Nächste Woche werden wieder einmal die Nobelpreise vergeben. Was Chemie, Medizin, Literatur und Frieden angeht, möchte ich keine Spekulationen wagen (hier gibt es eine Chemieprognose – Lars Fischer meint, dass der Preis für Einzelmolekülspektroskopie vergeben wird). Aber bei der Physik ist die Sache relativ klar. Ich bin zwar immer noch der Meinung, dass die Entdeckung der ersten extrasolaren Planeten einen Nobelpreis verdient hat. Aber dieses Jahr setzen so gut wie alle Experten auf das Higgs-Teilchen. Der Higgs-Mechanismus erklärt, wie Elementarteilchen zu ihrer Masse kommen (siehe zum Beispiel hier, hier oder hier) und komplettiert damit das Standardmodell der Teilchenphysik. Wenn es mit rechten Dingen zu geht, muss der Nobelpreis für Physik eigentlich an die Entdecker des Higgs-Teilchens gehen. Aber an welche davon? Und warum eigentlich erst jetzt und nicht schon letztes Jahr?
Die zweite Frage ist leichter zu beantworten: Im Juli 2012 hatte man ein neues Elementarteilchen entdeckt. Es verhielt sich so, wie sich das Higgs-Teilchen verhalten sollte; es war allerdings nicht absolut klar, ob es auch wirklich das Higgs-Teilchen war. CERN-Direktor Rolf-Dieter Heuer meinte damals:
“Wir haben ein neues Boson entdeckt. Und jetzt müssen wir herausfinden, welches Boson es ist.”
Das hat man nun getan. Der große Teilchenbeschleuniger LHC wurde ja nach der Entdeckung nicht einfach abgeschaltet, sondern lief weiter und erzeugte jede Menge weitere Daten. Und mehr der neu entdeckten Teilchen dort produziert wurden, desto besser konnte man es auch verstehen. Man musste die Masse des Teilchens möglichst genau messen; musste genau bestimmen in welche Teilchen das Higgs wieder zerfällt und wie stark es mit sich selbst wechselwirkt. All diese Daten hat man gesammelt und mittlerweile ist klar: Das Teilchen ist ein Higgs-Teilchen! (Was noch nicht klar ist, ist die Frage ob es “ein” Higgs-Teilchen ist oder “das” Higgs-Teilchen. Das Standardmodell der Teilchenphysik sagt ein einziges Higgs-Teilchen voraus; alternative Modelle prognostizieren die Existenz mehrerer Higgs-Teilchen)
Als im Oktober 2012 die Nobelpreise des letzten Jahres war das noch nicht bekannt und deswegen gab es auch keinen Preis für die Higgs-Forschung. Jetzt aber ist sicher, dass man ein Higgs-Teilchen entdeckt hat und der Higgs-Mechanismus real. Und nun bleibt nur noch die große Frage: Wer soll den Preis bekommen?
Das Higgs-Teilchen wurde nach Peter Higgs benannt und durchaus zu Recht, denn er hat seine Existenz im Jahr 1964 vorhergesagt. Den Higgs-Mechanismus (wenn auch nicht das dazugehörige Teilchen) haben aber gleichzeitig und unabhängig von Higgs auch zwei andere Forschungsgruppen vorhergesagt. Das waren einmal Francois Englert und Robert Brout von der Universität Brüssel und Tom Kibble, Carl Hagen und Gerald Guralnik vom Imperial College in London. Sechs Leute also die mehr oder weniger gleichzeitig und gleichberechtigt Anspruch auf die Vorhersage des Higgs-Mechanismus haben. Die Regeln des Nobelpreiskomitees erlauben aber nur drei Preisträger pro Disziplin und Jahr. Wer also soll den Preis kriegen? Peter Higgs, das ist klar. Immerhin war er der einzige, der die Existenz des jetzt entdeckten Teilchens vorhergesagt hat. Und Robert Brout starb leider schon im Jahr 2011. Bleiben immer noch vier Leute für zwei freie Plätze – beziehungsweise einen freien Platz. Denn man sollte ja auch die Entdecker irgendwie würdigen. Die Existenz des Teilchens vorherzusagen und die theoretischen Grundlagen zu entwickeln ist eine Sache; ein gigantisches Experiment wie die Suche am Teilchenbeschleuniger LHC durchzuführen und das Ding auch tatsächlich zu finden ist etwas ganz anderes. Das ist auch nicht unbedingt einfach und eine mindestens ebenso preiswürdige Leistung wie die Theorie.
Und damit wird die Sache komplett unübersichtlich. Denn am LHC gibt es nicht einen “Entdecker”, sondern tausende. Das europäische Kernforschungszentrum CERN ist eine gigantische Anlage und Menschen überall auf der Welt waren an den Experimenten beteiligt, die am Ende schließlich zur Entdeckung des Higgs-Teilchens geführt haben. Welche Einzelpersonen sollte man hier herausgreifen und mit einem Nobelpreis ehren? Den CERN-Direktor Rolf-Dieter Heuer? Die Leiter der großen Detektoren CMS und ATLAS?
Nein, das macht keinen Sinn, denn die moderne Teilchenphysik ist ein Teamsport. Die Nobelpreisstiftung wurde im Jahr 1900 gegründet als die Wissenschaft noch ganz anders ablief als heute. Damals waren es tatsächlich meist noch einzelne Wissenschaftler die revolutionäre Einzelleistungen erbringen konnten. Heute wird Wissenschaft in großen, internationalen Teams betrieben und es ist unmöglich, den Erfolg einer einzelnen Person zuzuschreiben. Diese Tatsache sollte auch das Nobelpreiskomitee langsam mal anerkennen. Beim Friedensnobelpreis ist ja schon lange üblich, dass der Preis an Organisationen verliehen wird. Schon 1904 bekam das “Institut de Droit international” den Preis und danach wurden unter anderem das Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen, das Rote Kreuz, Ärzte ohne Grenzen, die UNO und die EU ausgezeichnet. Warum also nicht auch beim Physikpreis ganze Organisationen und Kooperationen als Preisträger zulassen?
Ich würde mir wünschen, dass das gesamte CERN einen Teil des diesjährigen Physik-Nobelpreis bekommt. Eine Hälfte des Preises sollte an das gesamte Kernforschungszentrum gehen, denn die Entdeckung war nur durch die Kooperation all dieser Wissenschaftler möglich. Die andere Hälfte des Preises sollte Peter Higgs bekommen und eventuell noch mit einem der anderen Theoretiker teilen; vermutlich mit Francois Englert.
Es wäre schön, wenn sich das Nobelpreiskomitee zu dieser Entscheidung durchringen könnte. Die Wissenschaft hat sich in den letzten 100 Jahren verändert und das sollte auch in den Richtlinien der Jury berücksichtigt werden. Am 8. Oktober 2013 werden wir wissen, wie sich das Komitee entschieden hat (und ob Scientific American mit seiner nicht ganz ernst gemeinten Prognose recht hat).
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