aufnahm, ist dazu aber in der Lage (übrigens: der LHC ist nicht gefährlich). Wenn das Higgs-Boson existiert, dann wird der LHC es nachweisen können und wenn es nicht existiert, dann wird der LHC das auch nachweisen können.
Aber wie wir schon anhand der Entdeckung des Top-Quarks gesehen haben, wird man auch am LHC nicht einfach auf den Bildschirm deuten und ausrufen können: „Hier ist das Higgs-Teilchen! Wir haben es entdeckt!”. Genauso wie das Top-Quark ist auch das Higgs-Boson nur für kurze Zeit stabil und zerfällt sofort in viele andere Teilchen. Und so wie beim Top-Quark gibt es auch beim Higgs-Boson viele bekannte Teilchen, die auf genau die gleichen Art und Weise zerfallen. Am LHC tut man also derzeit, was nötig ist: Man sammelt Daten, je mehr umso besser. In diesen Daten sucht man dann nach Ereignissen, die verglichen mit den erwarteten Hintergundereignissen unerwartet oft auftreten. Erst wenn die Häufigkeit weit genug vom Mittelwert entfernt liegt – mindestens fünf Standardabweichungen – dann wird man die Entdeckung des Higgs-Bosons verkünden können. Der LHC ist auf einem guten Weg. Bis Oktober 2011 hatte man dort schon die enorme Anzahl von 400 Billionen Teilchenkollisionen registriert und bis zum Ende des Jahres sollen es sogar eine Billiarde Kollisionen sein, die analysiert werden können. Wenn das Higgs-Teilchen tatsächlich existiert, dann wird es sich nicht mehr lange vor den Wissenschaftlern verstecken können. Und wenn es nicht existiert? Dann wird der LHC auch hier bald Gewissheit bringen! Manche Wissenschaftler werden sich insgeheim vielleicht sogar wünschen, dass der LHC das Higgs-Teilchen nicht finden kann. Denn wenn es nicht existiert, dann bedeutet das zwar, dass das Standardmodell in seiner aktuellen Form falsch ist. Es ist aber auch gleichzeitig ein Hinweis darauf, dass dort draußen noch völlig neue und bisher komplett unverstandene Phänomene auf uns warten. Phänomene, von deren Entdeckung jeder Wissenschaftler träumt…
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