Sie gehört zum Standardrepertoire von Weltuntergangspropheten, Verschwörungstheoretikern und anderen Wichtigtuern: Die Behauptung, es würde in letzter Zeit immer mehr schwere Erdbeben geben. Das sei nicht normal, sondern ein Anzeichen für die kommenden große Katastrophe. Ich habe schon anlässlich des großen Bebens in Fukushima darüber nachgedacht, ob es tatsächlich immer mehr Erdbeben gibt und nun haben der Geowissenschaftler Peter Shearer und der Statistiker Philip Stark die Frage im Detail untersucht. Ihre Schlussfolgerungen kann man schon dem Titel ihrer kürzlich veröffentlichten Arbeit entnehmen: “Global risk of big earthquakes has not recently increased”.
Im März 2011 gab es in Japan ein Beben der Stärke 9. 2010 gab es in Chile ein Beben der Stärke 8,8. 2004 ein Beben der Stärke 9, das den katastrophalen Tsunami ausgelöst hat. Und dann waren dann noch kleinere Beben, wie zum Beispiel das im Januar 2010 in Haiti oder das im März 2011 in Neuseeland, die ebenfalls viele Todesopfer gefordert haben. Ist es nicht, doch so, dass Erdbeben mit katastrophalen Folgen gehäuft auftreten? Diese Frage lässt sich nur mit einer vernünftigen Statistik beantworten und genau das haben Shearer und Stark gemacht. Zuerst haben sie einen Erdbebenkatalog erstellt, der alle Beben zwischen 1900 und 2011 enthält. Der wurde dann “entclustert”, das bedeutet, man hat alle Beben entfernt die zeitlich und räumlich dicht auf ein anderes Beben gefolgt sind, um die Statistik nicht durch Nachbeben zu verfälschen. So sehen die Daten aus:
Im obersten Bild sind alle Beben mit einer Stärke von mehr als 7 zusammengefasst, darunter der Verlauf der jährlichen Erdbebenrate für Beben mit einer Stärke von mehr als 8 bzw. 7,5 und 7. Man könnte nun vielleicht auf die Idee kommen, aus Bild B herauszulesen, dass die großen Beben tatsächlich häufiger werden. Immerhin sieht es dort wirklich so aus, als würde die Kurve ansteigen. Aber weder unsere Augen noch unser Einschätzungsvermögen sind geeignete Instrumente um damit Statistik zu betreiben. Wir Menschen sind immer auf der Suche nach Mustern und finden sie auch dort, wo gar keine sind. Wir sind nicht in der Lage, intuitiv zu verstehen, was wirklich zufällig ist und was nur so erscheint. Wenn ich eine Münze werfe, dann beträgt die Chance, dass sie auf “Zahl” landet, 50 Prozent. Das bedeutet aber nicht, dass jeder zweite Wurf mir “Zahl” zeigen wird. Es kann genauso gut auch passieren, dass fünfmal hintereinander “Kopf” kommt. Der Prozess ist dabei aber immer ein Zufallsprozess. Auch bei völlig zufällig ablaufenden Ereignissen wird es immer zu Häufungen bestimmter Werte kommen. Wir Menschen neigen dann dazu, solche Serien als Anzeichen dafür zu werten, dass hier mehr dahinter steckt als nur Zufall. So scheint es auch bei den Erdbeben zu sein. Aber erst eine statistische Auswertung der Erdbebendaten kann die Angelegenheit klären. Shearer und Stark wollten nun die folgende Frage klären: Vorausgesetzt, die Erdbeben treten wirklich zufällig und ihre Häufigkeit folgt einer Poisson-Verteilung – wie wahrscheinlich ist es dann, eine scheinbare Häufung von schweren Erdbeben zu beobachten?
Um diese Frage zu beantworten, haben sie eine Monte-Carlo-Simulation durchgeführt. Das heißt, dass sie 100000 zufällige Erdbebenkataloge erstellt haben. Dann haben sie nachgesehen, wie oft es in diesen Katalogen zu Häufungen kam. Das kann dann mit den echten Daten verglichen werden. Zum Beispiel zeigen die echten Erdbebendaten, dass 9 von den insgesamt 75 Beben mit einer Stärke von mehr als 8 zwischen 2004 und 2011 stattgefunden haben. Eine Analyse der Zufallskataloge zeigt, dass so eine Häufung in 85% der Fälle zu erwarten ist. Nichts außergewöhnliches also. Drei von den 16 Beben mit einer Stärke von mehr als 8,5 fanden zwischen 2004 und 2011 statt. Diese Häufung ist sogar in 97% der Fälle zu erwarten! Die scheinbare Erhöhung der Erdbebenrate ist also tatsächlich nur eine scheinbare. Die statistische Analyse zeigt klar, dass die Verteilung der Beben problemlos mit der Ausgangshypothese (zufällige Poisson-Verteilung) übereinstimmt. Interessanter war aus Sicht der Forscher hier das Fehlen von Beben mit einer Stärke von mehr als 8,5 zwischen 1965 und 2004. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich bei 16 Beben während des 111jährigen Intervalls zwischen 1900 und 2011 eine solche Lücke finden lässt, beträgt nur 1,3 Prozent. Also doch ein Zeichen dafür, dass mit den Erdbeben irgendetwas nicht nach Plan läuft?
Das Problem ist, dass man diese Anomalie erst nachträglich herausgesucht hat. Bei einem Zufallsprozess ist es allerdings immer möglich, sich nachträglich eine Eigenschaft herauszusuchen, die unwahrscheinlich aussieht. Shearer und Stark haben das quantitativ untersucht. Sie haben 1000 Kataloge mit zufällig verteilten Bebendaten erzeugt und darin nach “außergewöhnlichen” Häufungen bzw. Lücken gesucht und dann das jeweils “unwahrscheinlichste” Feature identifiziert. In 91 Prozent der Kataloge fanden sie Häufungen/Lücken von Beben, die nur in 10 Prozent der Fälle auftreten sollten (Das ist keine widersprüchliche Aussage!). 74 Prozent der Kataloge enthielten eine Häufung/Lücke von Beben, die man nur in 5% der Fälle findet und 30 Prozent der Kataloge enthielten noch seltenere Features, die nur in weniger von 1% der Fälle auftreten. Es ist also nicht unwahrscheinlich, in einer Zufallsreihe eine beliebige unwahrscheinliche Serie zu entdecken. Es erscheint uns nur so, weil wie die Serie nachträglich hervorheben.
Am Ende ihrer Analyse kommen Shearer und Stark zum Ergebnis, dass die Verteilung der Erdbebendaten mit einer Poisson-Verteilung in Einklang steht. Sie untersuchen dann trotzdem noch diverse geophysikalische Mechanismen, die eventuell doch zu einer Häufung von Beben führen könnten (die Schockwellen eines Bebens könnten zum Beispiel durch die Erde weitergeleitet werden und später ein weiteres Beben auslösen), zeigen aber, dass keine dieser Hypothesen zu den Daten passt. Sie fassen ihre Ergebnisse so zusammen:
“The recent elevated rate of large earthquakes has increased estimates of large earthquake danger: The empirical rate of such events is higher than before. However, there is no evidence that the rate of the underlying process has changed. In other words, there is no evidence that the risk has changed, but our estimates of the risk have changed.”
Wir messen zwar eine erhöhte Rate an Erdbeben. Das bedeutet aber nicht, dass die Erdbeben deswegen auch wirklich häufiger Auftreten. Der Prozess, der die Erdbeben erzeugt ist der gleiche wie immer. Das Erdbebenrisiko hat sich nicht geändert – nur unsere Einschätzung des Risikos.
Shearer, P., & Stark, P. (2011). Global risk of big earthquakes has not recently increased, Proceedings of the National Academy of Sciences, DOI: 10.1073/pnas.1118525109
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