Die längste Zeit über war unser Sonnensystem ein vergleichsweise kleiner und heimeliger Ort. In der Antike war das ganze Universum nur Kulisse für die im Zentrum stehende Erde und kleine Planeten und noch kleinere Sterne bewegten sich auf nahen Kristallsphären um die Welt. Später verstand man zwar, dass die Planeten andere Himmelskörper und doch ein bisschen weiter weg und größer waren als gedacht. Aber das Sonnensystem reichte trotzdem nur bis zum Saturn. Erst 1781 wurde es größer. Da zeigte Wilhelm Herschel, dass das was man bisher gesehen hatte, nicht alles war. Er zeigte, dass es da draußen noch unbekannte Regionen zu entdecken gibt und fand als erster einen neuen Planeten: den Uranus. 1846 wiederholte sich das ganze, als der Planet Neptun entdeckt und die Grenzen des Sonnensystems wieder weiter nach außen verschoben wurden. Und dabei blieb es dann für lange Zeit. Über die äußersten Regionen unserer kosmischen Heimat war nichts bekannt und das Niemandsland hinter Neptun blieb unerforscht. Man wusste ja nicht einmal, ob dort überhaupt es zu erforschen war.
Einen ersten Hinweis darauf, dass fern von der Sonne doch noch etwas zu finden ist, gab es 1930. Da entdeckte Clyde Tombaugh einen Himmelskörper außerhalb der Neptunbahn. Man nannte in “Pluto” und weil man damals noch nicht genug über ihn wusste, hielt man für ihn Planeten. Als der estnische Astronom Ernst Öpik also im Jahr 1932 eine wissenschaftliche Arbeit mit dem Titel “Note on stellar perturbations of nearly parabolic orbits” veröffentlichte, war das Sonnensystem zwar gerade wieder ein klein wenig größer geworden. Wie groß es aber wirklich war, wusste immer noch niemand.
Wo kommen die Kometen her?
Öpik machte sich Gedanken über Kometen und darüber, wo sie her kommen. Die Kometen haben sich ja noch nie so wirklich mit dem Rest der Himmelskörper vertragen. Die Sterne kann man immer unverändert am Himmel stehen sehen. Die Planeten bewegen sich auf vorhersagbaren Bahnen. Aber die Kometen tauchten ohne Vorwarnung auf und verschwanden genau so rätselhaft, wie sie erschienen sind. Lange Zeit hielt man sie überhaupt nur für atmosphärische Phänomene und erst der große Astronom Tycho Brahe konnte 1577 mit seinen Beobachtungen nachweisen, dass sie sich tatsächlich durch den Raum zwischen den Planeten bewegen und nicht nur irgendwelche komischen leuchtenden Wolken in der Lufthülle der Erde sind.
1705 fand dann schließlich der britische Astronom Edmund Halley heraus, dass die Kometen durchaus nicht immer völlig überraschend auftauchen müssen. Er nutzte die erst kurz davor veröffentlichte Arbeit von Isaac Newton über die Gravitation um zu zeigen, dass viele vergangene Kometenbeobachtungen auf den immer gleichen Kometen zurückgehen, der sich alle 76 Jahre der Erde nähert. Dieser heute nach Halley selbst benannte Komet ist damit auch der erste offiziell bekannte kurzperiodische Komet. So nennt man alle Kometen, die für eine Runde um die Sonne nicht länger als 200 Jahre brauchen.
Diese Kometen gehören quasi zur “normalen” Ausstattung des Sonnensystems. Sie bewegen sich zwar oft auf Bahnen, die sie quer durch das ganze Sonnensystem führen. Aber sie halten sich auch hauptsächlich in dem uns vertrauten Bereich der Planeten auf. Andere Kometen tun das nicht. Sie scheinen wirklich aus dem Nichts zu kommen, kurz die Planeten und die Sonne zu besuchen nur um dann wieder im Nichts zu verschwinden. Das sind die langperiodischen Kometen, die mehr als 200 Jahre für einen Umlauf um die Sonne brauchen und oft deutlich mehr. Viele von ihnen kommen von so weit draußen, dass sie Zehntausende Jahre unterwegs sind – und da sie ja nicht tatsächlich aus dem Nichts kommen können, muss es hinter der Region der Planeten doch noch etwas geben.
Ernst Öpik hat sich über dieses Problem ausführlich Gedanken gemacht und untersucht, wie weit sich so ein Komet überhaupt von der Sonne entfernen kann, bevor die gravitativen Störungen der anderen Sterne relevant genug werden und die Kometenbahnen so sehr stören, dass sie nicht mehr zum Sonnensystem gehören. In seiner Arbeit kommt er zu dem Schluss, dass die Kometen sich bis zu einer Million Astronomische Einheiten (AE) entfernen können; also eine Million Mal weiter weg als die Erde von der Sonne. Das war zumindest das aus seinen Berechnungen folgende theoretische Maximum; ob das Sonnensystem wirklich so weit reicht, konnte Öpik nicht sagen. Er machte sich jedenfalls keine großen Hoffnungen, solche fernen Himmelskörper jemals beobachten zu können, wie er am Ende seiner Arbeit schreibt:
Eine Wolke aus Stein und Eis
28 Jahre später beschäftigte sich der niederländische Astronom Jan Hendrik Oort ebenfalls mit den äußersten Bereichen des Sonnensystems. Er wurde bei seiner Forschung noch ein klein wenig konkreter, wie man auch dem Titel seiner Arbeit entnehmen kann: “The structure of the cloud of comets surrounding the Solar System and a hypothesis concerning its origin”.
Oort ging von einer “Wolke” voller Kometen aus, die das Sonnensystem umgibt und überlegte sich, wie sie entstanden sein konnte. Aus der Existenz der langperiodischen Kometen konnte man folgern, dass es irgendwo weit draußen ein Reservoir an Kometen geben muss aus dem immer wieder Mal Himmelskörper auf Bahnen gebracht werden, die sie aus der Wolke hinaus ins innere Sonnensystem führen. Aber, so Oorts Argument, diese Objekte konnten dort nicht entstanden sein.
So weit entfernt von der Sonne war einfach zu wenig Material vorhanden, als das sich daraus Kometen bilden hätten können. Nur weiter innen war in der Frühzeit des Sonnensystems genügend Gas und Staub vorhanden, das sich zu Fels- und Eisbrocken zusammenklumpen kann, die dann weiter zu Kometen (und Asteroiden) wachsen. Oort konnte auch zeigen, dass es unwahrscheinlich war, dass die Kometen von außerhalb des Sonnensystems kommen. Er war davon überzeugt, dass die Kometen tatsächlich ein Teil unseres Sonnensystems sind und sich in einer Entfernung von bis zu 150.000 AE aufhalten. Aber wie kommen sie dorthin, wenn sie viel weiter innen entstanden sein müssen? Oort erwähnt zwei Hypothesen. Die Kometen könnten der Überrest eines zerstörten Planeten oder aber auch irgendwie von den bekannten Planeten “ausgeworfen” worden sein. Oort hält das aber für unwahrscheinlich:
Er bevorzugt eine andere Hypothese. Die Kometen sollen gemeinsam mit den Asteroiden (oder den “Kleinplaneten” bzw. “minor planets”, wie es damals noch hieß) entstanden sein und später durch die gravitativen Störungen der Planeten in die äußersten Bereiche des Sonnensystems transportiert worden sein:
Damit lag Oort im wesentlichen richtig. Heute wissen wir einigermaßen darüber Bescheid, wie die Planeten entstehen. Sie wachsen durch die Kollision von Planetesimalen, also kleinen Felsbrocken, und wie das so ist bei Kollisionen, wird das oft ein wenig wild und chaotisch. Nicht bei jeder Kollision wachsen die Himmelskörper an; oft werden kleinere Objekte auch durch größere Protoplaneten aus ihrer Bahn und weit davon geworfen. Die sammeln sich dann irgendwo weit draußen und weil Jan Hendrik Oort die grundlegende Arbeit dazu geleistet hat, wird diese Region heute die Oortsche Wolke genannt (und die ebenfalls grundlegende Arbeit von Ernst Öpik leider ignoriert; zumindest was die Namensgebung angeht).
Ganz weit draußen, ein paar zehntausend bis hunderttausend Astronomische Einheiten von der Sonne entfernt, existiert also eine große “Wolke” aus Kometen. Aber direkt beobachten lässt sich die leider nicht. Dazu sind die Kometen zu klein und die Entfernung zu groß.
Noch mehr Asteroiden
Zuerst aber einmal fanden die Astronomen etwas näher an der Sonne neue Himmelskörper. Im Jahr 1992 entdeckte man außerhalb der Neptunbahn ein weiteres kleines Objekt: Den Asteroid 1992 QB1. Pluto war nun nicht mehr alleine in der Region hinter Neptun und in den Jahren danach fand man dort immer mehr Asteroiden. Man hatte den sogenannten Kuipergürtel entdeckt, einen großen Asteroidengürtel, der sich außerhalb der Bahn des Neptun erstreckt. Dort draußen haben sich die Planetesimale zur Zeit der Planetenentstehung so langsam bewegt, dass sie nicht oft genug miteinander kollidiert sind, um große Planeten zu bilden. Sie blieben kleine Fels- und Eisbrocken und Ende der 1990er Jahre war klar, dass Pluto einer von ihnen war. Der neunte Planet war nur ein großes Objekt inmitten vieler anderer Asteroiden und sollte eigentlich auch als Asteroid klassifiziert werden. Das geschah allerdings erst im Jahr 2006, nachdem man den fernen Asteroid Eris entdeckt hatte. So groß wie Pluto selbst und weiter entfernt als die meisten zuvor gefundenen Objekte setzte die Entdeckung einen Umdenkprozess in Gang, an dessen Ende Pluto völlig zu Recht der Planetenstatus aberkannt wurde.
An seinem sonnenfernsten Punkt befindet sich Eris fast 100 Astronomimsche Einheiten weit weg. Das ist enorm weit weg, aber immer noch so gut wie nichts im Vergleich zur Oortschen Wolke. Die blieb weiterhin unerreichbar. Am 14. November 2003 machte man dann allerdings einen wichtigen Schritt hinein in das große unbekannte Gebiet hinter dem Kuipergürtel. An diesem Tag entdeckten Mike Brown, Chad Trujillo und
David Rabinowitz den Asteroid Sedna. Er ist fast 1000 Kilometer groß und entfernt sich auf seiner Bahn bis zu 1000 Astronomische Einheiten von der Sonne!
Damit ist man zwar immer noch nicht in der Oortschen Wolke, aber nach astronomischen Maßstäben schon kurz davor. Man vermutete in Sedna das erste bekannte Objekt einer noch hypothetischen inneren Oortschen Wolke. Sie soll aus Himmelskörpern bestehen, die aus der Oortschen Wolke stammen, aber irgendwie ein bisschen näher an die Sonne gerückt sind. Wie genau das passiert, ist noch nicht klar. Die Sonne bewegt sich mit ihrem kompletten Anhang durch die Milchstraße und begegnet dabei immer wieder Mal anderen Sternen. Solche (vergleichsweisen) nahen Begegnung zwischen Sternen können zu gravitativen Störungen in der Oortschen Wolke führen, die einige der dort befindlichen Objekte auf neue und nähere Bahnen bringt. Es kann aber auch sein, dass es in in der Oortschen Wolke noch größere Himmelskörper gibt, die für die Störungen verantwortlich sind.
Denn in der chaotischen Phase der Planetenentstehung wurden nicht nur kleinere Fels- und Eisbrocken ins äußere Sonnensystem geworfen, sondern mit ziemlicher Sicherheit auch einige größere Protoplaneten. Computersimulationen zeigen uns, dass fast immer mehr planetengroße Objekte um einen Stern entstehen, als eigentlich Platz haben. Sie werden bei nahen Begegnungen mit größeren Protoplaneten genau so aus dem inneren Sonnensystem geworfen wie die kleinen Planetesimale. Und genau so wie die anderen Objekte der Oortschen Wolke sind sie viel zu weit weg, um direkt beobachtet zu werden. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass weit weg von der Sonne noch solche unentdeckte Planeten existieren – aber sie werden für absehbare Zeit weiterhin unentdeckt bleiben müssen. Man kann zwar theoretische Grenzen für die minimale Entfernung dieser Planeten angeben, aber die Technik ist bei weitem nicht gut genug, um sie direkt sehen zu können.
Wer stört die Kometen?
Aber zumindest indirekt kann man probieren, ihnen auf die Spur zu kommen. Wenn da draußen in der Oortschen Wolke tatsächlich noch ein unentdeckter großer Himmelskörper sitzt, der gravitative Störungen ausübt und Asteroiden und Kometen näher zur Sonne schickt, dann sollte man das an den Bahnen dieser Asteroiden und Kometen erkennen können. Die Störungen würden sie auf charakteristische Weise verändern – aber um das zu erkennen, muss man erstmal genug Asteroiden und Kometen die aus der Oortschen Wolke stammen, finden. Langperiodische Kometen kennen wir schon einige und entsprechende Berechnungen zeigen tatsächlich vage Hinweise dass so ein großer Himmelskörper existieren könnte.
Die Kometen haben allerdings alle sehr extreme Bahnen, denn sie kommen von ganz draußen nach ganz innen. Besser wäre es, wenn man ein paar mehr Objekte wie Sedna finden könnte, die sich immer fern der Sonne aufhalten. Hier wurde man im März 2014 fündig und entdeckte den Asteroid 2012 VP113, der momentan den Spitznamen “Biden” trägt, weil Joe Biden im Jahr 2012 amerikanischer Vizepräsident (“VP”) war. VP113 ist zwar nicht so groß wie Sedna, sondern durchmisst nur knapp 450 Kilometer. Und er entfernt sich auch nur 460 Astronomische Einheiten von der Sonne und nicht 1000 AE wie Sedna. Aber VP113 kommt der Sonne niemals näher als 80 Astronomische Einheiten und ist damit noch ferner als Sedna.
2012 VP113 ist das zweite bekannte Objekt der hypothetischen inneren Oortschen Wolke und wenn das auch immer noch nicht genug Material für ausschweifende Statistik ist, kann man seine Daten mit denen von Sedna vergleichen. Das haben die Entdecker des Asteroiden getan und auch noch ein paar andere Asteroiden inkludiert, die sich ebenfalls hinter dem Kuipergürtel befinden (wenn auch nicht so weit weg wie Sedna und VP113). Und auch die Bahnen dieser Himmelskörper zeigen Auffälligkeiten, die auf die Existenz eines störenden Planeten hindeuten können.
Das alles heißt nicht, dass so ein unbekannter Planet tatsächlich vorhanden sein muss. So ein Planet ist eine von mehreren bekannten Möglichkeiten, die für die Existenz von Asteroiden wie Sedna und 2012 VP113 verantwortlich und die Auffälligkeiten in den Bahnen verantwortlich sein können. Genau so gut können es auch die Störungen von vorbeiziehenden Sternen sein, die 1932 schon Ernst Öpik untersucht hat. Oder es können Effekte verantwortlich sein, die wir noch gar nicht verstehen. Denn die Oortsche Wolke bleibt weiterhin ein weitestgehend unerforschtes Niemandsland.
Das Niemandsland bleibt unerforscht
Wir wissen, dass sich fern der Sonne Milliarden oder gar Billionen kleiner Fels- und Eisbrocken befinden, die sich bis fast zur halben Entfernung zwischen hier und Alpha Centauri, dem nächsten Stern, ausbreiten. Und dabei übrigens keine echte “Wolke” bilden: Man darf sich die Oortsche Wolke nicht als “Schale” voller Kometen und Asteroiden vorstellen, die unsere Sonne umgibt. Würde man mit einem Raumschiff von hier bis Alpha Centauri fliegen, dann würde man von der Oortschen Wolke vermutlich gar nichts bemerken. Dort draußen sind zwar enorm viele Asteroiden und Kometen, aber es ist auch enorm viel Platz! Das Bild des Asteroidengürtels, in dem sich Felsbrocken an Felsbrocken drängt und man mit dem Raumschiff wild manövrieren muss, um nicht mit ihnen zusammenzustoßen, trifft man zwar in der Science-Fiction und populären Darstellungen recht häufig. Es ist aber vollkommen falsch. Der Weltraum ist leer und das gilt auch für Asteroidengürtel und Oortsche Wolke.
Wir können also nicht einfach eine Raumsonde in die Oortsche Wolke schicken und hoffen, dass sie dort plötzlich inmitten von Kometen und Asteroiden auftaucht. Und direkt beobachten werden sich die fernen Himmelskörper wohl auch nicht so schnell lassen. Aber wir werden in Zukunft vermutlich noch mehr Objekte wie Sedna und 2012 VP113 finden und vielleicht verraten die uns ja ein wenig mehr darüber, was an der Grenze des Sonnensystems passiert. Die Oortsche Wolke selbst wird noch für lange Zeit unerforscht bleiben…
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