Das Weltall ist manchmal ein unfreundlicher Ort. Da fliegt man als Galaxie friedlich durchs Universum und überlegt, ob man sich vielleicht doch noch ein paar neue Sterne zulegen soll – und wird plötzlich belästigt. Oder gar stranguliert! Und alles nur, weil man sich in der falschen Gegend aufgehalten hat!
Eine Galaxie ist eine große Ansammlung von Sternen. Unsere Sonne bildet zusammen mit ein paar hundert Milliarden anderer Sterne die Milchstraße. Aber auch die Galaxien sind nicht gerne alleine. Sie bilden großen Galaxienhaufen, die aus einigen hundert bis tausend einzelnen Galaxien bestehen. Unsere Milchstraße gehört zu einer Galaxiengruppe die den wenig originellen Namen “Lokale Gruppe” trägt. Wie sich eine Galaxie im Laufe der Zeit entwickelt, hängt unter anderem davon ab, wo im Haufen sie ist. Es macht einen Unterschied, ob sich die Galaxie in den Randbezirken des Haufens aufhält oder ob sie gerade in der Mitte befindet. Denn in der Mitte ist die Dichte höher; hier findet man mehr Galaxien als weiter außen. Und das spielt eine wichtige Rolle!
Denn auch wenn der intergalaktische Raum sehr groß und sehr leer ist, existiert eine Galaxie nicht unabhängig von ihrer Umgebung. Zwischen den Galaxien gibt es das sogenannte Intracluster-Medium. Das ist ein sehr dünnes Gas, das hauptsächlich aus Wasserstoff- und Heliumatomen besteht. In 1000 Kubikzentimetern Weltraum (das ist ein Liter) findet man im Durchschnitt gerade mal ein Atom! Ein Teilchen des Intracluster-Mediums (ICM) kann sich im Mittel ein ganzes Lichtjahr weit frei durch den intergalaktischen Raum bewegen, bevor es mit einem anderen Teilchen kollidiert. Aber auch wenn das Gas enorm dünn ist, hat es einen Einfluss auf die Galaxien. Denn die sitzen nicht nur still da. Jede Galaxie übt eine Gravitationskraft auf jede andere Galaxie aus und alle bewegen sich umeinander. Je nach dem, wie schnell sich eine Galaxie durch das Intracluster-Medium bewegt und je nachdem wie dicht das Medium gerade ist, kann dabei etwas passieren, dass man “Ram Pressure Stripping” nennt. So wie der Fahrtwind einem schnellen Radfahrer ins Gesicht bläst, erzeugt auch die Bewegung der Galaxie durch das ICM einen “Fahrtwind”. Wenn der ausreichend stark ist, dann kann dabei Gas und Staub aus der Galaxie selbst “geblasen” werden. Gas braucht die Galaxie aber, um neue Sterne zu erzeugen. Eine Galaxie nach dem Ram Pressure Stripping kann also weniger beziehungsweise gar keine neuen Sterne mehr bilden!
Es geht aber noch schlimmer. Die Galaxie kann auch “gewürgt” werden. Bei ihrer Bewegung umeinander kommen sich die Galaxien auch immer wieder mal nahe. Dabei wirken Gezeitenkräfte und die Galaxien werden gestreckt und verformt. Auch dabei kann Gas und Staub aus der Galaxie ins Intracluster-Medium verloren gehen. Diesen Prozess nennt man “Galaxy Strangulation” (also “Galaxienwürgen”) und auch er führt dazu, dass die Sternentstehung in gewürgten Galaxien unterdrückt wird.
Wenn eine Galaxie der Strangulation entkommt, dann kann sie immer noch belästigt werden. Von “Galaxy Harassment” (“Galaxienbelästigung”) spricht man, wenn eine Galaxie mit hoher Geschwindigkeit an der anderen vorbei fliegt. Ein schönes Beispiel dafür ist die Wagenradgalaxie:
Früher war die Wagenradgalaxie eine ganz normale Spiralgalaxie, so wie auch die Milchstraße. Vor ungefähr 200 Millionen Jahren aber ist die kleine blaue Galaxie rechts unten im Bild mit hoher Geschwindigkeit mitten durch sie hindurch gesaust und hat dabei eine enorme gravitative Schockwelle erzeugt. Dadurch wurde zwar einerseits jede Menge Gas und Staub kontrahiert und viele neue Sterne entstanden. Es wurde aber auch die ganze Galaxie destabilisiert – der im Bild sichtbare blaue Ring aus neuen Sternen ist instabil und bewegt sich vom Zentrum der Galaxie weg. Und natürlich wurde auch wieder jede Menge Staub und Gas aus der Galaxie ins Intracluster-Medium gepustet.
Der Fahrtwind des Ram Pressure Strippings, die Strangulation und die Belästigung sind verschiedene Prozesse, die die Entwicklung einer Galaxie beeinflussen können und sich besonders auf die Sternentstehung auswirken. Wenn wir die Galaxien verstehen wollen, dann müssen wir auch diese Dynamik verstehen. Besonders interessant ist dabei die Frage der Zeit. Wie lange dauert es, bis die Auswirkungen der galaktischen Interaktionen messbare Auswirkungen auf die Sternentstehungsraten in den Galaxienhaufen haben? Merkt man das nur bei alten Haufen? Oder gab es das auch schon, als das Universum noch jung war? Glücklicherweise können wir solche Fragen in der Astronomie beantworten. Denn je weiter weg wir mit den Teleskopen blicken, desto weiter sehen wir auch in die Vergangenheit.
Der Galaxienhaufen XMMU J2235.3-2557 ist der am weitesten entfernte massereiche Galaxienhaufen, den wir kennen. Hier ist ein Bild davon:
Die Aufnahme zeigt keine echten Farben sondern eine Mischung aus sichtbaren und infrarotem Licht. Darüber gelegt sind die Konturen von Regionen, die Röntgenstrahlung abgeben. Wir sehen den Galaxienhaufen zu einer Zeit, als das Universum gerade 4,5 Milliarden Jahre alt war; also erst ein Drittel seines heutigen Alters erreicht hatte. So ein junger Haufen eignet sich natürlich hervorragend, wenn man herausfinden will, was früher im Universum los war. Darum wurde er auch schon von vielen Wissenschaftlern untersucht. Unter anderem auch in einer kürzlich erschienenen Arbeit mit dem Titel “Suppression of Star Formation in the central 200 kpc of a z = 1.4 Galaxy Cluster”. Der Artikel stammt von Ruth Grützbauch (sie hat hier im Blog schon mal einen Gastartikel verfasst von der Universität in Lissabon und ihre Kollegen aus Australien, Hawaii und Spanien (darunter auch Amanda Bauer, die ein Astronomieblog schreibt, dass ich hier auch schon öfter erwähnt habe).
Ruth und ihre Kollegen haben das große Gemini-Teleskop in Hawaii benutzt um die einzelnen Galaxien von XMMU J2235.3-2557 genauer zu untersuchen. Sie haben vor allem die Sternentstehungsraten der verschiedenen Galaxien bestimmt. Dazu haben sie Bilder des Haufens bei einer ganz bestimmten Wellenlänge gemacht, die in der Astronomie als H-alpha bekannt ist. Das ist im wesentliches rotes Licht von knapp 656 Nanometern Wellenlänge und die Helligkeit einer Galaxie bei dieser Wellenlänge hängt direkt mit der Anzahl der jungen Sternen zusammen. Denn die strahlen viel UV-Strahlung ab, die das Wasserstoffgas in den Galaxien zum Leuchten anregt. Und der Wasserstoff leuchtet besonders gut bei 656 Nanometern… So sehen die Ergebnisse aus:
Das Bild sieht auf den ersten Blick etwas verwirrend aus, aber uns müssen vorerst eigentlich nur die violetten Kreise interessieren. Sie markieren genau die Galaxien, in denen Sterne entstehen. Auf der x-Achse des Diagramms ist der Abstand zum Zentrum des Galaxienhaufens aufgetragen. Auf der y-Achse die Sternentstehungsrate. Man sieht gut (gelbe vertikale Linie), dass bis zu einem Abstand von 200 Kiloparsec (das sind etwa 650000 Lichtjahre und entspricht in etwa einem Viertel des Abstands zwischen der Milchstraße und der Andromedagalaxie) so gute wie keine Sternentstehung stattfindet. Die violetten Kreise tauchen erst später auf. Und vor allem tauchen sie plötzlich auf; es gibt keinen langsamen Übergang bzw. keinen langsamen Anstieg der Sternentstehungsrate wenn man vom Zentrum des Haufens nach außen geht. Im inneren Bereiche mit einem Durchmesser von 200 Kiloparsec tut sich nichts – aber kaum betritt man die äußeren Bereiche des Haufens, setzt die Sternentstehung wieder ein. Grund dafür sind die oben beschriebenen Prozesse: Ram Pressure Stripping, Strangulation und Belästigung. Im Zentrum des Haufens geht es zu wild zu, erst weiter draußen ist es ruhig genug für die Galaxien, um halbwegs unbelästigt durchs All zu fliegen und in Ruhe neue Sterne zu bilden.
Die Arbeit von Ruth und ihren Kollegen hat das erste Mal die individuellen Sternentstehungsraten der Galaxien eines so weit entfernten Haufens gemessen und gezeigt, dass die Galaxien auch im jungen Universum keinen Frieden hatten. Auch damals schon gab es ungemütliche Ecken, die man besser meidet, wenn nicht belästigt und stranguliert werden will 😉
Kommentare (20)