Michael Scholz, Chef der Bücherei in Rödental, hat ja schon letztes Jahr eine tolle Bildergeschichte mit meinem Buch “Krawumm” in der Hauptrolle gebastelt. Diesmal gibt es keine Fotos, dafür aber einen äußerst lesenswerten Gastbeitrag von Michael über Kaspar Hauser, das mysteriöse Findelkind aus dem 19. Jahrhundert. Viel Spaß damit!
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1. Vorbemerkung
Es ist nun 185 Jahre her, seit auf dem Unschlittplatz in Nürnberg ein junger Mann stand, kaum fähig sich zu artikulieren, einen Zettel in der Hand. Niemand konnte ahnen, welche Geheimnisse um den jungen Mann gewoben wurden und vor allem ahnte niemand, dass sein Schicksal selbst heute noch Menschen interessieren würde. In diesen fast 200 Jahren, seit die Ereignisse in der ehemals freien Reichsstadt ihren Anfang genommen hatten, wurden mehr als 2.000 Bücher und über 15.000 Artikel über ihn verfasst. Kaspar Hauser war der Name des „rätselhaften Findlings“. Es gab zahlreiche Theorien über seine Abstammung, wovon einige selbst den deutschen Hochadel der damaligen Zeit beteiligten.
2. Das Leben Kaspar Hausers nach seiner Auffindung
Aber fangen wir am Anfang an. Es war der 26. Mai 1828, der Pfingstmontag jenes Jahres und damit Feiertag, als der Schuhmachermeister Georg Leonhard Weichmann auf dem Unschlittplatz in Nürnberg den etwa 16-jährigen Kaspar Hauser stehen sieht. Diesen Namen kennt er natürlich nicht und auch in der kurzen Unterhaltung, die die beiden führen, taucht er nicht auf. Der Junge gab an, aus Regensburg zu kommen und in die Neue Torstraße zu wollen. Er gab Weichmann einen Brief, der an den Rittmeister der 4. Eskadron im 6. Chevauxlegers-Regiment adressiert war. Der Namen des Offiziers war allerdings nicht vermerkt. Der bekannteste Satz, den der Junge sagte war „A söchtener Reuter möchte ich wern, wie mei Votter aner gwen is“. Weichmann brachte Hauser zur Wohnung von Rittmeister Friedrich von Wessenig, dem Rittmeister, an den der Brief gerichtet war.
Wessenig ließ den Jungen zur Gendarmerie verbringen, wo er befragt wurde. Als Namen schrieb er „Kaspar Hauser“. Zwar war sein Wortschatz sehr eingeschränkt, aber er konnte Gebete aufsagen, etwas lesen und wusste, was Geld ist. Auch die Papiere, die er bei sich trug wurden hier nun genauer gelesen. Im ersten Brief heißt es, dass der Knabe dem unbekannten Schreiber im Oktober 1812 „gelegt“ wurde und der ihm dann aufgezogen habe und ihm auch etwas lesen und schreiben „und das Christentum“ gelehrt habe. Da der Knabe nun ein Reiter werden wollte, habe man ihn weggebracht. Als Adresse trug der Brief die Angabe „Von der Bäierischen Gränz dass Orte ist unbenannt“.
Das zweite Schreiben stammte angeblich von der Mutter des Findlings und darin wurde angegeben, dass der Junge Kaspar heiße und am 30. April 1812 geboren sei. Als Vater wurde ein Chevauxleger des 6. Regiments angegeben, der aber bereits tot sei. Bemerkenswert war daran, dass in dem zweiten Brief der Dialektausdruck „Schwolische“ benutzt wurde, eine Dialekt-Verballhornung von „Chevauxleger“, die in den meisten fränkischen Dialekten nicht verwendet wird. Nach einem Schriftvergleich ging man aber davon aus, dass beide Zettel von derselben Person geschrieben worden waren.
Kaspar Hauser wurde ins Gefängnis „Luginsland“ verbracht, wo der Gefängniswärter Andreas Hiltel sich um ihn kümmerte. Hauser erhielt nun auch Sprach-Unterricht, wobei noch anzumerken ist, dass er seine altbaierische Dialekt-Färbung beibehielt, obschon er sich nun in einer fränkischen Umgebung aufhielt. Auch ärztlich wurde er untersucht, wobei festgehalten wurde, dass seine Muskeln unter- und seine Sinne überentwickelt seien. Auch eine Impfnarbe wurde festgestellt.
Bürgermeister Jakob Friedrich Binder führte viele Gespräche mit Kaspar, die er in einer öffentlichen Bekanntmachung vom 7. Juli 1828 veröffentlichte. Darin wurde erstmals angegeben, dass der Junge bisher in einer sitzenden Stellung in einem fast gänzlich dunklen Raum gelebt habe. Weiter heißt es, dass er während des Schlafes mit Brot und Wasser versorgt worden sei und ihm auch im Schlaf die Haare und Nägel geschnitten wurden. Die nötige Tiefe des Schlafes wurde mit Opium-Gaben erklärt. Anzeichen für einen derartig umfangreichen Opium-Mißbrauch gab es allerdings zu keiner Zeit.
Als Toilette diente ihm ein Gefäß in einer Bodenvertiefung, das ebenfalls während des Schlafes geleert wurde. Sein erster Kontakt mit anderen Menschen sei erst kurz vor seiner Freilassung gewesen. Es sei ein Mann gewesen, dessen Gesicht er nie gesehen habe, der ihm das Schreiben seines Namens und den Satz, dass er ein Reiter werden wolle, beigebracht habe. Den Sinn der Worte habe er aber nie erfasst. Dieser Unbekannte habe ihn auch bis kurz vor Nürnberg gebracht und erst auf dem Weg habe er Stehen und Gehen gelernt.
Um Kaspar Hauser besser betreuen zu können, wurde er am 18. Juli 1828 dem Gymnasialprofessor Georg Friedrich Daumer übergeben, in dessen Haus er seitdem wohnte. Daumer gab Hauser Unterricht, führte mit ihm aber auch esoterisch-homöopathische Experimente durch.
Am 17. Oktober 1829 kam es zu einem ersten Zwischenfall. Gegen Mittag wurde Kaspar Hauser im Keller von Daumers Haus gefunden, eine blutende Schnittwunde an der Stirn. Hauser sagte aus, von einem maskierten Mann auf dem Abtritt überrascht worden zu sein. Dieser Mann habe ihm gedroht, dass er sterben müsse, bevor er Nürnberg verlassen könnte. Laut Hausers Angaben soll der Maskierte derselbe Mann gewesen sein, der ihn nach Nürnberg gebracht habe. Blutspuren zufolge lief Hauser zuerst in den ersten Stock, drehte dann aber um und stieg durch eine Bodenluke in den Keller. Dies tat er, obwohl sich im ersten Stock Menschen aufhielten, die ihm hätten helfen können.
Nach diesem Zwischenfall wurde Kaspar Hauser im Haus der Familie Biberbach einquartiert, um ihn besser schützen zu können. Aus demselben Grund waren nun auch ständig zwei Gendarmen bei Hauser. Aber auch hier kam es zu einem Zwischenfall, denn am 3. April 1830 fiel in seinem Zimmer ein Schuss. Hauser war angeblich auf einen Stuhl gestiegen sein, um ein Buch erreichen zu können. Der Stuhl sei umgefallen und er versuchte, sich an der Pistole festzuhalten, die an der Wand hing, dabei löste sich der Schuss. Hauser wies eine blutende Wunde auf der rechten Seite des Kopfes auf, von der aber fraglich ist, ob sie von dem Schuss stammte.
Da bereits vor diesem Vorfall die Beziehungen zur Familie Biberbach getrübt waren, kam Hauser nun zu seinem eigentlichen Vormund Gottlieb von Tucher. Zu dieser Zeit lernte er auch Philip Henry Earl Stanhope kennen, einen britischen Adligen und Gelehrten, der zahlreiche Reisen auf den europäischen Kontinent und insbesondere in die deutschen Länder unternahm. Zum Zeitpunkt, als er Kaspar Hauser kennen lernte, war er auch Präsident der Medico-Botanical Society of London.
Stanhope zeigte großes Interesse an und große Zuneigung zu Kaspar Hauser und bemühte sich auch darum, seine Pflegschaft zu übernehmen, was ihm 1831 auch gelang. Damit war auch wieder ein Wohnungswechsel verbunden. Auf Vorschlag von Anselm von Feuerbach zog Hauser nach Ansbach, in das Haus des Lehrers Johann Georg Meyer. Feuerbach übernahm auch die Fürsorge für Hauser, wenn Stanhope auf Reisen war. Stanhope erhielt von Feuerbach auch volle Einsicht in die Ermittlungsakten zum Fall Hauser. Er stellte auch hohe Geldbeträge zur Verfügung, um die Herkunft von Kaspar Hauser zu ergründen. Unter anderem stellte er auch Ermittlungen in Ungarn an, da Hauser auf ungarische Worte reagierte, die aber im Sande verliefen und erste Zweifel in Stanhope aufkommen ließen. Der Earl versprach Hauser auch, ihn mit nach England zu nehmen, wozu es aber nie kam. Anfang des Jahres 1832 reiste Stanhope ab, um nie wieder zurück zu kehren. Allerdings übernahm Stanhope auch weiterhin die Kosten für Hausers Lebensunterhalt. Ab Ende 1832 arbeitete er als Schreiber am Appelationsgericht Ansbach, eine Stellung die ihm Anselm von Feuerbach als Präsident des Gerichts verschafft hatte.
Nur knapp ein Jahr später, am 17. Dezember 1833 starb Kaspar Hauser an den Folgen einer Stichwunde, die er drei Tage vorher, am 14. Dezember erlitt. Seiner Darstellung nach war er von einem Unbekannten eingeladen worden, den artesischen Brunnen im Hofgarten zu besichtigen. Dort sei aber niemand gewesen und er sei dann zum Uz-Denkmal gegangen, wo ihn ein Mann mit Bart angesprochen habe. Dieser Mann soll ihm dann einen Beutel gereicht haben und als er seine Hand ausstreckte, habe der Fremde zugestochen. Der Beutel wurde auch gefunden, es war ein lila Damenbeutel, der einen Zettel enthielt, in dem in Spiegelschrift angegeben war, dass Hauser den Mann kenne, dass er „von … der Baierischen Gränze“ komme und seine Initialen M. L. Ö seien.
Die Ärzte konnten allerdings nicht sicher sagen, ob die Wunde, an der Hauser starb, auf ein Verbrechen zurückzuführen sei oder von eigener Hand zugefügt war. Auch das Kreis- und Stadtgericht Ansbach war sich auch nicht sicher, ob es sich um ein Verbrechen handelte. Der bayerische König Ludwig I. setzte jedenfalls eine Belohnung von 10.000 Gulden zur Ergreifung des Täters aus.
Am 20. Dezember 1833 wurde Kaspar Hauser auf dem Stadtfriedhof in Ansbach begraben. Auf seinem Grabstein steht geschrieben: „Hic jacet Casparus Hauser Aenigma sui temporis ignota nativitas occulta mors“ (Hier liegt Caspar Hauser ein Rätsel seiner Zeit Herkunft unbekannt Tod geheimnisvoll). In der Nähe des angeblichen Tatortes wurde ein Denkmal mit der Inschrift „Hic occultus occulto occisus est“ (Hier wurde ein Geheimnisvoller auf geheimnisvolle Weise getötet“).
3. Die Abstammungstheorien
Die Diskussion um die tatsächliche Herkunft Kaspar Hausers brachte in den vergangenen 185 Jahren die seltsamsten Theorien hervor, von denen die meisten zu vernachlässigen sind. Die drei bekanntesten Theorien sind sicherlich die Betrüger-, Erbprinzen- und Tiroltheorie und sollen hier vorgestellt werden.
3.1 Die Betrügertheorie
Beginnen wir mit der Betrügertheorie, da sie zuerst auch publiziert wurde. Es war nämlich der Berliner Polizeirat Merker, der 1830 in seinem Buch „Caspar Hauser nicht unwahrscheinlich ein Betrüger“ ausführt: „Es hat einigen Anschein, als hätte ein recht verschmitzter Schulbube, dem viele Romane gewisser Klassen in die Hände fielen, gegen Wissen und Willen seiner Angehörigen Kavallerist werden wollen, ist nun aber durch die eigenthümliche Wendung der Vorgänge in Nürnberg in seine jetzige Rolle hineingerathen, die ihm bis zum Kinde von Europa erhebt.“ (1) Dies war eine der Theorien, warum Hauser so handelte.
Begründet wurde dies mit Zweifeln an der Kerkerdarstellung, vor allem aus medizinischer Sicht. Ausgeführt wurde hier hauptsächlich, dass eine derartige Gefangenschaft größere Schäden an Organen, Psyche, Muskeln und Skelett hervorgerufen, als bekannt. Auch hätte eine lange Opiumgabe unweigerlich zu einer Sucht geführt, die bei Kaspar Hauser nicht vorlag. Auch werden die Attentate angezweifelt und davon ausgegangen, dass Hauser sich die Verletzungen selbst beigebracht hat, um sich interessant zu machen bzw. ein Publikum zu bekommen. Das letzte Attentat sei eine „Selbstverletzung ohne Tötungsabsicht“ gewesen, wie Polizeirat Merker ausführt.
Viele Vertreter der Betrugstheorie gehen dabei davon aus, dass Kaspar Hauser tatsächlich ausgesetzt wurde und dann erst im Laufe der Ereignisse begann, seine Umgebung auszunutzen oder dass er auch selbst von den Ereignissen überrollt wurde und sich immer tiefer in seine Rolle hineinverstrickte.
3.2 Die Erbprinzentheorie
Die sogenannte Erbprinzentheorie ist wohl die bekannteste der Abstammungstheorien um Kaspar Hauser, deren Widerlegung schon bald geschah und bis heute vehement ignoriert wird. Die Erbprinzentheorie kann auch als echte Verschwörungstheorie angesehen werden.
Grundlage dieser Theorie ist die Tatsache, dass Großherzog Karl Friedrich von Baden zweimal verheiratet war. In erster Ehe mit Karoline Luise von Hessen-Darmstadt und in zweiter Ehe mit Luise Karoline Geyer von Geyersberg, Reichsgräfin von Hochberg. In beiden Ehen zeugte er männliche Nachkommen. Sein direkter Nachfolger wurde sein ältester Sohn aus erster Ehe, Karl Ludwig Friedrich von Baden. Karl Ludwig Friedrich wiederum heiratete Stéphanie de Beauharnais, eine Adoptivtochter Napoleon Bonapartes, die ihm am 29. September 1812 einen Sohn, einen Thronfolger gebar, der am 16. Oktober 1812 verstarb.
Hier gehen nun die Vertreter der Erbprinzentheorie davon aus, dass die Gräfin Hochberg das Kind von Stéphanie und Karl gegen einen todkranken Säugling ausgetauscht und den gesunden Erbprinzen verschwinden hat lassen.
Begünstigt wird dies durch die beiden Ehen etwas undurchsichtige Erbfolge des Hauses Baden, die bei näherem Hinsehen aber doch recht klar ist. Wobei an dieser Stelle nicht die Genealogie des Hauses Baden erläutert werden, dies war bereits Gegenstand zahlreicher historisch-genealogischer Abhandlungen. Vielmehr soll erläutert werden, warum die Erbprinzentheorie nicht stichhaltig ist.
Vor allem deswegen, da bereits Großherzog Karl Friedrich die Thronfolge seiner Söhne aus zweiter Ehe für den Fall vorgesehen hat, dass seine Söhne aus erster Ehe ohne Nachfolger „aussterben“. Sein Nachfolger Karl, ein Nachkomme aus seiner ersten Ehe, bestätigte dies durch ein Haus- und Familienstatut vom 4. Oktober 1817. Ein Jahr später wurde dies auch Teil der badischen Verfassung. Und während des Aachener Kongresses von 1818 wurde dies auch von den dort anwesenden europäischen Monarchen bestätigt. Hier wurde auch die Erbwürdigkeit der Söhne aus zweiter Ehe bestätigt, da diese Ehe mit der Gräfin Hochberg nicht standesgemäß war. Spätestens ab diesem Moment wäre der vertauschte Erbprinz zur Zeitbombe für die Hochberger geworden und eine Gefahr für die eigene Thronfolge, warum ihn dann noch am Leben lassen?
Einige Anhänger der Erbprinzentheorie gehen davon aus, dass sich das bayerische Staatsministerium den „vertauschten“ Thronfolger verschafft hätte, um ihn als Druckmittel im Streit mit dem Großherzogtum Baden um die rechtsrheinische Pfalz, die erst seit 1803 zu Baden gehörte, zu benutzen. Aber auch dieser Streit wurde während des Aachener Kongresses endgültig zu Gunsten Badens entschieden. Somit wäre der „Thronfolger“ vollkommen wertlos. Hätte es nur einen Hauch der Möglichkeit gegeben, über Hauser an die Pfalz zu kommen, hätte König Ludwig I. von Bayern sicherlich alle Hebel in Bewegung gesetzt. Vielmehr hat Reinhard Heydenreuther 2003 nachgewiesen, dass Ludwig I. erst nach dem Tode Hausers von den Erbprinzen-Gerüchten um Hauser erfuhr.
Hinzu kommt noch, dass der letzte noch lebende Sohn aus Karl Friedrichs erster Ehe, Großherzog Ludwig I., 1818 im Alter von 55 Jahren, unverheiratet und nur mit unehelichen Kindern, den Thron bestieg. Wäre die Gräfin Hochberg tatsächlich die ruchlose Person gewesen, als die sie dargestellt wird, wäre ein Mord an den für die damalige Zeit schon alten Großherzog ein Leichtes für sie gewesen. Seit 1818 wäre der dann sechsjährige vertauschte Erbprinz eher eine Gefahr für die Thronbesteigung der Hochberger-Linie gewesen. Die Hochberger mussten nur noch einen alten Mann überleben, um den Thron zu besteigen, warum sollte man dann noch einen tatsächlichen Thronerben am Leben lassen? Auch wäre es wohl um vieles leichter gewesen, ein sechsjähriges Kind ohne viel Aufhebens irgendwo unterzubringen, als einen sechzehnjährigen jungen Mann.
Vertreter der Erbprinzentheorie interpretieren unter anderem auch die Impfnarbe, die an Kaspar Hauser gefunden wurde, als Indiz für die adelige Abstammung des Jungen. Nur höhere Stände, so der Interpretation zufolge, wurden damals geimpft. Hartnäckig wird die Tatsache ignoriert, dass im Königreich Bayern bereits seit dem 26. August 1807 eine Impfpflicht gegen Pocken bestand, die auch äußerst strikt bei allen Ständen durchgeführt und überwacht wurde. Auch in eroberten oder während der Neuordnung des Wiener Kongresses zugesprochenen Gebieten wurde die Impfpflicht streng überwacht. Vor allem ist doch die Frage, warum Kaspar Hauser überhaupt geimpft worden ist, wenn er denn der vertauschte Erbprinz gewesen sei. Warum so viel Sorge um einen eingesperrten Jungen?
Bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert wurde die Erbprinzentheorie durch Otto Mittelstädt und Antonius van der Linde auch von anderer Seite aus her entkräftet. Beide Autoren wiesen nach, dass ein Austausch des Säuglings nur unter größtem Aufwand, eher gar nicht möglich war. „Hauptzeugin“ war hierbei die Markgräfin Amalie, die Großmutter des Säuglings. Sie war bei der Geburt des Kindes selbst zugegen, war während des gesamten Krankheitsverlaufs immer wieder anwesend und auch während des Todes des Säuglings und danach dabei. Die alte Markgräfin hatte selbst sieben Kinder und ihr wäre ein Austausch sicherlich als erster aufgefallen. Ebenso verhält es sich mit dem Kindermädchen und den Ärzten.
Der „Todesstoß“ für die Erbprinzentheorie dürfte aber eine DAN-Analyse aus dem Jahr 1996 sein, deren Grundlage eine Probe der blutverschmierten Kleidung ist, die Kaspar Hauser trug, während er seine tödliche Verletzung erlitt. Diese Probe wurde in München am Institut für Rechtsmedizin der Universität und in Birmingham am Forensic Science Service Laboratory untersucht. „Fazit des von dieser Arbeit ‚faszinierten’ Wissenschaftlers Bark, das er vor jedem Gericht auf seinen Eid nehmen würde: ‚Das Blut stammt nicht von einem Sohn der Stéphanie de Beauharnais.’“ (2) Verglichen wurde das Blut der Kleidung mit Blutproben von zwei direkten weiblichen Nachkommen der Stieftochter Napoleons. Da der Weg von Hausers Kleidung über die Jahrhunderte lückenlos dokumentiert werden konnte kann davon ausgegangen werden, dass diese Untersuchung stichhaltig ist. Auch Gerüchte, die Blutflecken wäre durch Fremdblut „aufgefrischt“ worden, wurden bei der Untersuchung ausgeräumt.
Im Jahr 2002 erfolgte eine weitere DNA-Analyse im Auftrag des ZDF, die allerdings zu einem in sich widersprüchlichen Resultat führte. Verglichen wurden Haarproben aus verschiedenen Quellen sowie Blut von der Hose Hausers mit dem Blut eines weiblichen Nachkommen von Stéphanie de Beauharnais. Teilweise unterschieden sich die Proben aber sowohl untereinander als auch mit den Proben von 1996. Der Spiegel resümiert hierzu: „Wie Brinkmann [Anm.: Der Untersuchungsleiter von 2002] einräumt, führen seine Ergebnisse zu einem kriminalistischen Patt: Es gibt keinen Beweis, dass Kaspar Hauser mit dem Haus Baden verwandt ist; allerdings sollte man es auch nicht als unmöglich ausschließen. Wegen der vielen Einschränkungen und Interpretationen weist Rechtsmediziner Eisenmenger, 58, hingegen die neuesten Untersuchungen zurück: ‚Die Ergebnisse sind widersprüchlich und helfen keinem weiter.’“ (3)
Die Erbprinzentheorie ist löchrig wie ein Schweizer Käse und weist mehr Fragen auf als Antworten: Wie sollte der Austausch der Kinder stattgefunden haben? Wo kam das Austauschkind her? Warum wurde der Erbprinz nicht einfach getötet? Warum wurde Hauser gerade in Nürnberg freigesetzt? Warum war sein Schreiben explizit an dieses Regiment adressiert? Etc. Bei logischer und vor allem unsentimentaler Betrachtung zeigt sich, dass schon von der rein praktischen Seite her ein derartiger Austausch unmöglich war. Auch wenn man sich betrachtet, wie viele Menschen an dieser Verschwörung hätten beteiligt sein müssen, ist es doch unwahrscheinlich, dass ein derartiges Geheimnis nicht vorher offenbart worden wäre. Alles in allem stellt die Erbprinzentheorie eine nette Abenteuergeschichte dar, die dem romantischen Zeitgeist der Biedermeierepoche entsprang.
3.3 Die Tiroltheorie
Die Tiroltheorie geht auf den Karlsruher Neurologen Günter Hesse zurück, der davon ausgeht, dass Hauser aus Tirol stammt und der Sohn einer Magd und eines bayerischen Soldaten war. Er gründet diese Theorie vor allem auf medizinische Beweise, die er aus dem Obduktionsbericht und aus Beschreibungen des Bewegungsablaufes Hausers ableitet. So bezieht sich Hesse zum Beispiel auf krankhafte Veränderungen des Gehirns, die bei der Obduktion gefunden wurde. Dies weise auf ein erbliches Syndrom (Epidermolysis bullosa)hin, das in Tirol vermehrt auftrete, in der Zähringer-Linie des badischen Großherzogshaus allerdings nicht aufgetreten sei.
Weiter gründet Hesse seine Theorie auf die Pockenschutzimpfung Hausers und auf dessen altbaierischen Dialekt, den er auch im Fränkischen immer beibehalten hat. Auch die Adressierung der beiden „Begleitschreiben“ Hausers speziell an den Rittmeister 4. Eskadron des 6. Chevauxleger-Regiments weise auf Tirol hin, da diese Truppe während des Tiroler Volksaufstandes dort eingesetzt war. Hauser muss zur gleichen Zeit geboren worden sein, somit sei es wahrscheinlich, dass er ein „Besatzungs-Kind“ sei, das nun zurück geschickt wurde. Hesse zieht daraus den Schluss, „Kaspar sei kein Sproß des Hauses Baden gewesen, sondern wahrscheinlich‚ ein armer kranker Junge aus Tirol und nicht zuletzt das Opfer einer Clique von Esoterikern, die in eigener Sache an ihm herumexperimentierten’.“ (4)
4. Schlussbemerkung
Über Kaspar Hauser wurde viel geschrieben und viele, zum Teil sehr skurrile Theorien gebildet. Eine geht etwa davon aus, dass Hauser der letzte Bewohner von Atlantis war. Derartige Auslassungen entlarven sich natürlich schon von alleine als Unfug. Was der Forschung und Debatte um Kaspar Hauser aber fehlt ist eine sachliche und unsentimentale Herangehensweise an das Thema. Natürlich ist die Geschichte von einem vertauschten Erbprinzen spannend. Hier liegt das Flair von Alexandre Dumas und seinem „Mann mit der eisernen Maske“ in der Luft. Wie kann da ein etwas zurückgebliebener und ausgesetzter Sohn eines Taglöhners mithalten? Bei allem Verständnis für den Hang zu Abenteuer und Verschwörungen, darf doch darunter der wissenschaftliche Diskurs nicht leiden. Fakten müssen Fakten bleiben und dürfen nicht mit Indizien, Halbwissen und Wunschdenken in den Mixer gesteckt und solange verquirlt werden, bis sie die Theorie ergeben, die man sich wünscht. Besonders die Rolle von Hausers Umfeld und seiner „Betreuer“ und ihrer Eigeninteressen wird bis heute nicht besonders beleuchtet.
Man sieht, die Thematik Kaspar Hauser ist komplex, komplexer als sie im vorliegenden Artikel dargestellt werden konnte. Dem Autor ist durchaus bewusst, dass Sachverhalte verkürzt oder vereinfacht dargestellt werden mussten, einige Aspekte mussten sogar ganz weggelassen werden. Darunter zum Beispiel die absurden homöopathischen Versuche, die Georg Friedrich Daumer mit brieflicher Unterstützung Samuel Hahnemanns an ihm durchführte. Tatsächlich ist dieser Artikel die Zusammenfassung einer längeren Abhandlung, die noch erscheinen und auch diese Aspekte und Sachverhalte berücksichtigen wird.
5. Literatur
5.1 Zitierte Literatur
(1) Merker, Johann Friedrich: Caspar Hauser, nicht unwahrscheinlich ein Betrüger. – Berlin, 1830. S. 92.
(2) „Schönster Krimi aller Zeiten“. – In: Der Spiegel, Jg. 1996, H. 48, S. 254-271.
(3) Ammann, Thomas; Blech, Jörg: Haariger Befund. – In: Der Spiegel, Jg. 2002, H. 52, S. 134.
(4) Kühnert, Hanno: Junge aus Tirol. – In: Die Zeit, Jg. 1989, H. 10 vom 3. März 1989.
5.2 Benutzte Literatur (Auswahl)
Bekanntmachung. Einen in widerrechtlicher Gefangenschaft aufgezogenen und gänzlich verwahrlosten, dann aber ausgesetzten jungen Menschen betr. – Nürnberg, 1828.
Daumer, Georg Friedrich: Enthüllungen über Kaspar Hauser. – Frankfurt am Main, 1859.
Daumer, Georg Friedrich: Mittheilungen über Kaspar Hauser. – Nürnberg, 1832. –
Feuerbach, Anselm von: Kaspar Hauser. – Ansbach, 1832.
Gerwig, Adolf: Geschichte des Kaspar Hauser, des badischen Thronerben. – Pittsburg, Pa., 1859.
Giel, Franz Seraph: Die Schutzpocken-Impfung in Bayern. – München, 1830.
Heidenreich, Friedrich Wilhelm: Kaspar Hauser’s Verwundung, Krankheit und Leichenöffnung. – Berlin, 1834.
Heydenreuter, Reinhard: König Ludwig I. und der Fall Kaspar Hauser. – In: Staat und Verwaltung in Bayern. München, 2003. S. 469ff.
Kaspar Hauser. – https://de.wikipedia.org/wiki/Kaspar_Hauser (Abfragedatum 23. Mai 2013).
Leichtlen, Ernst Julius: Die Zähringer. – Freiburg, 1831.
Linde, Antonius van der: Kaspar Hauser. – Wiesbaden, 1887.
Linde, Antonius van der: Zum Kaspar-Hauser-Schwindel. – Wiesbaden, 1888.
Merker, Johann Friedrich: Einige Betrachtungen über die von Herrn v. Feuerbach geschilderte Geschichte Caspar Hausers. – Berlin, 1833.
Merker, Johann Friedrich: Nachrichten über Caspar Hauser aus authentischen Quellen. – Berlin, 1831.
Mittelstädt, Otto: Kaspar Hauser und sein badisches Prinzenthum. – Heidelberg, 1876.
Stanhope, Philip Henry: Materialien zur Geschichte Kaspar Hausers. – Heidelberg, 1835.
Vollständige Genealogie der regierenden Häuser Europas. – Karlsruhe, 1826.
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