Vielleicht kommt für die Physiker Weihnachten dieses Jahr schon ein wenig früher. Die Gerüchteküche im Internet läuft in den letzten Tagen auf Hochtouren. Während des am Dienstag am CERN stattfindenden Seminar soll die Entdeckung des Higgs-Bosons verkündet werden – darübher spekulieren zumindest manche Blogger und Medien. Steht eines der größten Rätsel der Physik tatsächlich kurz vor der Lösung?
Das Higgs-Teilchen wurde in den 1960er Jahren in das Standardmodell der Teilchenphysik eingefügt, um erklären zu können, wie die eigentlich masselosen Teilchen zu ihrer Masse kommen. Erst durch die Interaktion mit dem Higgs-Teilchen erscheint es uns so, als hätten die Dinge Gewicht. Bis heute war das Standardmodell höchst erfolgreich, alle seine Vorhersagen sind eingetreten. Nur eine Teilchen hat sich bisher einer Entdeckung entzogen: Das Higgs-Teilchen. Aber vielleicht nicht mehr lange.
Dass die Wissenschaftler am CERN langsam in der Lage sind, definitive Aussagen über das Higgs-Boson machen zu können, kommt nicht unerwartet. In einem früheren Artikel habe ich ja ausführlich beschrieben wie die Suche nach dem Teilchen abläuft und das es vor allem darauf ankommt, möglichst viele Daten zu sammeln. Nur dann ist es möglich, statistisch brauchbare Schlüsse zu ziehen. Der große Teilchenbeschleuniger LHC ist in den letzten Jahren hervorragend gelaufen und hat mittlerweile knapp eine Billiarde Teilchenkollisionen aufgezeichnet. Wenn das Higgs-Teilchen tatsächlich existiert, dann sollte es eigentlich in dieser gewaltigen Menge an Daten zu finden sein.
Man kann es ja leider nicht direkt entdecken sondern ist auf statistische Auswertungen angewiesen. Und hier braucht man eben so viele Daten, um sicher sein zu können, dass es sich bei den gemessenen Anomalien nicht um zufällige Fluktuationen handelt sondern tatsächlich um die Auswirkungen eines bisher unbekannten Teilchens. Erst wenn die Wahrscheinlichkeit eines Irrtums weniger als 0,0002 Prozent beträgt, spricht man in der Teilchenphysik von einer Entdeckung. Am LHC existieren zwei große Detektoren, die Kollisionen aufzeichnen. Der eine heißt ATLAS, der andere CMS. Beide haben in den letzten Jahren unabhängig voneinander Daten gesammelt und nach dem Higgs gesucht. Am Dienstag sollen nun das erste Mal alle Daten gemeinsam ausgewertet und betrachtet werden. Das könnte reichen, um das Higgs-Teilchen nachzuweisen. Tommaso Dorigo, einer der Forscher die mit CMS arbeiten, hat in seinem Blog über die Erwartungen geschrieben. Natürlich ohne viel zu verraten – er selbst kennt die Daten von ATLAS ja auch nicht. Er hat aber ein schönes Diagramm gezeigt:
Auf der x-Achse sieht man die Masse, die das Higgs-Boson haben könnte (angegeben in der Einheit Elektronenvolt/c²). Die y-Achse zeigt die zugehörige zu erwartenden Signifikanz einer Beobachtung, die man mit einer gewissen Anzahl an Kollisionen erwarten kann. Die Einheit der Signifikanz ist hier das gebräuchliche “Sigma”. Eine Entdeckung auf 3-Sigma-Level würde zum Beispiel bedeuten, dass die Wahrscheinlichkeit eines Irrtums noch 0,3 Prozent beträgt. Zu viel um sicher sein zu können. Erst ab einem Level von 5-Sigma kann man wirklich von einer Entdeckung sprechen. Die verschiedenfarbigen Linien im Diagramm entsprechen verschiedenen Zahlen von Kollisionen. Hier verwenden die Teilchenphysiker die Einheit “inverse Femtobarn” (ein inverses Femtobarn entspricht ca. 70 Billionen Kollisionen). Mittlerweile hat der LHC 5 inverse Femtobarn bei Kollisionsenergien von 7 TeV erreicht, wir müssen uns also auf die durchgezogene blaue Linie konzentrieren. In einem Bereich von etwa 140 bis 220 GeV liegt sie über dem 5-Sigma-Level. Hat das Higgs-Boson eine Masse, die in dieses Intervall fällt, dann könnte man mit der jetzigen Datenmenge vielleicht tatsächlich schon eine Entdeckung bekannt geben.
Vielleicht ist es am Dienstag also tatsächlich so weit und die Wissenschaftler am CERN geben bekannt, dass sie das Higgs-Teilchen dingfest gemacht haben, das letzte Teilchen, das dem Standardmodell der Teilchenphysik noch fehlt und das erklärt, warum die Dinge Masse haben. Ich halte es aber für wahrscheinlicher, dass die Daten nur vielversprechende Hinweise auf das Higgs-Boson zeigen, aber noch nicht siginifikant genug sind, um tatsächlich von einer Entdeckung sprechen zu können. Das schreibt auch das Hamburger Abendblatt:
“Cern-Generaldirektor Rolf-Dieter Heuer dämpfte in einer E-Mail an die Cern-Mitarbeiter zu hohe Erwartungen: Die neuen Ergebnisse reichten aus, um “einen bedeutenden Fortschritt auf der Suche nach dem Higgs-Boson zu machen, aber es ist nicht genug, um irgendeine abschließende Aussage über die Existenz oder Nicht-Existenz des Higgs zu treffen.”
Tommaso Dorigo weist auch noch auf eine andere Möglichkeit hin:
“Now, the graph shows that ATLAS has a chance to exclude the particle in that full remaining interval, if it indeed does not exist. In other words, we might be able to have a first indication that the Higgs mechanism and the whole model is wrong, if that is the case. But beware, it would only be an indication!”
Die Daten könnten also auch zeigen, dass das Higgs-Boson (zumindest in der Standardform) nicht existiert. Aus rein wissenschaftlicher Sicht wäre dieses Ergebnis ebenfalls dramatisch und revolutionär. Viele Physiker wünschen sich sogar eine Nicht-Entdeckung, denn das bedeutet, dass wir uns etwas komplett Neues ausdenken müssen und damit auch die Chance haben, etwas fundamental Neues über das Universum zu lernen.
Was auch immer die Daten zeigen werden: Wir werden es am Dienstag erfahren. Das Seminar beginnt um 14 Uhr und wird live im Internet übertragen. Bei den Quantum Diaries wird es auch einen Liveblog geben und via Twitter kann man mit #higgsliveblog dabei sein. Ich bin schon sehr gespannt (und empfehle zur Einstimmung die Lektüre meines Artikels über die bisherigen Ergebnisse der Suche, denn solche gelb-grünen Diagramme werden wir am Dienstag sicherlich zu sehen bekommen…)
Nachtrag: Hier könnt ihr lesen, was bei dem Seminar präsentiert wurde.
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